Michelle ConcepciĂłn ist Perfektionistin. Zumindest, wenn es um ihre Arbeit geht. In ihrem Atelier in den Offenbacher Zollamt Studios stecken Pinsel ordentlich in GlĂ€sern. Spritzen, Pinzetten und Zahnarzt-Werkzeuge sind akkurat in KĂ€sten, ihre GemĂ€lde in beschrifteten Kartons im Regal verstaut. Ein paar ihrer aktuellen Arbeiten hĂ€ngen an den WĂ€nden: Acrylmalereien, die an Abbildungen von Mikroorganismen erinnern. âIch war schon immer fasziniert von organischen Formen, ihrer Schönheit und Magieâ, sagt sie. Ihre Bilder scheinen zellulĂ€re BauplĂ€ne des Lebens zu zeigen, vergröĂert unter einem Mikroskop â oder unendlich verkleinert.
Michelle ConcepciĂłn gehört zu den Kreativen, die in einem der 52 RĂ€ume der Zollamt Studios eine neue Heimat gefunden haben. Vor etwas mehr als einem Jahr eröffnete das KĂŒnstlerhaus in der Offenbacher Innenstadt in einem ehemaligen 50er-Jahre-Verwaltungsbau, der jahrelang leer stand. Die GemeinnĂŒtzige Baugesellschaft Offenbach hat das Projekt gemeinsam mit der Stadt ins Leben gerufen, um KĂŒnstlern und Kreativen bezahlbare Atelier- und BĂŒrorĂ€ume zur VerfĂŒgung zu stellen. Im Beirat sitzen unter anderem der HfG-Professor Heiner Blum, die KĂŒnstlerin Anny ĂztĂŒrk, die gemeinsam mit ihrer Schwester Sibel auch ein Atelier in den Zollamt Studios hat und Loimi Brautmann, der hier seine Kommunikationsagentur Urban Media Project betreibt. Aus ĂŒber 80 Bewerbungen wĂ€hlte der Beirat die heutigen Mieter aus. âWir wollten ein Gleichgewicht zwischen den Disziplinen Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Bewegtbild und Sound herstellen â wir haben allein acht Techno- und Elektro-Produzenten hier, die das Institut fĂŒr Klangforschung bilden. Ein weiterer Schwerpunkt ist das InterdisziplinĂ€reâ, erzĂ€hlt Loimi Brautmann.
Im ersten Jahr ist bereits viel passiert. Spricht man mit den KĂŒnstlern, Designern, Musikern, DJs, Filmemachern und Theaterschaffenden, fĂ€llt immer wieder das Wort âSynergienâ. Nun wollen sich die Mieter der Zollamt Studios an zwei âOpen Houseâ-Tagen der Ăffentlichkeit prĂ€sentieren: Studios, BĂŒros und Ateliers stehen offen. AuĂerdem finden FĂŒhrungen und ein Konzert statt. In der Galerie im Erdgeschoss wird die âInside Zollamtâ-Ausstellung gezeigt, die Max Pauer von der Frankfurter Galerie 1822 kuratiert. âMein Ziel ist es, die Vielfalt des Hauses in der Schau abzubildenâ, sagt Pauer. Deshalb gibt es neben GemĂ€lden von Michelle ConcepciĂłn auch Installationen von Rosa Schmieg und Lukas SĂŒnder sowie animierte Musikvideos des Filmemacher-Kollektivs âDie Faustâ zu sehen â und den Dauerliveauftritt des Musikers Stefan Harth zu hören. David Schiesser, der an der HfG Kunst studiert und in den Zollamt Studios ein etwas anderes Tattoo Studio betreibt, prĂ€sentiert seine Durchpausvorlagen von Tattoo-Zeichnungen.
Ebenfalls mit einer Arbeit vertreten ist Karl H. Thiel, einer der Ă€ltesten Mieter in den Zollamt Studios. Er machte sein Diplom an der HfG bereits 1978 und arbeitet seitdem als freischaffender KĂŒnstler. Eines Tages fuhr er mit der Bahn von Frankfurt nach Berlin, hatte ein Heft mit 128 leeren BlĂ€ttern dabei und kam auf eine Idee: Im Vier-Minuten-Takt zeichnete er die EindrĂŒcke der vorbeiziehenden Landschaft in das Buch. So fĂŒllte er die HĂ€lfte des Heftes. Auf der RĂŒckfahrt drehte er das Buch herum und arbeitete von der anderen Seite bis zur Mitte. Das macht er seitdem zwei- bis viermal im Jahr, immer wenn er nach Marseille, Berlin, Leipzig oder Paris reist. Jedes Blatt wird mit der Uhrzeit versehen, wenn bekannt, notiert er auch den Ort. Die Mitreisenden schauen manchmal etwas irritiert, âaber wenn sie merken: der tut uns nichts, dann lassen sie mich in Ruheâ, erzĂ€hlt Thiel. Die Bleistiftzeichnungen scheinen manchmal abstrakt, manchmal erkennt man DĂ€cher, Felder oder Bahnhöfe. âIch zeichne eine Linie und die anderen kommen einfach dazu. Das ist wie Free Jazzâ, sagt er. In der âInside Zollamtâ-Ausstellung zeigt er Bilder seiner Fahrt nach Leipzig â erstmals nicht im Buch, sondern auf einzelnen BlĂ€ttern, an Drahtleisten aufhĂ€ngt, die an Bahngleise erinnern.
Wer nach der Ausstellung und dem Besuch der offenen Ateliers noch Zeit hat, sollte im Innenhof die Stufen zum Heizungskeller hinab steigen. Hinter mĂ€chtigen Rohren, die bullige WĂ€rme ausstrahlen, verbirgt sich nĂ€mlich die Fahrradwerkstatt von Jean-Claude Mawila. Eine eigene Welt. Etwas chaotisch und garantiert spannend. Zwischen Fahrradrahmen, FahrradschlĂ€uchen und unendlich viel Werkzeug, fĂ€llt der Blick auf Bildschirme, auf denen Videospiele aus den 80er-Jahren flimmern. Eine Trompete steckt irgendwo in dem Sammelsurium, ein Keyboard steht auf dem Perserteppich, in Regalen tĂŒrmen sich Rollschuhe. âBis zu den Open House-Tagen rĂ€ume ich noch aufâ, sagt Jean-Claude und lacht. Er ist eigentlich Schauspieler, studierte an der UniversitĂ€t der KĂŒnste in Berlin und stand danach auf verschiedenen BĂŒhnen. Lange hatte er ein festes Engagement am Schauspiel Bonn. Er spielte auch in einigen Filmen mit und macht interdisziplinĂ€re Performances. Die Fahrradwerkstatt ist sein zweites Standbein. Interessen hat er viele: Musik, Schauspiel, Kunst. Auch er spricht, wie alle Mieter in den Zollamt Studios, von den Synergien, die hier entstehen. Und wie zum Beweis schraubt er einen Fahrradrahmen in einen StĂ€nder, steckt eine Lenker-Gabel daran fest und sagt: âSchau mal: Picassos StierschĂ€del!â