Das Klischee vom einsamen Künstler, der fernab von jeglichem Einfluss im stillen Kämmerlein vor sich hin arbeitet, hält sich hartnäckig. Auch Edvard Munch wurde und wird noch heute häufig als kreativer Eigenbrötler assoziiert. Dabei beweist ein Blick auf sein Werk, wie intensiv sich der Norweger mit seiner Außenwelt auseinandersetzte – und wie sich aktuelle Ereignisse mitunter direkt in seiner Motivwahl widerspiegeln.
Ein tiefes Erschrecken über die Katastrophe
Diese ganz persönliche Auseinandersetzung lässt sich etwa am Holzschnitt „Panik in Oslo“ ablesen. Er zeigt vor Feuer und Rauchwolken flüchtende Menschen, die Gesichter angstverzerrt, der Schrecken um sie herum nur skizzenhaft angedeutet. Mit diesem Motiv verarbeitet Munch eine Katastrophe, die er im Jahr 1879 selbst miterlebte: Eine Zeit, in der Norwegens Hauptstadt immer wieder von verheerenden Bränden heimgesucht wurde. Dabei traf es nicht zufällig vor allem die ärmsten der Armen, deren eng aneinander stehenden Häuser schon durch einen einzigen Brand in kürzester Zeit vernichtet werden konnten. Sein tiefes Erschrecken über die Katastrophe schrieb Munch bereits mit 15 Jahren in seinem Tagebuch nieder, es dürfte ihm rund 38 Jahre später auch als Erinnerungsstütze für das Werk gedient haben.
Hinrichtungen, Mord und Krieg
Nicht immer war der Maler dabei selbst vor Ort, wenn die tragischen Ereignisse ihren Lauf nahmen. Als wacher Beobachter seiner Zeit las Edvard Munch sowohl norwegische als auch internationale Zeitungen und nutzte sie als Inspirationsquelle für sein künstlerisches Schaffen. Dabei zeigte er ein besonderes Interesse für die abgründigen Geschichten, die sich hinter den Meldungen des Tages verbargen. Häufig waren es Themen wie Hinrichtungen (zum Beispiel die Lithografie „The Execution“), Mord und Krieg, die Munch in seinen Bildern aufgreift. Und auch im persönlichen Umfeld fand der Maler Motive für sein Werk: Seinem Streit mit dem jüngeren Malerkollegen Ludvig Karsten, der nach einem betrunkenen Abend in einer handfesten Auseinandersetzung endet, widmete Edvard Munch gleich mehrere Bilder („Die Schlägerei“, „Unerwünschte Gäste“).
Ein weiterer Hinweis auf das Zusammenspiel von Außen – und Innenwelt des norwegischen Malers findet sich in Bildern wie dem großformatigen „Arbeiter im Schnee“. Ohne einen explizit politischen Kontext zu formulieren, bildet Edvard Munch hier doch gesellschaftliche Realitäten ab, die von der medialen Öffentlichkeit damals in erster Linie in einen negativen Kontext gesetzt wurde. Man fürchtete sich gemeinhin vor einem Erstarken der sogenannten Arbeiterklasse und vor dem Schrecken von Kommunismus und Sozialismus. Ein Thema, das auch Edvard Munch beschäftigte – neben politischen Aspekten schien ihn hier jedoch nicht zuletzt auch das ästhetische Gehalt der Arbeiterbewegung zu faszinieren. Gleichzeitig lässt sich auch bei den Arbeiter-Motiven ein direkter, persönlicher Bezug herstellen: Als Vorbild für die dargestellten Figuren dienten dem Maler Arbeiter, die sein Atelier umbauten.
Von der Postkarte auf die Leinwand
Inspiration fand Edvard Munch dabei nicht allein in seiner unmittelbaren Umgebung oder in Zeitungsmeldungen: Häufig dienten ihm zum Beispiel auch Postkarten als Vorlage für seine Motive. In einigen Werken lassen sich diese Vorlagen bis ins Detail nachvollziehen: So zum Beispiel in der Lithografie „Wald in Wiesbaden“, die mit ihrem ausgeprägten Wechsel von Licht und Schatten und dem dichten Blätterdach nicht zufällig an eine Postkarte des Wiesbadener Hotel Kaiserhof denken lässt. Im Archiv des Osloer Munch-museet finden sich weitere Beispiele, die belegen, wie der norwegische Maler immer wieder Postkartenansichten aufgriff und mit seiner unverwechselbaren Handschrift zu einem eigenständigen Werk verarbeitete.
Diese Vorgehensweise ist dabei keineswegs mit bloßem Abmalen zu vergleichen. Ganz im Gegenteil gewinnt der Umwandlungsprozess vom fertigen Postkarten-Motiv hin zur eigenständigen Malerei bei Munch eine ganz besondere Dynamik. Einzelne visuelle Aspekte der ursprünglichen Vorlage werden verfremdet, andere stärker betont und auf die Spitze getrieben. Und auch die bloße Auswahl der Ansichtskarten lässt eine intensive Auseinandersetzung des Künstlers mit den Gegebenheiten seiner Zeit erkennen: Indem der Maler sich überhaupt mit scheinbar banalen Vorlagen wie der zur Jahrhundertwende beliebten Ansichtspostkarte beschäftigt, positioniert er sich ganz klar als moderner Künstler, der den aktuellen technischen Entwicklungen mit großer Neugierde gegenüber steht. Während viele andere Maler seiner Zeit das Aufkommen der Photographie, später auch des bewegten Bildes äußerst kritisch betrachteten, empfing Edvard Munch die neuen Medien mit offenen Armen. Die Verarbeitung klassischer Motive und populärer, teils kitschiger Landschaften zu einem eigenständigen, künstlerischen Werk kann somit auch als ganz persönlicher Umgang mit der damals beginnenden Bilderflut gedeutet werden.