Die ersten Zeilen von „Marmor, Stein und Eisen bricht“ klingen durch die Straßenbahnlinie 16. Und während die meisten Fahrgäste angestrengt versuchen, die singende Gruppe zu ignorieren, nutzt ein Fahrgast die Möglichkeit, seinen Unmut los zu werden. „Die meinen, einen mit ihrem Unsinn verwöhnen zu müssen!“ Eine Reaktion, immerhin. Paola Pivi kann lächeln.
In ihrem Projekt „Imagine by John Lennon“ versucht die italienische Künstlerin mit einer Gruppe Musiker völlig unverhofft in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Art Gemeinschaft zu schaffen – während der Rushhour in Frankfurt. Ganz beiläufig beginnt ein junger Mann, „Let it be“ vor sich her zu summen. Zwei Reihen weiter steigt eine Zeitung lesende Frau mittleren Alters ein. Daraufhin schließt sich ein am Fenster stehendes, etwas alternativ aussehendes, Mädchen an.
Nach kurzer Zeit singen sechs Fahrgäste gemeinsam den Beatles-Song. Zunächst verursacht diese Gruppe eher ein ungläubiges Stirnrunzeln in den Gesichtern der Fahrgäste. Eine Reaktion, immerhin. Andernorts, in der Fußgängerzone, werden Straßenmusiker oft einfach ignoriert.
Ist Singen aus der Mode gekommen?
Wir sind an der Messe angekommen und steigen um. Die Straßenbahn ist brechend voll, der Großteil der Fahrgäste sind Messebesucher aus aller Welt. Diesmal bekommen die Fahrgäste den Dschungelbuch-Klassiker „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ zu hören – und zum ersten Mal ertönt Applaus.
Die asiatischen Messebesucher würdigen die Unterhaltungseinlage, die in der völlig überfüllten Straßenbahn fast diffus aus verschiedenen Ecken tönt. Ist dieses öffentliche Sich-Einlassen auf eine scheinbar unsinnige Situation, diese Teilhabe am gemeinschaftlichen Singen kulturell bedingt?
Spätestens durch die Debatte, die sich in der S-Bahn in einer Gruppe älterer Fahrgäste nach der Performance des Volksliedes „Die Gedanken sind frei“ auftut, wird klar, dass diese Thematik für die deutsche Gesellschaft eine ganz besondere Rolle spielt. „Schade, dass solche Lieder nicht mehr in der Schule gesungen werden. Überhaupt wird zu wenig gemeinsam gesungen“, wird moniert.
Diese kulturpessimistisch anmutende These scheint ihre Berechtigung zu finden, denn tatsächlich ist das gemeinsame Singen in Deutschland mehr als nur aus der Mode gekommen. Seit der Vereinnahmung der deutschen Volkslieder durch die Nationalsozialisten und insbesondere die Hitlerjugend, hat Singen als gemeinschaftsbildendes Ereignis den fahlen Beigeschmack von Ideologisierung bekommen und wurde quasi aus der Öffentlichkeit verbannt.
Doch es gibt einen deutlichen Generationenunterschied und dieser zeigt sich in Paola Pivis Projekt. Während die meisten Erwachsenen ganz nach dem Motto – „Ich habe keine Zeit für so etwas Albernes“ – angestrengt auf ihr iPhone oder aus dem Fenster starren, um bloß keine Miene zu verziehen, erlaubt sich die jüngere Generation, die mit den Musikshows „Popstars“, „Deutschland sucht den Superstar“ oder „X-Factor“ aufgewachsen ist, die verschiedensten Gefühlsregungen.
Sich-Einlassen auf die Situation
Von Belustigung bis Bewunderung: Die Jugendlichen zeigen, dass der Wert des Singens wieder gestiegen ist und von ihnen in der Freizeit kultiviert wird. Egal, ob beim Rap-Battle oder beim gemeinsamen Singen von Popsongs, es scheint, dass die jüngere Generation einen anderen Umgang mit Gesang in der Öffentlichkeit hat.
Darüber hinaus evoziert Pivis Experiment etwas, das implizit mit dem gemeinsamen Singen zu tun hat. Bei genauerer Beobachtung, sagt Pivi, sehe man fast jedem Menschen an, dass er mit dem Lächeln ringe. Daraus entwickele sich sogar eine Dynamik: Sobald sich der Erste erlaube, Freude zu zeigen, veränderten sich auch die Mienen der Anderen schlagartig.
Ein Moment ihrer Arbeiten ist das Spiel mit der „Verwunderung“. Sie schafft Situationen, die eine Zäsur im Alltag darstellen. Ob das ein auf dem Rücken liegender Kampfjet ist, ein schlummernder LKW oder die Inszenierung von Tieren in ungewohnter Umgebung: Solche bizarren Leerstellen im Alltag eröffnen ein Umfeld des Un-Sinns und verlangen vom Betrachter ein Sich-Einlassen auf die Situation. Die Betrachter, die das tun, können eine ästhetische Erfahrung machen in Form einer gesteigerten Selbstwahrnehmung, wodurch sie sich der eigenen Anwesenheit in der Situtation bewusster werden.
In Pivis Aktion „Imagine by John Lennon“ kann sich das Bewusstsein des Betrachters entwickeln: Von einer Verweigerung oder einem Unverständnis hin zu einer Selbstreflexion bis zu einem Genießen der ästhetischen Erfahrung. Pivis Performance schafft dabei eine eigene Dynamik: Versteinerte Mienen verwandeln sich in lächelnde Gesichter.
Asma Diakité, Theaterwissenschaftlerin
Website von www.playingthecity.de
Website von Paola Pivi: www.paolapivi.com
WEINE NICHT, WENN DER REGEN FÄLLT
13.04.2011
4 min Lesezeit
Gemeinsam in der Öffentlichkeit singen – macht das heutzutage überhaupt noch jemand? Paola Pivi stimmt in ihrer Performance „Imagine by John Lennon“ Lieder in der Bahn an – mit überraschendem Resultat.