Der Fahrstuhl streikt, wir steigen zu FuĂ bis ganz nach oben, in den fĂŒnften Stock des KĂŒnstlerhauses âBasisâ in der GutleutstraĂe, am Rande des Bahnhofsviertels. âDie Etage ist ein wenig speziellâ, sagt Nadine Kolodziey. âDie Decke ist etwas niedriger als im Rest des GebĂ€udes, dafĂŒr gibt es einen schönen HolzfuĂboden.â Die 31-jĂ€hrige teilt sich hier seit rund einem Jahr ein Atelier mit drei befreundeten Kollegen. In jeder Ecke steht ein Schreibtisch.
Ihr Arbeitsplatz ist genauso farbenfroh wie die Bilderwelten, die sie hier erschafft. Es gibt ein Regal, dessen Beine Buntstiften nachempfunden sind. Unter dem Schreibtisch stehen rosafarbene Crocs. Auf einem Schubladenkasten sind Zeichen- und Bastelutensilien in Form von pastellfarbenen Tierfiguren aufgereiht â Mitbringsel aus Japan. Auf dem FuĂboden bilden Folienschnipsel einen bunten Haufen.
Kolodzieys Markenzeichen sind Scherenschnitte, gefertigt aus den Plastikfolien alter SchulheftumschlĂ€ge. Mit Hilfe einer mĂ€chtigen BĂŒgelpresse, die im Atelier gleich neben der TĂŒr steht, werden sĂ€mtliche Elemente zu einer Einheit verschmolzen. Oft sieht man skurrile Figuren vor exotischem Hintergrund. Die laute und poppige Bildsprache erinnert ein bisschen an das Memphis-Design der Achtzigerjahre. Aber auch japanische Popkultur hat einen wichtigen Einfluss auf ihre Collagen. âIch mag es, wie selbstverstĂ€ndlich in Japan Zeichnungen und Figuren Teil von Kommunikationsdesign sindâ, erzĂ€hlt Kolodziey. âSelbst die Polizei arbeitet dort mit verspielten Charakteren, die erklĂ€ren, was verboten ist. Europa ist hingegen eher typografisch aufgestellt. Hier gilt: Seriöses Design ist stets reduziert.â
2016 hat sie ihren Abschluss an der Offenbacher Hochschule fĂŒr Gestaltung gemacht. Inzwischen hat sie dort selbst einen Lehrauftrag. Sie unterrichtet Illustration und berĂ€t Studenten bei ihren ersten Schritten in die SelbstĂ€ndigkeit. Ihr erster eigener Kunde ist gleich eine ganz groĂe Nummer gewesen, erinnert sie sich: Youtube schickte ihr damals eine Mail â die Kolodziey kurzerhand in den Spam-Ordner verschob, weil sie das Schreiben fĂŒr einen Fake hielt. Ein paar Wochen spĂ€ter folgte dann ein nĂ€chtlicher Anruf aus Amerika. Es ging um ein Buchprojekt. Sie sollte Fan-Kommentare, die an die beliebtesten Youtuber gerichtet waren, illustrieren. Zu ihren Auftraggebern gehören inzwischen namhafte Print-Medien wie Spiegel Wissen, Zeit Campus, das feministische Magazin Missy oder die Wochenzeitung Der Freitag.
âIch bin ziemlich schnell von einem Format gelangweiltâ, bekennt Kolodziey. âDann brauche ich einen Reset-Moment und muss mich mit etwas Neuem beschĂ€ftigten.â Die Bildsprache ihrer Scherenschnitte hat sie zum Beispiel in riesige begehbare Installationen ĂŒbersetzt, die mit meterhohen Figuren aus Styropor bevölkert sind. Kolodziey schneidet sie mit einem heiĂen Draht per Hand.
Seit einiger Zeit beschĂ€ftigt sie sich auĂerdem mit Augmented Reality. Zusammen mit einem befreundeten Programmierer aus Tokio hat sie eine eigene App entwickelt, die unter dem Namen âNadine Kolodzieyâ im App-Store zu finden ist: Motive auf WandgemĂ€lden, Stickern oder T-Shirts bekommen â durch ein Handy oder Tablet betrachtet â ein faszinierendes Eigenleben. âDas kann man sich in etwa so vorstellen wie die magischen Bilder, die man von Harry Potter kennt.â
Um ihre digitalen Skills zu erweitern, bewarb sich Kolodziey vergangenes Jahr fĂŒr eine âCreative Residencyâ bei Adobe â und wurde angenommen. Ein Jahr lang bezog sie ein monatliches Gehalt von dem Softwareriesen und konnte eigene Projekte vorantreiben. Mit Hilfe von Adobes Virtual-Reality-Software âProject Aeroâ baut sie dreidimensionale Figuren und Objekte und lĂ€sst sie dann im Display ihres iPads mit der AuĂenwelt verschmelzen. Gut die HĂ€lfte ihrer Arbeitszeit verbringt Kolodziey in Berlin, wo sie ein WG-Zimmer bewohnt. In der Hauptstadt besucht sie Kurse in AR-Programmierung und ist Teil eines Netzwerks von Face-Filter-Gestaltern: âAlles was in Richtung Neue Medien geht, muss ich mir in Berlin holen, weil es das hier in dieser Vielfalt nicht gibtâ, erzĂ€hlt sie.
In Frankfurt ist sie MitbegrĂŒnderin eines Illustratoren-Stammtisches, der sich regelmĂ€Ăig in Apfelweinkneipen trifft. Die siebenköpfige Gruppe hat sich den passenden Namen âMispelchenâ gegeben. Heute Abend ist man auf dem Weihnachtsmarkt verabredet. Vorher zeigt uns Kolodziey noch einige ihrer neuesten Face-Filter, die sie fĂŒr Instagram entwickelt hat. Vor der Kamera ihres Handys verwandeln wir uns in weinende BĂ€ren. In den inzwischen nachmittagsdunklen Fenstern des Ateliers spiegeln sich die Lichter der Neonröhren und strahlen mit den hell erleuchteten Wolkenkratzern im Hintergrund um die Wette. Wir steigen wieder durch das Treppenhaus nach unten und werden auf der StraĂe vom ersten Schnee das Jahres empfangen.