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WOHNST DU NOCH, ODER STREBST DU SCHON?

Mike Bouchet stellt sich in „Neues Wohnen“ die Frage nach menschlichen Wohn-Realitäten und -Wünschen. Auf den ersten Blick sperrig, laden die Skulpturen zum Nachdenken über vermeintliche Gewissheiten ein.

Wuchtig stapeln sich Mike Bouchets Skulpturen in den langgestreckten Galerieräumen der SCHIRN. Man kann an ihnen entlang schreiten, sie umrunden, sich annähern. Nur nicht verletzen an den Ecken und Kanten. Fünfzehn Objekte, 450 Kilogramm pro Quadratmeter schwer, aus Holz und Metall. Fünfzehn Transportpaletten auf fünfzehn Teppichen, von Künstler- und Kuratorenhand ausgewählt, aus dem Teppichgeschäft „Kibek“. Jeder Teppich kann eine Geschichte erzählen. Aus Tausend Und Einer Nacht oder von aktuellem Wohndesign. Von abstrakten Formen und Farben. Von Minimal und Pop Art.

Bouchet spielt häufig mit Zitaten: Hier verweist er auf Carl Andrés sockellose Skulpturen, dort auf Gordon Matta-Clarks zerteiltes Gebäude. „Alle in Bouchets Kunstkosmos sind alte Bekannte, nur geschüttelt wie in einem Cocktail-Shaker und in einem transluzenten Glas serviert“, schreibt Kurator Matthias Ulrich. Zitation, Perspektivverschiebung und Verfremdung sind Bouchets Begleiter.

Als Selbstzitat kann die 15-teilige Skulpturengruppe „Sir Walter Scott“ verstanden werden, die auch in der Bilderstrecke zur Ausstellung zu sehen ist. „Sir Walter Scott“ hat eine Vorgeschichte. Einst ein typisch amerikanisches Einfamilienhaus, produziert von „Forest Homes“, aus dem Katalog bestellbar, bespielte Bouchet damit die Biennale 2009 in Venedig. Als „Watershed“, Wasserhütte, schwamm der Holzbau im Hafenbecken des Arsenale in Venedig, der ehemaligen Flottenbasis und Schiffswerft der Lagunenrepublik. Ein modernes Beispiel amerikanischen Wohnens, die Verkörperung des Traums vom Eigenheim, als Instanz des verfassungsrechtlich festgehaltenen Rechts auf Streben nach Glück.

Zitat der Serialität

Zum Schwimmen gebracht, am selben Tag gesunken, von der italienischen Marine zum Schiffswrack erklärt, dekonstruiert Bouchet in Frankfurt das Eigenheim – und mit ihm den Traum vom perfekten Wohnen. Als Kritik an der Monotonie kapitalistischer Lebensformen, wirkt die ästhetische Alteration der Wohn-Ware als Spiegelung einer virulenten Warenästhetik. Der ästhetische Ansatz entstand dabei eher beiläufig: Bouchet selbst spricht von der Signatur des Zufalls, die der Unfall auf sein Werk „Watershed“ geschrieben habe.

Mike Bouchet, „Neues Wohnen“, Frankfurt, 2010

Den Konzeptgedanken vom „Neues Wohnen“ setzt der Künstler im hinteren Teil der Galerie, in einem von ihm eingerichteten „Maklerbüro“, fort. In ironischer, skurriler Weise zeigt Bouchet Wohnentwürfe für die heutige Welt. Ein Teil von „Watershed“, der Anker mit Schlüssel, hängt als Miniaturmodell an der Wand – mit schwimmendem Schlüsselanhänger.

In der Ausstellung und auf seiner Website lädt der Künstler als Makler zur architektonischen Selbsterfahrung ein: Er ermöglicht die Gestaltung eines Swimmingpools als Unikat, etwa in Form des invertierten SCHIRN-Grundrisses. Ein Blätterbogen mit Anschrift und Telefonnummer des Künstlers liegt auf dem Glasschreibtisch aus – Bouchet tritt als Vermittler des „Neues Wohnens“ auf. „Pool-Architektur ist die unkreativste Form von Architektur überhaupt, dabei ließe sich alles daraus Mögliche machen“, sagt Bouchet in der Künstlerführung.

Einige der Pools scheinen auf Bouchets Jacuzzi-Serie zu verweisen. Die extravaganten Badewannen existieren unter anderem in den Ausführungen „Tatjana Gsell“, „Jude Law“ oder „Schwarzenegger“. Bekannt ist der „Celebrity Hot Tub for Kofi Annan“, ausgestellt im New Yorker P.S.1 im Jahr 2005, der mit einer verrottenden Wurst im Badewasser die Besucher einer olfaktorischen Extremsituation aussetzte.

Die digitale Fotogalerie mit 3000 Schwimmbadbildern, zwölf Stunden lang, liefert als Panorama-Schau Bilder von Pool-Architektur. Wie der Rasen gestaltet werden kann, zeigt „Colony Garden“: Mit Kunstrasen, Beregnungsanlage und Säule zitiert Bouchet die Konzeptkunst Marcel Duchamps, verweist auf die architektonische Gestaltung der SCHIRN-Rotunde und bezieht eine Position zur Bewässerung von Grünflächen – etwa verbraucht die Erhaltung von Golfanlagen Unmengen an Ressourcen.

Ästhetik der Gewalt

Mit Fragen der Inneneinrichtung setzt sich wiederum der Stapel eines USM-Haller-Regals auseinander: Bücher über „Helmut Newton“, „Modern Architecture“ und „Faszinierende Automobile“ dürfen in einem Haushalt ebenso wenig fehlen wie das populärste Kleidungsstück der Gegenwartsindustrie: die Jeans. Als Selbstzitat mischt sich eine Hose aus der Aktion „Carpe Denim“ von 2004 in den horizontalen Regal-Stapel. Damals ließ Bouchet One-Size-Jeans in Kolumbien fertigen, um sie über der Stadt Cali vom Flugzeug aus zu verteilen. Auch auf die Frankfurter Zeil segelten 2004 Gratisjeans vom Hochhaus herab.

Mike Bouchet bei der Hängung des Ankers in „Neues Wohnen“

Einen Vorschlag für die Wandbehängung macht Bouchet mit gerahmten Spanplatten: Die Materialien stammen aus „Sir Walter Scott“. Das bekannteste Werk des Schriftstellers Scott ist „Ivanhoe“: diesen Titel trägt auch Bouchets Spanplatten-Sammlung, deren Weiß das Salzwasser der venezianischen Lagune auflöste, und eine zerklüftete Farbtextur hinterließ. Das vorhandene Weiß invertiert die filmisch vermittelte Vorstellung von „Ivanhoe – Der schwarze Ritter“ (1952).

Das Ölbild „ohne Titel“, nach Auskunft des Künstlers in Turner-Manier gemalt, ist Bouchets Interpretation eines Stills aus der von Steven Spielberg und Tom Hanks produzierten Miniserie „The Pacific“. Das plakative Bild einer Explosion, mit dem der amerikanische Sender HBO die Serie bewarb, verwandelt die Brutalität des Krieges in eine Ästhetik der Gewalt.

Bouchet interpretiert diese Momentaufnahme der Explosion: fliegende Steine, wabernde Hitze, Zerstörung als Motiv. Ist der Betrachter seit dem 11.09.2001 für dieses Thema sensibilisiert? Reagiert er überreizt, übersättigt oder abgestumpft – wegen der Kontinuität der Nachrichten von Anschlägen im Nahen Osten, Pakistan, Afghanistan oder im Irak? Was sagt das über unsere Wahrnehmung von Krieg – als Invasion oder dezentraler Terror?

Veränderung des Blicks

Kategorien sind die Bausteine von Bouchets Arbeiten. Mit Blick auf sein Gesamtwerk, rührt er an den große Fragen der Gesellschaft, setzt sich mit der zeitgenössischen Kultur auseinander, zitiert und verformt Werke von Künstlerkollegen.

Die Themen Sexualität, Serialität und Subjekt bearbeitet er 1993 mit Abgüssen seines Hinterns, den er als Becken reproduziert und vervielfältigt. Abgüsse seiner Hoden werden zur Vorlage für Eiswürfelbehälter.

Gemeinschaft, Hippie-Kultur, Drogenkonsum und Selbsterfahrung werden in „Your Toothbrush Is Our Toothbrush“ zum Thema. In einem Zeitraum von drei Jahren lässt er Fremde und Freunde in seinem Atelier quartieren (1996-1999). Die einzige Bedingung: Alle müssen auf einem gigantischen Futon übernachten. Frei Haus sind Nahrungsmittel, Marihuana und Zugang zu sanitären Anlagen. Was als Auseinandersetzung mit der kalifornischen Hippie-Kultur beginnt, endet mit zerbrochenen Freundschaften.

Humor und Skurrilität sind Konstanten von Bouchets Arbeiten: In einer Werkphase produziert er Spachtelmasse und Ziegeln aus Dung (1997-2000). Das Studio benennt er nach Monets Arbeitsplatz, „Giverny“. Das Spiel mit Schmutz, Sexualität und Farbe zitiert Arbeiten von Otto Mühl.

Einen innovativen Nachbau von Walter De Marias „Earth Room“ fertigt Bouchet als „New York Dirty Room“: Der Boden stammt aus Kompost aus dem Gefängnis Rikers Island, im Gegensatz zum reinen „Earth Room“ gedeihen Pflanzen und Pilze auf dem fruchtbaren Mutterboden. Hier zeigt der Künstler den zyklischen Prozess von Vergehen und Entstehen. Im übertragenen Sinne wird damit auch die Möglichkeit der Resozialisierung ehemaliger Strafgefangener thematisiert. Was kann diese Gesellschaft leisten? Wo steht sie jetzt, und wozu ist sie fähig?

In „Neues Wohnen“ stellt Bouchet sich die Frage nach menschlichen Wohn-Realitäten und -Wünschen: seit der Sesshaftwerdung im Mesolithikum ein anthropologisch grundlegendes Thema. Die utopischen Architektur-Entwürfe, die Bouchet präsentiert, diskutieren Wohnvorstellungen, indem sie sie als Dekonstruktionen visualisieren und wiederbeleben.

Diese Perspektivverschiebungen beeinflussen und verändern den Blick aufs „Neue Wohnen“, bewirken eine ästhetische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen vom häuslichen Glück. Es heißt zwar, man ist, was man liest. Nun lässt sich auch behaupten: Man wird, wie man wohnt.
Florian Leclerc

Kontext: Haus auf Reisen
Mehr zur Ausstellung von Mike Bouchet auf der Website der SCHIRN