Mit knapp 20 Studierenden des Instituts für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf treffe ich mich im Foyer der SCHIRN KUNSTHALLE. Unser Ziel: Ein Besuch in der Ausstellung „Weltenwandler“. Mit dem Thema haben wir uns bereits im Vorfeld auseinander gesetzt. Denn unser Besuch der Ausstellung findet im Rahmen meiner Lehrveranstaltung „Art Brut – Outsider Art – Moderne Primitive“ statt, die ich als Dozentin in Düsseldorf für die Studierenden anbiete.
Dass die in der SCHIRN gezeigten künstlerischen Positionen Thema einer universitären Lehrveranstaltung sind, ist nicht selbstverständlich. Das kunsthistorische Studium umfasst die Geschichte der Kunst von der Spätantike bis in die Gegenwart. Es gilt, den Studierenden unter anderem einen Überblick über die Epochen der Kunstgeschichte und die Fähigkeit zur kritischen Anwendung der im Fach gebräuchlichen Methoden zu vermitteln. Deshalb bleibt häufig kein Platz für Themen, die sich im so genannten Grenzbereich der Kunstgeschichte befinden.
An der Universität in Düsseldorf ist die Kunst der Weltenwandler immer wieder ein Thema: Es ist ein Forschungsschwerpunkt des Institutsleiters Prof. Dr. Hans Körner. In Vorlesungen wendet er sich zeichnenden Kindern und „Geistmedien“, malenden „Geisteskranken“ und „naiven“ Laienmalern zu – sowie ihrer Rezeption durch die Avantgarde. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Modernen Primitiven“, um auf die Erwartungen der Avantgarde des späten 19. und 20. Jahrhunderts hinsichtlich Kreativität, Ursprünglichkeit und Unkorrumpiertheit dieser Künstler zu verweisen.
Analyse von Kunstwerken und Begriffen im Seminar
Mit dem grundsätzlichen Problem, dass es im Laufe der Zeit sehr viele, unterschiedliche Bezeichnungen für die behandelten Werke und ihre Produzenten gegeben hat, beschäftigen sich auch die Studierenden. Wesentlicher Teil der Veranstaltung ist es, Jean Dubuffets „Art Brut“, Roger Cardinals „Outsider Art“ und noch andere Begriffe in der jeweiligen Zeit zu kontextualisieren, miteinander zu vergleichen und zu diskutieren, wo die Problematiken der Etiketten liegen. Grundsätzlich ist auch die Frage zu stellen, welche Aussagekraft in Bezug auf die Beurteilung von Kunst die Unterscheidung zwischen „inside“ und „outside“ – also jenen Künstlern, die innerhalb oder außerhalb des Kunstbetriebes ihre Werke schaffen – heute noch besitzt. Die Entstehungsbedingungen als Kontext eines Kunstwerkes zu berücksichtigen, ist ein Faktor in der Analyse von Kunstwerken, es darf aber kein Kriterium für eine Ausgrenzung sein. Sollte nicht besser das Kunstwerk mit seiner künstlerischen Strategie im Fokus stehen und den Maßstab der Bewertung bilden?
Beim Ausstellungsdurchgang mit detaillierten Besprechungen der verschiedenen Exponate wurde der Studierenden-Gruppe auch nochmals deutlich, dass sich die künstlerischen Positionen nicht auf einen Nenner bringen lassen und eine Herausforderung der Beschäftigung mit den Werken in ihrer Heterogenität liegt. Beinahe bei jedem der gezeigten Künstler ist es erforderlich, in den erstellten Kosmos einzudringen und sich mit der sehr individuellen Formensprache auseinander zu setzen, um sich das OEuvre zu erschließen. Gerade bei Künstlern wie Adolf Wölfli oder Henry Darger ist von einer regelrechten individuellen Mythologie gesprochen worden, die sie geschaffen haben.
Ausstellungsarchitektur prägt Besuchserlebnis
Sehr spannend war auch die Diskussion zur Ausstellungsarchitektur, die einen starken Einfluss auf das Besuchserlebnis und die Erfahrung sowie den Zugang zu den Werken nimmt. Fast jedem Künstler wird ein eigener Raumbereich gewidmet, der sich im Hinblick auf die Wandfarbe von den benachbarten abgrenzt. Hier wird der Besucher sehr unmittelbar von den Werken umgeben: Durch die teilweise frei im Raum schwebenden Exponate entsteht das Gefühl, „mitten drin“ zu sein, und man erlebt die Arbeiten sehr intensiv. Die Verbindung einzelner Bereiche schafft eine häufig aus brückenartigen Elementen bestehende Architektur, die den Durchblick erlaubt und dadurch Transparenz schafft.
Zum Schluss ist die ganze Gruppe zwar durch die neu gewonnenen Eindrücke, Informationen und produktiven Diskussionen erschöpft, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Durch die Arbeit vor Ort in der Ausstellung mit den Originalen bleibt die Konzentration trotz des großen Tagespensums erhalten, und das Erlernte prägt sich besonders intensiv ein.
Als nächstes Ziel im Januar 2011 steht für die Gruppe der Besuch einer Galerie an, die sich auf so genannte Outsider Art/Art Brut spezialisiert hat: In der Galerie Susanne Zander in Köln wird über die Vermarktung u.a. auch von Werken einiger Künstler der Ausstellung „Weltenwandler“ gesprochen.
Dr. Nadine Müller lehrt Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Kontext: Besuch im Junkerhaus Lemgo
Kontext: Im Königreich des eigenen Ichs
Vox Pops: „Interaktion durch mutige Hängung“
Vox Pops: „Überwältigende Ausdruckskraft!“