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WELTENWANDLER

06.08.2012

6 min Lesezeit

Mit der Ausstellung „Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“ widmet sich die SCHIRN einer zu Unrecht aus dem Blickfeld geratenen Kunstform. Was zeigen die Arbeiten? Welten jenseits des „Normalen“, Gewohnten und Bekannten.

Gebunden an ihre schöpferischen Fähigkeiten, an seelische Zustände, die vom Alltäglichen und „Normalen“ mehr oder weniger abweichen, enthüllen Outsider-Künstler in ihren Werken Unerwartetes und lassen fantastische Werke entstehen. Häufig am Rande der Gesellschaft stehend, beleuchten sie die Grenzen und Widersprüchlich­keiten des menschlichen Daseins und vermitteln eine tiefe Unruhe über die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Fantasie.

Um die ebenso komplexen wie vielgestaltigen Phänomene begrifflich zusammenzufassen, wurden im wissenschaftlichen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert mannigfaltige Bezeichnungen entworfen.

Der Wortgebrauch – von „Art brut“ über „Self-taught Art“, „Raw Art“, „Visionary Art“ und „Folk Art“ bis zu „Outsider Art“ – erzählt somit gleichzeitig die Geschichte kultureller Grenzen. Diese werden immer wieder neu gezogen und sind für die unterschiedlichen Auffassungen und Regeln marginaler Kulturäußerungen sowie für den grundsätzlichen Umgang der Gesellschaft mit ihren Rändern symptomatisch.

George Widener, „Sunday’s Crash“, undatiert

Die Ausstellung der SCHIRN zeigt in einem Spektrum vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart eine paradigmatische Reihe intensiv erlebbarer Räume, in denen sich auf eindrucksvolle Weise die individuellen Welten der Künstler A.C.M., Aloïse, Emery Blagdon, Henri Darger, Auguste Forestier, Madge Gill, Karl Junker, Friedrich Schröder-Sonnenstern , Judith Scott, Oskar Voll, August Walla, George Widener, Adolf Wölfli und Birgit Ziegert eröffnen.

Wahnsinn und Gesellschaft

„Mitten in der heiteren Welt der Geisteskrankheit kommuniziert der moderne Mensch nicht mehr mit dem Irren“, konstatiert der französische Philosoph Michel Foucault, den die Bezüge zwischen Wahnsinn und Gesellschaft, Formen sozialer Devianz und den Normalisierungstechniken, die ihnen entgegengesetzt werden, zeitlebens beschäftigten. Sein Blick zurück macht deutlich, dass die Erfahrungsstruktur des Wahnsinns eng mit der Geschichte verknüpft ist, deren Wandel den Umgang der Gesellschaften mit ihren Außenseitern bestimmt. Auf diesem Weg bringt die Ära der Aufklärung die Herrschaft der totalen Vernunft.

Im damit angebrochenen rationalistischen Zeitalter wird die Unvernunft, die nun nichts Heiliges mehr hat, durch die Vernunft verdrängt und diszipliniert. Der Wahnsinnige überschreitet die Grenzen der bürgerlichen Ordnung. Er ist „gleichsam die Grenze unserer Gesellschaft, jedoch die stets gebannte, unterdrückte, verabscheute Grenze“, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze schreibt.

Der Wahnsinn selbst wird als soziale Gefahr kodiert, der Einhalt geboten werden muss; kein Platz mehr für die Fantasten und Frenetiker, für die armen Mondsüchtigen, Illuminaten und Geisterseher. Sie sind die Anormalen. Mit der Erfindung der Psychiatrie als sozialer Vorsichts- und Hygienemaßnahme zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden „die Unklarheiten, Irrtümer und Einbildungen des Wahnsinns pathologisiert“, so Michel Foucault. Der Wahnsinn wird Träger diverser Gefahren, dem die neue Wissenschaft der Psychiatrie den potenziellen Zusammenhang mit dem Verbrechen nachweist.

Gleichzeitig, so konstatiert Foucault, „funktionalisierte sie [die Psychiatrie] das Wissen, die Vorbeugung und die mögliche Gesundung von der Geisteskrankheit als soziale Vorsichtsmaßnahme, die absolut notwendig war, wenn man bestimmte grundlegende an die Existenz des Wahnsinns gebundene Gefahren vermeiden wollte“.

Aloïse, „Bas et haut“, 1940-1950

Werke aus sozialer Perspektive befragen

„Outsider Art“ ist ein Begriff, den der britische Kunstkritiker Roger Cardinal Anfang der 1970er-Jahre prägt, um die Produktion von Kunst entlang und jenseits dieser Grenzen zu beschreiben. Von der „Bildnerei der Geisteskranken“ spricht noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hans Prinzhorn, einer der theoretischen Pioniere. Die Bezeichnung „Art brut“ wählt der Künstler Jean Dubuffet, um vor allem die rohe Ursprünglichkeit, die er in diesen Werken ausmacht, zu manifestieren. Als „zustandsgebundene Kunst“ will der Wiener Psychiater Leo Navratil die Arbeiten in den 1970er-Jahren benannt wissen.

Darüber hinaus finden sich Bezeichnungen wie „Self-taught Art“, „Raw Art“, „Vernacular Art“, „Visionary Art“, „Folk Art“ oder Deviante Kunst, um nur die gängigsten Begriffe anzuführen. In jüngster Zeit spricht man auch von neurodivers. Cardinals Benennung Outsider Art, die manchem vielleicht zu stark auf die Randständigkeit dieser Kunst verweist, ermöglicht allerdings im Gegensatz zu den anderen gängigen Begriffen eine Befragung der Werke nicht nur in ästhetischen, sondern auch in sozialen Begrifflichkeiten; nicht unerheblich bei einer Kunst, die sich eben nicht allein durch die Form, sondern auch und gerade durch den besonderen Charakter ihrer Produktion auszeichnet.

Ohne den Anspruch erheben zu wollen, einen historischen Überblick über die Gesamtheit der künstlerischen Äußerungen zu geben, spiegelt die Ausstellung der SCHIRN in ihren Positionen herausgehobene Beispiele vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit wider. Da sind die Psychiatriepatienten: Adolf Wölfli, der wohl berühmteste, Aloïse, Auguste Forestier, alle drei Klassiker der Art brut, oder Oskar Voll, Fall Nr. 33, der in Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken im Kapitel C, „Bildwerke in der Abteilung V ‚Anschauliche Phantastik – sichere Darstellungen von Halluzinationen‘“, erwähnt wird.

Gesamtkünstler ohne Grenzen

Da sind Emery Blagdon oder Karl Junker, die ihre Visionen an ganz unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten – der eine Mitte des 20. Jahrhunderts im ländlichen Nebraska, der andere im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts – relativ ungestört am Rande der Gesellschaft ausleben konnten.

Karl Junker in seinem Atelier, Fotomontage, Ansichtskarte, um 1905

Während Blagdon einen Schuppen zu einer „Healing Machine“ umfunktionierte, unterwarf Junker ein ganzes Haus seinem Formwillen. Da sind die typischen Entdeckungsgeschichten, wie die von Henry Darger, der so zurückgezogen lebte, dass es zur absoluten Überraschung seines Vermieters geriet, als er nach dessen Tod in der Einzimmerwohnung ein unglaubliches Gesamtwerk vorfand. Da ist Madge Gill, die Frau aus der Arbeiterklasse im Osten Londons, die traumatisiert unter mediumistischer Anleitung eines Geistes manisch arbeitete.

Einen Großteil ihres Werkes hat auch heute noch kaum jemand ge­sehen. Da ist Friedrich Schröder-Sonnenstern, der Hofnarr der Gesellschaft, wenn man so will, skandalumwitterter Provokateur, grandioser Hochstapler und Malerfürst der besonderen Art, ein Popstar, der die „Factory der Outsider Art“ unterhielt und dessen Arbeiten sogar von berühmten Schauspielern oder Georges Pompidou gesammelt wurden.

Da ist August Walla, Performance- und Gesamtkünstler ohne Grenzen, der nicht nur sein Zimmer zu einem wagnerianischen Gesamtkunstwerk machte, sondern beinahe ganz Gugging in seine Kunst einbezog. Da sind Judith Scott und Birgit Ziegert, die beide mit Down-Syndrom geboren wurden und in unterschiedlichen Kreativzentren Förderung gefunden haben.

Die Geschichte der Judith Scott ist beinahe eine Moritat: Erst nach jahrelangem Dahinvegetieren in unterschiedlichen Institutionen öffnete sich ihr in einem modernen kalifornischen Kreativzentrum des späten 20. Jahrhunderts der Weg zu einem einzig­artigen skulpturalen Schaffen. Birgit Ziegert hat mit dem Atelier Goldstein in Frankfurt einen vergleichbaren Ort gefunden, der ihr Gelegenheit und Raum für ihre künstlerische Arbeit gibt. A.C.M. baut seine Mikrowelten aus dem Computerschrott unserer Zeit. Und da ist nicht zuletzt George Widener, Asperger-Patient, Savant und Zahlengenie mit phänomenalem Gedächtnis, repräsentativ für das Computerzeitalter der Gegenwart.

Blixa Bargeld liest Weltenwandler

Was zeigen diese Arbeiten? Eine Kunst, die sehr wohl die Geschichte und die Kultur in ihre Werke aufnimmt. Sie vermitteln darüber hinaus Visionen und Anregungen jenseits des Normalen, Gewohnten und Üblichen.

Die gewandelten Welten vermögen den Betrachter anzuregen, aus den Gewissheitsstrukturen seines Alltags herauszutreten.
MW

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