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RASTLOS IN ROTTERDAM

06.08.2012

5 min Lesezeit

Kurator*in:
Matthias Ulrich
Warum SCHIRN-Kurator Matthias Ulrich beim Besuch der Kunstmesse Rotterdam fast schwindelig wurde und was das mit Madonnen, Mänteln und Husni Mubarak zu tun hat.

Rotterdam – Die junge, kreative Stadt hat sich mir vor allem durch eine überwältigende Dichte an Friseurgeschäften offenbart, deren Auswirkungen auf das Kopfbild dank des trüben, regnerischen Wetters statistisch leider nicht zu verifizieren war. Eventuell hatte die Friseurdichte auch nur mit meinem eingeschränkten Bewegungsfeld zu tun, das sich zwischen der Witte de Withstraat und dem Bahnhof dreieckig unter meinen flanierenden Schritten abzeichnete.

Das Hotel Bazar ist – wenn die schnelle Sichtung von Kunst und ein kurzer Aufenthalt die vorherrschenden Parameter sind und die nächtliche Erholungsqualität offenbar mit dem Übernachtungspreis korreliert – in dieser Hinsicht mehr als empfehlenswert. Sein orientalischer Raumausstatter konnte mich ausnahmsweise mit bunten Laternen und getürkten Perserteppichen nicht provozieren, war doch gerade die Nachricht vom Rücktritt Mubaraks an die Öffentlichkeit gedrungen.

Der erste Weg führte mich in eine Ausstellung im Witte de With, Center for Contemporary Art, in dem seit 2006 Frankfurts einstiger Kunstvereinsmatador Nicolaus Schafhausen regiert. Ich musste weder lange suchen, noch wurde ich auf dem Weg durch die über zwei Etagen verteilte Themenausstellung „Making is Thinking“ erwähnenswert aufgehalten, um den „Turmbau zu Babel“ von Peter Brueghel zu finden – in sechs verschiedenen Ausführungen und von seiner schönsten Seite, der Rückseite. Hans Schabus hat diese kleinbürgerliche Sehschule als 1500- bis 5000 Teile- Puzzles in langen, kalten Wiener Wintertagen reanimiert und der ewigen Wiederkehr des Gleichen einen gekonnten Streich gespielt.

Die Kunsthal Rotterdam, durch einen noch nicht ganz fertig gestellten Pfad seitlich des Boijmans Museums zu Fuß zu erreichen, stellt meine durch SCHIRN-Praxis gefestigte Erfahrung, Kunst-Inszenierungen im Sinne ihrer historischen und ontologischen Kontextualisierung zu präsentieren, auf eine harte Probe. Aus der in der Kunsthal wie hingeworfen wirkenden Edvard Munch-Retrospektive, die so gar nicht in den verspielten Koolhaas-Kontainer passt, werde ich nicht schlau; immerhin sorgen die Madonna-Darstellungen und Lou Salomé-haften Frauen für reizvolle Momente und wecken Erinnerungen an die „Jugend von Heute“-Ausstellung, in der sich eine ganze Dark Wave-Fraktion um Künstlerinnen wie Sue de Beer und Iris van Dongen bei Munch anscheinend hat inspirieren lassen.

Drei weitere Ausstellungen finden sich im Haus: eine exotistisch-verstörende, kaum 30-teilige Fotografie-Serie des jungen belgischen Künstlers Gaël Turine zum Thema Voodoo und eine Ausstellung des holländischen Malers und Grafikers Willem Anthonie Oepts (1904-1988) auf einer Ebene. Dazu kommt, Treppe runter und unter dem ehrwürdigen Porträt des Rotterdamer Architektenstars Koolhaas hindurch, eine anlässlich der gerade stattfindenden Kunstmesse gezeigte Präsentation von sechs groß auf die Wand geklebten Fotos des Künstlers Dolph Kessler.

Hat man diese durchschritten, kommt man also in die „I Promise to Love You“ betitelte Ausstellung mit einer „assoziativen und überraschend installierten“ Werksauswahl aus der niederländischen Privatsammlung Van Caldenborgh, besser bekannt als The Caldic Collection. Hier erlangen die en passant gesehenen Fotos von Kunstmesseständen einen geradezu einführenden Charakter zu wenig überraschenden Arbeiten von Robin Rhode oder Damien Hirst, von Antony Gormley oder Bernhard Frize, von Francis Alys oder Bridget Riley – allesamt Ankäufe der letzten zehn Jahre, flankiert von mir zum Teil völlig unbekannten, niederländischen Künstlern wie Elspeth Diederix, Daan van Golden, Carla Klein usw.

Anschließend treffe ich mich mit Lester Gabriel im Boijmans van Beuningen Museum, wo abends seine Ausstellung „Suspension of Disbelief“ eröffnet wird. Ein eindrucksvolles Konglomerat aus älteren wie neuen Arbeiten besetzt ein im Erdgeschoss befindliches Areal. In relativer Dunkelheit geht eine gewisse Spannung und Unheimlichkeit von den ausnahmslos weiß gehaltenen Objekten aus. Diese erscheinen mal wie aus Holzklötzen zusammengeleimte, asymmetrische Kuben, mal als Sockeln, auf denen ein Diamant thront oder in die Palmen eingelassen sind. Sie alle werden von Rollen getragen, die sie wie bewegliche Darsteller im Raum erscheinen lassen.

Im vorderen Bereich der Ausstellung überwiegt eine Licht- und Soundinstallation, die ohne Bild eine cinematografische Illusion erzeugt, indem sie Bewegungen durch in die Decke eingelassene LED-Strahler simuliert. Im hinteren Bereich dominiert dann ein tatsächlicher Film, ein neues Werk namens „The Big One“, in dem alle Elemente der beweglichen Darsteller in ähnlicher Form wieder auftauchen. Im Film selbst geht es um eine als Gameshow im Planetarium Amsterdam inszenierte Lotterieziehung und um die Jagd nach dem großen Gewinn: Mal zirkuliert ein Stein wie ein Talisman durch die Reihen der aufgeregten Spieler, zwei Zirkusakrobaten verbiegen sich, dann dreht sich das kreisrunde Dach über den Köpfen und endlos verschwindende Kolonnen von Zahlen und Buchstaben setzen sich immer schneller in Bewegung.

Momente der Faszination, des Spielrauschs und der Begeisterung rufen eine unbegreifliche Glückseligkeit hervor, so dass mir selbst schwindelig wurde und ich die Spannung kaum aushielt. Wenn man einen Film trotz seiner erheblichen Unwahrscheinlichkeiten als wahr empfindet, spricht man von „(Willing) Suspension of Disbelief“ oder der willentlichen Aussetzung des Unglaubens.

Das zahlreiche Eröffnungspublikum vor Ort hatte jedenfalls große Freude bei der Verstauung ihrer Mäntel. Partizipation war Grundvoraussetzung, um an einer Seite ein Seil zu lösen, welches einen Meter entfernt einen Kleiderbügel auf Menschenhöhe hinabschweben ließ, um anschließend wieder auf vier Meter Höhe fixiert zu werden.