Vom Atelier an den Esstisch:
Eine kleine Chronik der Künstler*innen-Restaurants II

Apolonija Šušteršič, „Bonnevoie? Juice Bar“, Manifesta 2, Luxemburg, 1998

Die Futurist*innen
servieren exaltiertes Schwein

Im März 1931 eröffnete in der Via Vanchiglia in Turin eine Lokalität, die als Affront gegen die traditionelle italienische Gastronomie gemeint war: die „Taverna del Santopalato“. Der Gastwirt – Filippo Tommaso Marinetti, Begründer der avantgardistischen Künstler*innenbewegung Futurismus – hatte sich vorgenommen, die Gesellschaft umfassend zu revolutionieren, und dafür reichte es nicht, nur die Kunst auf den Kopf zu stellen. Auch das Essen musste radikal neu gedacht werden. Zusammen mit Luigi Colombo (alias Fillìa) hatte Marinetti 1930 das „Manifest für Futuristisches Kochen“ geschrieben, eine Art Gebrauchsanweisung für hochmoderne Kulinarik, das in der Taverne seine praktische Umsetzung finden sollte.

Das Restaurant war als Tempel der futuristischen Ideale konzipiert, zu denen die moderne Technik, die Industrie, die Schnelligkeit und die Wissenschaft zählten ebenso wie chauvinistische und kriegsverherrlichende Ideen. Um ja keine Gemütlichkeit aufkommen zu lassen, stellte man im Santopalato keine Kerzen, sondern Scheinwerfer auf und verkleidete die Wände mit Aluminium. Die Faszination der Futurist*innen für die Ästhetik der modernen Luftfahrt spiegelte sich im gesamten Restauranterlebnis wider: Die Gäste saßen in einer Art Flugzeugkabine, Tische und Stühle waren schräg angewinkelt und vibrierten, und aus der Küche drangen Motorgeräusche. An Treibstoff sollte es nicht mangeln, dafür sorgte der Lambrusco aus Benzinkanistern.

Marinetti verstand den Akt des Essens als multisensorisches Gesamtkunstwerk: Bestellte man etwa die „Luftspeise“, bekam man einen Teller mit Oliven, Fenchelstückchen und Kumquat aufgetischt und wurde angewiesen, diese mit der rechten Hand zu verspeisen, während man mit der linken Hand alternierend über Schleifpapier, Samt und Seide streichen sollte. Um die Sinneserfahrung zu intensivieren, versprühten die Kellner*innen dabei Nelkenduft. Die Maxime „Innovation statt Tradition“ manifestierte sich auch in Form ungewöhnlicher Geschmackskombinationen (Hühnchen mit Schlagsahne, getrockneter Fisch mit Kirschen) und der unkonventionellen Namensgebung einiger Gerichte: „Pikanter
Flughafen“, „Kolonialfisch mit Trommelwirbel“ oder „Exaltiertes Schwein“. Letzteres bestand aus einer Salamischeibe, in heißem Espresso schwimmend und mit einem Schuss Eau de Cologne gewürzt.

Die wohl radikalste kulinarische These F.T. Marinettis war allerdings seine komplette Ablehnung von Pastagerichten. Diese machten träge und schlapp und wären daher ungeeignet für Patriot*innen, die „dynamische Pflichten“ zu verrichten hätten. Auf der Karte des Santopalato stand konsequenterweise keine einzige Nudelsorte.

Marinetti & Fillìa, „Taverna del Santopalato“
Marinetti & Fillìa, „Taverna del Santopalato“

Antoni Miralda
serviert Tapas in New York

Obwohl es jetzt einmal quer über den Atlantik geht, bis nach New York City, bleiben wir der mediterranen Küche treu. 1972, als der Stadtteil TriBeCa noch für Künstler*innen erschwinglich war, lebte dort der Katalane Antoni Miralda, schräg gegenüber vom leer stehenden „Teddy’s“, einem legendären italienischen Restaurant aus den 1950ern. Schon damals lag der Fokus der multidisziplinären Praxis Miraldas auf dem Thema Essen: Er setzte sich intensiv mit den soziologischen und ethnologischen Aspekten des Kulinarischen auseinander und war fasziniert von der geschmacklichen und visuellen Diversität von Lebensmitteln. Als Miralda und seine Lebensgefährtin, die Köchin Montse Guillén, Anfang der 1980er-Jahre den Entschluss fassten, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, kam ihnen sofort das Teddy’s in den Sinn. Nach umfassenden Umbaumaßnahmen verwandelten sie den Ort in ein künstlerisches und gastronomisches Experiment mit dem Namen „El Internacional Tapas Bar & Restaurant“.

„El Internacional Tapas Bar & Restaurant“
Interieur des „El Internacional Tapas Bar & Restaurant“
Interieur des „El Internacional Tapas Bar & Restaurant“

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Das Konzept „Tapas“ war damals in den Staaten dermaßen unbekannt, dass Leute irrtümlich annahmen, es handele sich um einen Stripklub („Topless Restaurant“). Neben den namensgebenden Häppchen und anderen spanischen Klassikern standen auf der Karte Gerichte aus der traditionellen katalanischen Küche, wie etwa Wurst mit weißen Bohnen oder scharfe Schnecken. Dafür wurden allerdings keine Lebensmittel importiert, sondern alle aus den USA bezogen: Den Salchichón de Vic, eine typisch katalanische Wurst, ließen sie in Chicago anfertigen, ganze Garnelen fanden sie in Chinatown und das Brot kauften sie in Queens bei der portugiesischen Community.

Während Guillén für den kulinarischen Teil verantwortlich war, gestaltete Miralda das Lokal in seinem unverkennbaren Stil: mit viel Kitsch, Glitzer und Glamour; Neonfarben; Vinyl-Tischdecken mit Fruchtmuster und einer lebensgroßen Reproduktion der Krone von Lady Liberty auf dem Dach. Das Restaurant war Installation und Happening zugleich, ständig ausgebucht und bis ins letzte Detail durchdacht, mit stündlich wechselndem Soundtrack, einer eigenen Zeitung und einer Vielzahl von Performances, bei der die Gäste im Zentrum standen. El Internacional blieb nur zwei Jahre geöffnet, doch in der Zeit schaffte es Miralda, die Grenzen zwischen Kunst und Kulinarik sowie zwischen Künstler*innen und Restaurantbesucher*innen komplett aufzulösen.

Tobias Rehberger
serviert Wodka Stein

Während Miralda nur seine Leibspeisen mit nach New York nahm, ging Tobias Rehberger einen Schritt weiter: 2013 packte er seine Frankfurter Lieblingsbar in den Koffer, inklusive Garderobenhaken und Heizkörper, und verfrachtete sie in das New Yorker Stadtteil Chelsea. 1987, kurz nach deren Eröffnung, hatte Rehberger zum ersten Mal die relativ unscheinbare „Bar Oppenheimer“ in Sachsenhausen betreten, und 35 Jahre später hatte er sich offensichtlich noch nicht daran sattgesehen: Anlässlich der Frieze Art Fair 2022 ließ der Bildhauer und Installationskünstler die schmale, längliche Bar mit den exakt gleichen Proportionen im Keller des Hotel Americano nachbauen, samt identischer Ausstattung. Das Lokal war dennoch kaum wiederzuerkennen, denn Rehberger hatte es als Kunstwerk verkleidet: Alle Oberflächen, von der Decke bis zum Boden, waren mit einem schwarz-weißen Zickzackmuster bedeckt, zu dem sich ab und zu orange Linien gesellten. Die Inspiration dahinter war ein Tarnmuster, „Dazzle camouflage“ genannt, welches im Ersten Weltkrieg zum Schutz britischer Kriegsschiffe genutzt wurde.

Tobias Rehberger, „New York Bar Oppenheimer“
Tobias Rehberger, „New York Bar Oppenheimer“, 2013
Image via dezeen.com
Tobias Rehberger, „New York Bar Oppenheimer“, 2013
Image via dezeen.com

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Rehbergers Replika-Bar war zwei Wochen lang geöffnet, und die Cocktailkarte führte unter anderem sein Lieblingsgetränk Wodka Stein (Wodka mit Limettensaft und Soda). Der Künstler, der 2009 für die ähnlich hypnotisierende Neugestaltung des Cafés der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hatte, bezweckte mit seiner Bar-Installation, Kunst durch die Hintertür zu schmuggeln. Menschen sollten die Bar Oppenheimer in erster Linie aufsuchen, um eine gute Zeit zu haben. Der künstlerische Aspekt sollte dabei nur als Hintergrundrauschen erlebt werden – wobei man annehmen kann, dass die Erfahrung einer wodkagetränken Nacht dort tatsächlich berauschend gewesen sein muss.

Apolonija Šušteršič, „NJOKOBOK _ The Neighbourhood Meeting Place“, in Kooperation mit Youssou Diop, Chefkoch (T.yen, Oslo, Norwegen, 2021, in process)
(c) the artist
Apolonija Šušteršič, „Bonnevoie? Juice Bar“, Manifesta 2, Luxemburg, 1988

Apolonija Šušteršič
serviert frisch gepressten Orangensaft

Eine temporäre Bar im Rahmen einer internationalen Kunstveranstaltung konzipierte auch die Künstlerin und Architektin Apolonija Šušteršič, als sie 1998 in Luxemburg anlässlich der zweiten Manifesta die „Bonnevoie? Juice Bar“ eröffnete. Das Interieur war eher spärlich gehalten – mit orangen Wänden, hellen Holzmöbeln und einer dunkelgrünen Theke aus Betonsperrholz –, die Karte auf ein absolutes Minimum reduziert: Es gab nur Orangensaft. Das Gebäude, ein ehemaliges Obstlagerhaus, lag in einem der ethnisch diversesten Viertel der Stadt, Bonnevoie, und der Eingang der Bar war zur Straße hin offen. Sowohl der Eintritt als auch der angebotene Saft waren kostenlos, und von der Theke aus hatte man einen direkten Einblick in die anliegende Ausstellungsfläche. Šušteršič hatte mit ihrer Juice Bar bewusst einen Ort schaffen wollen, der sich nicht hauptsächlich an ein kunstaffines, vom vielen Laufen ermüdetes Biennalepublikum richtete, sondern als Bindeglied zwischen den Anwohner*innen und der Kunstveranstaltung dienen sollte.

Apolonija Šušteršič, „NJOKOBOK BAR: Research and Project“, in Kooperation mit Youssou Diop, Chefkoch (After Rain, Diriyah Biennial 2024, Riad)
© the artist
Apolonija Šušteršič, „NJOKOBOK BAR: Research and Project“, in Kooperation mit Youssou Diop, Chefkoch (After Rain, Diriyah Biennial 2024, Riad)
© the artist

2024 rekontextualisierte die Künstlerin diese Arbeit im Auftrag der Diriyah Biennale in Riad, Saudi Arabien, diesmal als Kollektiv mit dem senegalesischen Chef Youssou Diop unter dem Namen „NJOKOBOK“. In der gleichnamigen Bar servierten sie statt Orangensaft Minztee sowie einen lokal hergestellten Saft aus senegalesischem Hibiskus und arabischem Basilikum. Um das geschlossene System der Biennale zu öffnen und an Šušteršičs Konzept der Kunst als soziale Praxis anzuschließen, luden sie migrantische Gemeinschaften dazu ein, an der Bar ihre Geschichten zu erzählen.

Während es den Futurist*innen mit der Taverna del Santopalato in erster Linie darum ging, ihren künstlerisch-politischen Standpunkt zu amplifizieren; Miralda erst durch die Kollaboration mit seinen Gästen sein Gesamtkunstwerk aktivieren konnte und Rehberger die Barform als Tarnung nutzte, um dahinter seine Kunst zu verstecken, widmet Šušteršič ihr Werk komplett dem Publikum und folgt damit der höchsten Prämisse der Gastronomie: Kund*in ist König*in.

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