Spielfilm-Highlights
der Berlinale 2025

Die 75. Berlinale zeigte einen auffälligen Hang zum Existenziellen, aber auch universal Verbindenden. Mutterschaft, zwischenmenschliche Beziehungen, Älterwerden und Krankheit standen im Fokus – und oftmals waren es Frauen, die die ganz großen Rollen spielten. Hier sind einige unserer Lieblingsspielfilme.

Jetzt sei die Zeit für Champagner angebrochen, sagte Jury-Präsident und Filmemacher Todd Haynes zur 75. Berlinale. Gemeint war wohl ein wenig Eskapismus, vielleicht auch Hedonismus in politisch krisenhaften Zeiten. Tatsächlich zeigte das Filmprogramm in diesem Jahr einen auffälligen Hang zum Existenziellen, aber auch universal Verbindenden: Mutterschaft war ein solches Thema, das in mehreren Filmen im Fokus stand, überhaupt zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch das Älterwerden, Krankheiten. Und es waren oftmals Frauen, die endlich die ganz großen Rollen führten. Daneben: Protagonist*innen aus der ehemaligen DDR und dem Sudan, sehr gute Dokumentationen, gekonntes Understatement, gekonnte Übertreibung und Einblicke in eine Geschichte, die noch lange nicht vergangen ist.

If I Had Legs I’d Kick You
(Mary Bronstein)

Das Kind mag nicht essen. Das Kind will einen Hamster haben. Der Ehemann erwartet Rapport für alle erzieherischen Maßnahmen in seiner Abwesenheit. Und das Dach ist auch gerade eingekracht. Linda (Rose Byrne) jongliert zwischen den Bedürfnissen ihres Makro- und Mikrokosmos, zwischen Familie, Haus und Beruf, Kinderärzt*innen und Selbsthilfegruppen, die letztlich doch nur mehr abverlangen, als sie unterstützen. Der Film lässt dem Publikum dabei so wenig Luft zum Atmen wie seiner Protagonistin. Ultra-dicht dran ist die Kamera, nie lässt sie die Mutter aus den Augen. Eine Groteske, die in ihren gewollt überzogensten, überirdischen Momenten dem Gefühl eines Nervenzusammenbruchs wahrhaftig nah kommt. Nur Comedian Conan O’Brien und Hip-Hopper A$AP Rocky vermögen mit ihren Gastauftritten vielleicht noch so etwas wie den letzten Rest Vertrauen ins Aufrechterhalten der kosmischen Ordnung zu verleihen.

Rose Byrne: If I Had Legs I’d Kick You von Mary Bronstein
© Logan White / © A24
Restitucija, ili, San i java stare garde | Eighty Plus von Želimir Žilnik
© Playground produkcija
Restitucija, ili, San i java stare garde | Eighty Plus von Želimir Žilnik
© Playground produkcija

Restitucija, ili, San i java stare garde
(Želimir Žilnik)

Ein älterer Herr (Milan Kovačević) sucht in einem Wiener Plattenladen nach Aufnahmen seiner ehemaligen Band, den „Montenegro Five“, mit denen er in den 1960er-Jahren in Deutschland, Belgien und Österreich jugoslawische Beatmusik gespielt hatte. Plötzlich klingelt das Telefon, ein Anruf aus Novi Sad: der serbische Staat möchte ihm das im 2. Weltkrieg enteignete Familiengut restituieren. Das Telefonat schickt Stevan Arsin auf einen Roadtrip quer durch die alte Heimat, wo er auf alte Weggefährt*innen trifft, und die eigene Lebensgeschichte resümiert, während er munter Pläne für die Zukunft schmiedet. Regisseur Želimir Žilnik gilt als einer der bekanntesten Vertreter des jugoslawischen Films der 1960er- und 1970er-Jahre und lebte zeitweise auch in Deutschland, wo er Filme über sogenannte Gastarbeiter drehte. In diesem Film nun verknüpft er ganz beiläufig die düstere, komplexe Geschichte des europäischen 20. Jahrhunderts mit der Erzählung eines humanistischen Roadmovies, dessen charmanten Laiendarsteller*innen – etliche über 80 – man gerne noch länger zugeschaut hätte.

Restitucija, ili, San i java stare garde | Eighty Plus von Želimir Žilnik
© Playground produkcija

Honey Bunch
(Madeleine Sims-Fewer & Dusty Mancinelli)

Eine einsame Autofahrt durch die kanadische Landschaft, die Wälder werden immer dunkler. Irgendwann kommen Diana (Grace Glowicki) und ihr Ehemann Homer (Ben Petrie) am Zielort an, einer abgeschiedenen Traumaklinik. Diana leidet nach einem Unfall unter Gedächtnisverlust samt Schmerzen, und die innovativen Behandlungsmethoden vor Ort scheinen die letzte Chance, ihre Gesundheit wiederherzustellen. Doch je weiter die Therapie voranschreitet, desto mehr verdrängte Erinnerungen suchen Diana heim, während ihr das Verhalten ihres Ehemannes immer konspirativer erscheint. Geschult am Genrekino des 1970er-Jahre-Horrorfilms entspinnt das Regie-Duo ein Psychogramm einer romantischen Paarbeziehung, das stets falsche Fährten legt. Dessen an Obsession grenzender, exklusiver Liebesanspruch wird dabei konsequent mit allem verhandelt, was ihn so beispiellos macht: voller Anmaßung und Egomanie, Güte und Nachsicht, in all seiner Erhabenheit wie Erbärmlichkeit, voller Paradoxie, die das Beste und Schlimmste der Menschheit in sich tragen.

Honey Bunch von Madeleine Sims-Fewer & Dusty Mancinelli
© Cat People, 2025
Honey Bunch von Madeleine Sims-Fewer & Dusty Mancinelli
© Cat People, 2025
Honey Bunch von Madeleine Sims-Fewer & Dusty Mancinelli
© Cat People, 2025

Mit der Faust in die Welt schlagen
(Constanze Klaue)

Ausgehend vom gleichnamigen Roman Lukas Rietzschels inszeniert Regisseurin Constanze Klaue eine genuin ostdeutsche Erzählung neuerer Zeit, die sowohl persönliche Versatzstücke des Autors als auch der Filmemacherin selbst verarbeitet. Irgendwo in der Oberlausitzer Provinz verleben die beiden Brüder Philipp (Anton Franke) und Tobias (Camille Moltzen) Anfang der 2000er-Jahre eine von Langeweile, Tristesse und Vernachlässigung geprägte Adoleszenz. Die Mutter arbeitet im Schichtdienst, der Vater versucht, – jeden Tag erneut scheiternd – eigenhändig den neuen Hausbau fertigzustellen, während er auf den polnischen Elektriker flucht, der alles besser, billiger und schneller fertigbekommt als er selbst. Konsequent aus der Sicht seiner jungen Charaktere spürt Klaue einer vor allem durch die (männliche) Erwachsenenwelt stark empfundenen Abgehängtheit nach. Der Alltag der Kinder oszilliert derweil zwischen sorglosen Stunden in den Weiten der unberührten Landschaften und einem von Hass und Verachtung durchzogenen Schulalltag, in dem am Ende nur die Flucht nach vorne bleibt.

Anton Franke: Mit der Faust in die Welt schlagen | Punching the World von Constanze Klaue; DEU 2025, Perspectives
© Flare Film / Chromosom Film

Hysteria
(Mehmet Akif Büyükatalay)

Ein Regisseur (Serkan Kaya) dreht einen Film über den rassistischen Brandanschlag in Solingen, bei dem er am Filmset ein nachgestelltes Haus in Flammen aufgehen lässt. Mit dem auf Authentizität getrimmten Set verbrennt auch ein Koran, der sich dort als Requisite befand. Das führt bald zu Unmut bei einigen Komparsen, die der Regisseur in einer Flüchtlingsunterkunft kennengelernt und für seinen Film eingestellt hatte. Als doppelbödigen Film-im-Film-Thriller inszeniert Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay seinen zweiten Langspielfilm. Der Vielfalt der hier thematisierten gesellschaftlichen Minenfelder – Kunstfreiheit vs. Toleranz gegenüber religiösen Gefühlen, postmigrantische vs. migrantische Lebensrealitäten, Identität vs. Differenz – lässt sich hier offenbar nur noch in einer Art existenzieller Gegenhysterie auflösen.

Devrim Lingnau; Hysteria von Mehmet Akif Büyükatalay
© filmfaust

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes
(Edgar Reitz)

Anfang des 18. Jahrhunderts plagt die preußische Königin Sophie Charlotte (Antonia Bill) Heimweh. Insbesondere ihren Mentor, den Philosophen Gottfried Willhelm Leibniz (Edgar Selge), vermisst sie im freudlosen Preußen und wünscht sich sehnlichst eine Porträtmalerei des Universalgelehrten, um zumindest einen Hauch Weltgeist in ihren Wohnsitz, Schloss Lietzenburg, zu bringen. Leibniz willigt ein, jedoch wirft der beauftragte Hofmaler (Lars Eidinger) rasch genervt das Handtuch, hat er doch kein Interesse an den philosophischen Debatten, die der Porträtierte mit ihm führen will. Erst mit der niederländischen Malerin Aaltje van der Meer (Aenne Schwarz) entspinnt sich ein anregender Diskurs über die Wahrhaftigkeitsmöglichkeit von Kunst, die den Philosophen herausfordert. Ungeahnt kurzweilig inszeniert Edgar Reitz den geistigen Austausch zwischen Malerin und Universalgelehrten – ein philosophisches Kammerspiel, das sich ganz auf das gesprochene Wort als Träger ganzer Welten verlässt.

Edgar Selge, Aenne Schwarz: Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes | Leibniz – Chronicle of a Lost Painting von Edgar Reitz; DEU 2025, Berlinale Special
© Ella Knorz

Geu jayeoni nege mworago hani
(Hong Sang-soo)

Mittlerweile ist keine Berlinale ohne einen neuen Hong Sang-soo Film eine echte Berlinale. Bereits zum achten Mal präsentiert der südkoreanische Workaholic, der mit geringem Budget mindestens einen Film pro Jahr dreht, dort sein neuestes Werk. „What Does that Nature Say to You“, so der englische Titel seines diesjährigen Wettbewerbsbeitrags, erzählt lakonisch den nicht geplanten Besuch des Schwiegersohns-in-spe bei der Familie seiner Freundin. Vollkommen unbeeindruckt vom derzeitigen Weltgeist samt seiner narrativen Erzähltrends spinnt der „Meister der Variation im Seriellen“ – wie der Filmkritiker Ekkehard Knörer den Regisseur einst treffend nannte – sein erzählerisches Universum aus alltäglichen Banalitäten mit all seinen magisch-blödsinnigen Situationen weiter. Ein Meisterwerk des heutzutage kaum noch praktizierten Understatements.

Ha Seongguk, Kwon Haehyo; Geu jayeoni nege mworago hani | What Does that Nature Say to You von Hong Sang-soo
© Jeonwonsa Film Co.
Ha Seongguk, Kwon Haehyo; Geu jayeoni nege mworago hani | What Does that Nature Say to You von Hong Sang-soo
© Jeonwonsa Film Co.
Ha Seongguk, Kwon Haehyo; Geu jayeoni nege mworago hani | What Does that Nature Say to You von Hong Sang-soo
© Jeonwonsa Film Co.

Bonus: Der Disruption nachspüren

Erstaunlich dicht dran an der Gegenwartsanalyse waren viele Filme in diesem Jahr, die ja naturgemäß oft lange vor ihrer Ausstrahlung gedreht werden. Auch und vielleicht gerade die lustigen Titel: In dem kammerspielartigen „Blue Moon“ von Richard Linklater war es ein einziger Abend, in dem der alternde Broadway-Autor Lorenz Hart stellvertretend fürs Heute und das Lebensgefühl einer ausklingenden Epoche verkörperte. Und wenn es nur die des eigenen Alterns ist. Die Essayfilme „Evidence“ (Lee Anne Schmitt) oder „little boy“ (James Benning) spürten wiederum aus ganz subjektiver Perspektive den Vorboten einer Disruption in den USA nach, während der gut fünfstündige Film „My undesirable friends“ (Julia Loktev) unabhängige Journalist*innen in Russland und bald darauf im Exil begleitet.

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