CAROL RAMA ging unbeirrt ihren ganz eigenen Weg durch die Kunstwelt. Ihr spektakulär in Szene gesetztes Turiner Atelier wurde einst von der italienischen Vogue als Gesamtkunstwerk vorgestellt. Was erzählen uns die dort arrangierten Objekte über Ramas Arbeitsweise und ihr Leben als Künstlerin?
Carol Rama wurde 1918 in Turin geboren und verbrachte in der Stadt auch einen Großteil ihres Lebens. Mit Anfang zwanzig begann sie zu malen und bezog 1943 ein Atelier in der Via Napione 15, das zum lebenslangen Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens wurde. Im hohen Alter wurde Rama gefeiert und auf der Venedig-Biennale 2003 mit dem Preis für ihr Lebenswerk bedacht. Im September 2015 starb sie im Alter von 97 Jahren in Turin: Vier Jahre später wurde ihr Wohnatelier, das die italienische „Vogue“ einst als Gesamtkunstwerk vorgestellt und abgelichtet hatte, als Museum öffentlich zugänglich gemacht.
Bei meinem Besuch war ich beeindruckt von der stimmungsvollen Beleuchtung durch die überall platzierten Lampen sowie von mehreren tragbaren Fernsehgeräten, den zahlreichen gerahmten Zeichnungen und Fotografien von Rama und ihren Freund*innen an den Wänden, aber auch von einigen der innovativen und unkonventionellen Werkmaterialien, für deren Verwendung sie berühmt war. Die nachfolgend beschriebenen Gegenstände, die im Rahmen einer Führung zu sehen sind, illustrieren Ramas Arbeitsweise und beleuchten ihr Leben als Künstlerin.
Der Arbeitstisch
Der Bereich rund um Carol Ramas Arbeitstisch und die auf ihm angeordneten Gegenstände lassen die außergewöhnliche Bandbreite ihrer Praxis deutlich werden und zeugen von der langen Spanne ihrer Lebens- und Schaffenszeit. Neben ihren Gemälden, die die umgebenden Wände zieren, gibt es auch Pinsel zu sehen, eine alte Schreibmaschine und einen Fernseher, mehrere Leuchten und einen gläsernen Kopf. Bei Letzterem handelt es sich um eine abstrahierte Figur, die an Ramas Werke „Sguardo“ und „Figura (sedia rossa)“ (beide 1947) erinnert – Porträtdarstellungen, die auf die Wiedergabe jeglicher Gesichtszüge verzichten und den Teint stattdessen zu einer hautfarbenen ovalen Form auflösen. Zudem finden sich Holzstatuetten, die sinnbildhaft für Ramas lebenslange Erkundung des menschlichen Körpers stehen, von ihren frühen Aquarellmalereien nackter Körper bis hin zu den später entstandenen Arbeiten, die die Figur in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen. Auch wenn die Atelierumgebung auf den ersten Blick chaotisch wirken mag, bietet sie doch eine perfekte Einführung in Ramas reiche und vielfältige Welt.
Die Fotowand
Ihre künstlerische Vision verfolgte Rama ganz ohne Kompromisse – ein Grund, weshalb sie größere Anerkennung erst spät in ihrer Karriere fand. Doch war sie gut vernetzt in der Kunstwelt, wie die Wand mit gerahmten Zeichnungen und Fotografien belegt. Zeitlich umspannen sie die 1940er- und 1950er-Jahre, als sich die Künstlerin vorübergehend dem Movimento Arte Concreta (MAC) anschloss, den Umgang mit dem Galeristen Luciano Anselmino, der neben Rama auch Warhol vertrat, ebenso wie eine Ausstellung in Turin 1992 und darüber hinaus. Auch bekunden sie über die Kunstszene hinausreichende Kontakte: Auf einem Bild an der Wand ist Rama zusammen mit dem US-amerikanischen Filmstar Liza Minnelli zu sehen.
Puppen- und künstliche Tieraugen
Rama benutzte Fahrradschläuche, abgeschnittene Farbtuben und weitere alltägliche Gegenstände, denn sie teilte mit ihren Zeitgenoss*innen die Überzeugung, dass Kunst vom gewohnten Lebensalltag nicht losgelöst sein sollte. Im Atelier verwahrte sie eine Kiste mit Puppen- und künstlichen Tieraugen: Ihr Anblick in dieser Form ist beunruhigend, doch in Werken wie „Bricolage“ (1966) springen sie den Betrachtenden aus einem ansonsten abstrakten, in brauner, grauer und roter Farbe gehaltenen Leinwandbild ins Auge – damit stellen die künstlichen Augen eines der eindringlichsten und einprägsamsten unter den von Rama verwendeten unkonventionellen Werkmaterialien dar.
Man Rays handschriftliches Gedicht
Gleich mehrere Objekte bezeugen auch Ramas Beziehung zur surrealistischen Bewegung. Allerdings gab sie der Faszination des (männlich dominierten) Surrealismus für die Erotik und das Deviante ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Spin, so etwa in ihren Aquarellen aus den 1930er- und 1940er-Jahren: In einer traum- (oder alptraum)gleichen Vision, wie sie sich auch in der surrealistischen Kunst oder Filmkunst findet, zeigt Ramas „1930-1931 brevetto n. 7H1261R (Appassionata)“ eine im Rollstuhl sitzende unbekleidete Frau mit amputierten Beinen, deren rote Pumps noch immer auf den nutzlos gewordenen Fußstützen stehen.
Unterhalb eines Fensters hängt über einem Ateliertisch das gerahmte, von Hand geschriebene Gedicht des mit Rama befreundeten Man Ray, der auch eine Einleitung für den Katalog ihrer Einzelausstellung in der Galleria Il Fauno 1974 verfasst hatte. Das Gedicht variiert sieben Mal den Namen der Künstlerin und schließt mit „Carol Rama – Femme de sept visages vue par Man Ray“.
Architekturdiagramme
Als Rama gegen Ende ihrer Karriere zur Figuration zurückkehrte, widmete sie sich insbesondere der Zeichnung und verwahrte Gefäße mit Farb- und Filzstiften auf ihrem Arbeitstisch. Auf vorgefundene Zeichenträger – vor allem Architekturdiagramme – brachte sie wiederholt weibliche Akte, Torsi, Flügelwesen und weitere Fantasiegestalten auf. In „Seduzioni (Numeri Onde)“ (1984) zeichnete Rama auf (und über) ihre Heimatstadt – in diesem Fall einen Plan der Universität: Eine nackte weibliche Figur mit Flügeln, die an eine hölzerne Tür gemahnen, sowie ein geheimnisvoller Mann mit Hut und zwei Frösche verweisen auf esoterisches, an der Hochschule gelehrtes Geheimwissen. Zugleich spielen sie auf den Ruf Turins als „Stadt der Magie“ an – wurde diese doch auf dem 45. Breitengrad erbaut, dort, wo sich okkultistischen Vorstellungen zufolge die magischen Dreiecke berühren.
Der Goldene Löwe
Die kleine Statuette, mit der Rama 2003 in Venedig geehrt wurde, nimmt (zumindest bei meinem Besuch) keine privilegierte Position gegenüber den anderen Gegenständen in ihrem Atelier ein, sondern versteckt sich fast schon hinter einer Figur des Hindu-Gottes Shiva und mehreren Gefäßen. Die goldene, geflügelte Skulptur wurde der Künstlerin im Alter von 85 Jahren verliehen und fügt sich in vollendeter Weise in das Atelierambiente ein, so als wäre Rama seit jeher dazu bestimmt gewesen, sie entgegenzunehmen – doch war sie sich völlig im Klaren darüber, dass es ja nicht die Trophäe war, die von ihrem Talent und ihrer Bedeutung kündete, vielmehr ihre Kunst selbst. Über ihre späte internationale Anerkennung äußerte sich Rama so: „Das macht mich natürlich stocksauer, denn wenn ich wirklich so gut bin, kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin.“