/ 

UNSER STAR AUS OSLO

06.08.2012

8 min Lesezeit

Das SCHIRN Magazin besuchte Edvard Munchs Heimatstadt Oslo und stellte fest, dass der 1944 verstorbene Künstler an vielen Stellen der Stadt höchst lebendig ist.

Norwegen im späten Januar: Es ist kalt, sehr kalt. Die weiße Weihnacht, die dem Rest Europas verwehrt geblieben ist, scheint sich im skandinavischen Königreich eingenistet zu haben. Für den Ankommenden taucht die Sonne das in einer Talsenke gelegene Oslo majestätisch in goldenes Licht. Das Opernhaus im Hafen wirkt mit seiner Marmor- und Glas-Fassade wie ein riesiger, angeschwemmter Eisberg, der Stadtkern zwischen Regierungsviertel, Nationalmuseum und Edvards Munchs Lieblingscafé, dem Grand Café, erscheint übersichtlich. Knapp 600.000 Einwohner leben in Oslo, einer sehr kostspieligen Stadt, in der ab 1 Uhr nur noch der Nachtbus fährt. Man könnte Oslo glatt mit Frankfurt verwechseln – würden die Parkhäuser nicht „ledig“ statt „frei“ anzeigen und wäre da nicht dieses typische nordische Licht, das immer etwas zu hell oder zu schummrig ist und alles ein wenig unwirklich erscheinen lässt.

Ein Fries über Haarnetzen

Seit 1889 versorgt die Freia Schokoladenfabrik ganz Norwegen mit ihren süßen Köstlichkeiten. Der ganze Stolz des in einem roten Backsteingebäude im Osloer Stadtteil Grünerløkka untergebrachten Unternehmens ist seine Kantine mit einem Fries von Edvard Munch. 1921 bekam der Künstler den Auftrag, zum 25. Geburtstag des Unternehmens die Frauen- und Männerkantinen mit Werken zu versehen. Für 80.000 norwegische Kronen fertigte Munch zwölf Gemälde für die Frauenkantine an; die Männerkantine wurde aus finanziellen Gründen nie realisiert. 1933 schließlich zogen beide Kantinen unter der Aufsicht Munchs in den Saal um, in dem wir nun stehen: Spielenden Kinder, winkende Frauen und Szenen am Meer, in dem sich Sonne und Segelboote spiegeln, bilden ein Panorama aus klassischen Munch-Sujets. Ein Museum, in dem gegessen wird: Die Belegschaft sitzt mit Haarnetzen fröhlich unter Weltkunst und lässt sich von den staunenden Besuchergruppen nicht bei der Mittagspause stören.

Ein Depot voller Wunder

Das Munch-Museum ist nur einen Katzensprung von der Freia-Fabrik entfernt. Ein geplanter Neubau im Hafen Oslos wurde bekanntermaßen kürzlich auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Grund bleibt dringlich: Die Ausstellungsfläche ist gemessen an der Sammlung aus über 1.100 Gemälden, 18.000 Grafiken, 4.500 Zeichnungen, sechs Skulpturen und unzähligen Texten und anderem dokumentarischen Material, die Munch der Stadt Oslo hinterlassen hatte, verschwindend gering. Chefkustodin Ingebjørg Ydstie begrüßt am gesicherten Hintereingang des 1963 eröffneten Museums und führt in einen Raum, in dem sich neben „Der Schrei“, der „Madonna“ und „Melancholie“ weitere Hauptwerke Munchs drängen; der Rest des Hauses ist wechselnden Ausstellungen vorbehalten. Der Besuch im Depot wird zur Offenbarung: Yngstie zieht wahllos riesige bewegliche Holzwände hervor und präsentiert wahre Schätze, berühmte Munch-Werke neben gänzlich Unbekanntem. Hier steht auch Munchs Filmkamera, mit der er 1927 seine Filmstudien anfertigte, die nun ebenso in der SCHIRN zu sehen sein werden wie die Fotografien, die die Ausstellungskuratoren Angela Lampe und Clément Chéroux hier im Magazin des Munch-Museums fanden.

Unter Dir die Stadt

In Ekely, heute ein reicher Stadtteil vor den Toren Oslos, hatte Munch 1916 neben seinem Winteratelier eine Villa auf einer Anhöhe errichten lassen; hier lebte er zurückgezogen bis zu seinem Tod 1944. Das baufällige Wohnhaus wurde in den 1960er-Jahren abgerissen; eine Maßnahme, die den Osloern heute noch peinlich ist. Doch das Atelierhaus befindet sich zu weiten Teilen noch im originalen Zustand, dient heute als Studio für junge Künstler, die gerne durch die Räumlichkeiten und das Außenatelier führen, in dem Munch seine riesigen Leinwände bemalte. Wo Kinder Schlitten fahren, lag Munchs Garten. Der hiesige Blick auf Oslo ist unverkennbar der seiner „Sternennacht“. Ohnehin scheint Munch, überall wohin man in Oslo geht, bereits dagewesen zu sein, hat den Blick auf seine Stadt vorweggenommen und in seinen Werken festgehalten. Oftmals fühlt man sich, als wäre man in eines seiner Gemälde geraten.

Die abendliche Dämmerung setzt bereits um 16 Uhr ein und taucht die Stadt in ein gespenstisches Orange. Es ist die Farbe des Himmels aus „Der Schrei“. Die dazu passende Ansicht auf Oslo findet man beim hochgelegenen Ekebergrestauranten. Den Besucher erwartet ein atemberaubender Anblick: Unter uns die Stadt mit den aus „Der Schrei“ bekannten Konturen der Osloer Bucht, auf den Hügeln gegenüber die weiß schimmernde Skipiste der olympischen Winterspiele von 1952. Im Restaurant treffen wir Gerd Woll, die Grande Dame der Munch-Forschung, Herausgeberin des 2008 nach vierjähriger Arbeit veröffentlichten Werkverzeichnisses der Munch-Gemälde. Die heute 72-Jährige hat bereits zu Studienzeiten ihre Leidenschaft für den symbolistischen Expressionisten entdeckt, später über Jahrzehnte als Chefkuratorin des Munch-Museums gewirkt. Wie die Ausstellung wohl in Deutschland ankomme werde, möchte Woll von den Besuchern wissen, und gibt augenrollend ihre Lieblingsanekdote von Munch zum Besten: Wie der über 60-jährige einen Rechtsstreit mit einem Nachbarn in Ekely losbrach, weil er dessen bellenden Hund nicht ausstehen konnte. Kunststar und Kindskopf: Der berühmte Sohn der Stadt ist in Gesprächen allgegenwärtig – jeder scheint eine Geschichte über ihn parat zu haben. Es würde nicht verwundern, würden auch die Taxifahrer von der letzten Fahrt mit dem exzentrischen Fahrgast berichten.

Herr Edvards Gespür für Schnee

Am Abend eröffnen im Munch-museet gleich zwei Ausstellungen: Die eine widmet sich Munchs wenig bekannten Druckarbeiten, die andere zeigt unter dem Titel „Fornemmelser for snø“ eine Auswahl von Gemälden und Zeichnungen zum Thema Schnee. Das sich der noch stark vom Impressionismus beeinflusste Munch bereits in den 1880er-Jahren bevorzugt winterlichen Motiven zuwandte, mag nicht verwundern, vielmehr der handfeste Skandal, den er damit auslöste: Denn warum sollte ein heimischer Künstler auch noch Schnee malen, wenn man ohnehin schon überall welchen sieht? Mittlerweile hat man Munch nicht nur als norwegischen Künstler mit den meisten Schnee-Motiven akzeptiert.

Das Ausstellungsthema zeigt Wirkung: Der nächste Morgen empfängt uns mit Temperaturen um die minus zehn Grad und einem Schneechaos, das in Deutschland den Verkehr lahm legen würde. In Norwegen fährt man dagegen nur etwas langsamer und hält Abstand zu den Touristen. Nach Åsgårdstrand braucht man normalerweise eine Stunde Autofahrt von Oslo, heute zieht sich die Tour auf beschwerliche zweieinhalb Stunden, der Fahrer befreit die Scheibenwischer regelmäßig mit einer Schere vom Eis.

Das Küstenstädtchen am Oslofjord ist so etwas wie die Hauptstadt in Munchs Werk. Der Blick auf’s Wasser, der steinige Strand, die dörflichen Straßen, die Weite der Landschaft haben nicht nur im Freia-Fries sondern im gesamten Schaffen Edvard Munchs ihre Spuren hinterlassen. Heute ist Åsgårdstrand wie ausgestorben: Die „Mädchen auf der Brücke“ haben sich ob des Wetters wohl ins einzige Hotel am Platz verzogen, doch die Perspektive vom Steg auf die verlassene Promenade ist auch über 100 Jahre nach der ersten Fassung des Gemäldes dieselbe. Munchs 1897 erworbenes Sommerhäuschen ist nur einen kurzen, aber rutschigen Fußmarsch entfernt. Eine Plakette an der Hauswand sowie eine Büste im Garten weisen auf den berühmten Bewohner hin. Heute dient die gelbe Hütte als Museum; sie wirkt als wäre Munch kurz mal mit dem Hund raus: Das Bett ist gemacht, da hängt sein Mantel, hier liegen die Farbtuben. Eine Verwalterin reicht Instantkaffee und Ferrero Rocher; die Nachbarn haben ihre Briefkästen und Fenster nicht ohne Stolz mit eigenen „Schrei“-Varianten verziert.

Schnitzeljagd im Nationalmuseum

1909 wurde der Festsaal der Universität Oslo fertig gestellt. Für die Gestaltung der Wandflächen wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, für den sich auch der just aus Kontinentaleuropa in seine Heimat zurückgekehrte Edvard Munch bewarb. Doch er wurde abgelehnt. Erst nach langem Werben und zahlreichen Entwürfen und Skizzen bekam Munch 1914 den Zuschlag und konnte 1916 seine Leinwände installieren, die wie monumentale Fresken wirken. Die elf Gemälde, eine Allegorie auf die Geschichte und die Wissenschaften, markieren den Übergang von den düsteren Welten der 1890er-Jahre zu einer positiven, klaren Bildsprache Munchs. Eine monumentale Fassung der „Sonne“, die als Gemälde auch in der SCHIRN zu sehen sein wird, strahlt Erhabenheit und Wärme aus und nimmt den Betrachter gefangen.

In Laufweite liegt das Nationalmuseum, das 2003 aus der Zusammenfassung des Architekturmuseums, des Museums für Volkskunst, der Nationalgalerie und der norwegischen Reichsausstellung entstand und die größte Kunstsammlung Norwegens bietet. Der Munch-Raum, von Munch noch zu Lebzeiten mit Werken bestückt, gilt gleichsam als Zentrum der norwegischen Kunst und des Munch’schen Universums. Hier hängt Hauptwerk neben Hauptwerk, hier ist Munch ganz bei sich: Die mitunter bekanntesten Fassungen von „Das kranke Kind“, „Der Schrei“, „Madonna“, „Der Kuss“ oder „Der Tanz des Lebens“ bilden den Ausgangspunkt einer beispiellosen Schnitzeljagd, den Einstieg in die ganz eigene Welt des Edvard Munch.

Denn in zahlreichen Versionen, Variationen und Überarbeitungen verfolgte Munch bestimmte Sujets und Motive oft über Jahrzehnte hinweg mit dem Ziel einer noch prägnanteren, größtmöglich einfachen Darstellung. Dieser Hang zur Wiederholung im Schaffen Munchs gilt in der Kunstgeschichte als einmalig: Zu allem gibt es ein Gegenstück, existieren Hinweise oder Spuren in anderen Werken – eine Suche, in der man sich verlieren kann. Ab dem 9. Februar wird auch die SCHIRN Kunsthalle zu einem solchen Ort des Wieder- und Neuentdeckens Edvard Munchs. Oslo verabschiedet uns mit einem seltsam erleuchteten Abendhimmel am Nachmittag. Wir denken an die „Sternennacht“, an den durchdringenden Blick des Modernisten Munch und betreten am Flughafen wieder die Realität.