Non-Human Living Sculptures im Werk von Hans Haacke und Pierre Huyghe

22.11.2024

9 min Lesezeit

Autor*in:
Ursula Ströbele
Hans Haacke

Bereits in seinem Frühwerk integrierte Hans Haacke Tiere und Pflanzen als Ko-Akteure in seine Kunst. Damit legte er nicht nur den Grundstein für die Neudefinition der Skulptur, sondern stellte auch die Weichen für eine zeitgenössische Kunstpraxis wie sie etwa von Pierre Huyghe vertreten wird.

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1965 entwarf Hans Haacke mit den ZERO-Künst­lern Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker am nieder­län­di­schen Pier von Sche­ve­nin­gen ein skulp­tu­ra­les Frei­raum-Ensem­ble aus Tonnen mit Feuer auf Flößen, Bojen als mobile Skulp­tu­ren, Flaschen­post mit ZERO-Botschaf­ten, Silber­fo­lie auf dem Wasser und Rauch­ob­jek­ten. Haacke plante, über einer schwim­men­den Futter­stelle Möwen zu versam­meln, deren Flug­for­ma­tio­nen und ‘Masse‘ er als ‘Möwen­plas­tik‘ begriff. Insbe­son­dere in seinem Früh­werk (ca. 1965–72) setzte er Tiere und Pflan­zen als Ko-Akteure für seine plas­ti­schen Konzep­tio­nen ein und nannte sie humor­voll seine „Fran­zis­ka­ni­schen Arbei­ten“. Der namens­spen­dende Heilige gilt als Tier­freund und Ökologe. Damit zählt die ‘flie­gende Skulp­tur‘ zu den frühen Werken, die mit leben­di­gem ‘Mate­rial‘ eine skulp­tu­rale Ästhe­tik des Leben­di­gen, d.h. soge­nannte „Non-Human Living Sculp­tu­res“, etablier­ten.

In der Abkehr von einer klas­si­schen Objek­täs­the­tik verlan­gen diese nach einer Neude­fi­ni­tion des Medi­ums Skulp­tur zuguns­ten einer „Skulp­tur als real-zeit­li­chem System“. So entfal­tet sich die Skulp­tur erst vor den Augen des Publi­kums, ist nicht mehr statisch, sondern reagiert prozess­ba­siert auf ihre Umge­bung. Ein Beispiel dafür ist „Goat Feeding in Woods“: Für die 1970 reali­sierte Arbeit konfron­tierte Haacke in der südfran­zö­si­schen Fonda­tion Maeght eine Ziege mit einer neuen Umge­bung und Nahrung. Zu diesem real-zeit­li­chen und „biolo­gi­schen System“ gehö­ren die Wahl des Waldare­als, Tempe­ra­tur, Witte­rung, Arten­viel­falt und Nahrungs­vor­lie­ben des Tieres, dessen Orga­nis­mus und Meta­bo­lis­mus hier als eigene komplexe Systeme zum Thema werden. Die Aktion fungiert auch als insti­tu­ti­ons­kri­ti­scher Verweis: In unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft des herr­schaft­li­chen Muse­ums­parks mit Skulp­tu­ren bekann­ter Bild­hauer wie Joan Miró und Alberto Giaco­metti ließ der junge Haacke diese „lebende Skulp­tur“ fres­send-model­lie­rend agie­ren.

Hans Haacke, Life Airborne System, 30.11.1968, geplant 1965, realisiert 1968
Hans Haacke, hg. von Walter Grasskamp, London & New York 2004, hier S. 101, © Hans Haacke/ VG Bild-Kunst; Image via burg-halle.de

Die Grenzen zwischen Natur und Kultur

Mit der domes­ti­zier­ten und isolier­ten Ziege vertei­digte er die Frei­heit der Kunst gegen­über einer nur vorder­grün­dig gemein­nüt­zi­gen Stif­tung, die von dem Gale­ris­ten Aimé Maeght gegrün­det wurde. Mehr noch, Haacke kriti­sierte die Rolle von Künst­ler*innen als „Nutz­tiere“ inner­halb insti­tu­tio­nel­ler Gefüge und des mäch­ti­gen Kunst­markt­sys­tems. Gleich­zei­tig entließ er während der Eröff­nung zehn, in einer Tier­hand­lung gekaufte, Schild­krö­ten in die Frei­heit und entwarf in diesen Jahren auch mehrere künst­li­che Mikro­kli­mata mit Wasser Regen, Schnee, Eis und Wasser­dampf – eine insti­tu­ti­ons­kri­ti­sche „Demons­tra­tion“, mittels Kunst ein eige­nes, unab­hän­gi­ges Klima zu erzeu­gen. Seine „Fran­zis­ka­ni­sche Serie“ hinter­fragt demnach nicht nur die Gren­zen eines Werks in Bezug auf seine Umwelt, sondern auch die Gren­zen zwischen Kultur und Natur, weshalb sie signi­fi­kant für die gegen­wär­tige Kunst­pra­xis ist.

Hans Haacke, Goat Feeding in Woods, 1970
© Hans Haacke / VG Bild-Kunst, Bonn 2019; image via zikg.eu
Hans Haacke, Ten turtles set free, 1970
Image via flickr.com

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Pierre Huyg­hes‘ inzwi­schen ikoni­sche Arbeit „Until­led“, die er für die docu­menta 13 (2012) konzi­pierte, ist hier­für exem­pla­risch. Sein begeh­ba­res Biotop in der Kasse­ler Karl­saue stellt die Dicho­to­mie von Natur versus Kultur in Frage. Doch Huyghe wählte dafür nicht den Weg der „Zähmung“ von Natur, wie sie etwa in baro­cken Garten­an­la­gen vorzu­fin­den ist, statt­des­sen favo­ri­sierte er einen „Nicht-Ort“ – die Kompos­tier­an­lage am Rand des Parks. Der Titel verdeut­licht dies: Unkul­ti­viert, Unbe­stellt. Doch liegt hierin ein konzep­tu­ell veran­ker­tes Para­do­xon: Denn es handelt sich nicht – auch wenn dies durch­aus sugge­riert wird – um ein „terrain vague“, also einem verlas­se­nen Zwischen­raum in urba­nem Gefilde. Statt­des­sen wurde das Gelände von Huyghe detail­liert geplant und kompo­niert.

Pierre Huyghe, Untilled, 2011–12 Living entities and inanimate things, made and not made Photo
© Pierre Huyghe; Image via estherschipper.com

Minutiös geplant und schwer zu kontrollieren

Das hüge­lige Areal glie­derte er mithilfe von aufge­schüt­te­ten Sand­hau­fen, Humus, Asphalt­frag­men­ten, würfel­för­mi­gen Pflas­ter­stei­nen und zu Stapeln geschich­te­ten Boden­plat­ten. Außer­dem bepflanzte er es mit hallu­zi­no­ge­nen und aphro­di­sie­ren­den Gewäch­sen. In einem mit Wasser gefüll­ten Beton­be­cken lebten Kaul­quap­pen, die zu Fröschen heran­wuch­sen. Soge­nannte Marker „of history, and markers that I am marked, affec­ted and influ­en­ced by“ (Huyghe) waren über­all verteilt: ein toter Baum als Remi­nis­zenz an Robert Smith­sons „Dead Tree“ (1969), eine umge­kippte Beton­bank mit pink­far­be­ner Sitz­flä­che von Domi­ni­que Gonza­lez-Foers­ters „A plan for Escape“ aus der Docu­menta 11 (2002), eine entwur­zelte Eiche mit Basalt­stein von Joseph Beuys´ „7000 Eichen – Stadt­ver­wal­dung statt Stadt­ver­wal­tung“ aus der Docu­menta 7 (1982) und die Replik eines Frau­en­ak­tes von Max Weber aus den 1930er-Jahren, dessen Kopf von Bienen­wa­ben verhüllt war. Human, die weiße Podenco-Hündin mit magen­ta­far­be­nem Bein, und ein braun-weißer Welpe mit gleich­far­bi­ger Pfote durch­streif­ten das Gelände in Beglei­tung eines Hunde­hü­ters.

Den neugie­rig auf der Suche nach dem Kunst­werk umher­schrei­ten­den Besu­cher*innen zeigte der Künst­ler Natur in verschie­de­nen Stadien des Werdens und Verfal­lens, sodass man geneigt war, zu fragen, was schon vorher da gewe­sen war bezie­hungs­weise wo genau Huyghe einge­grif­fen hatte. Eini­ges würde ohne den Künst­ler ähnlich vor sich gehen: Amei­sen vertei­len Samen, verwer­ten Pflan­zen­reste und Kada­ver; Kompost­ab­fälle verrot­ten zu Humus, zersetzt von Käfern und Würmern; Bienen bestäu­ben Blüten. Während der 100-tägi­gen Lauf­zeit verän­derte sich die Vege­ta­tion; tier­li­che Prot­ago­nis­ten kamen dazu, andere verlie­ßen das unge­zäunte Areal. „Until­led“ stellt demnach eine „skulp­tu­rale Situa­tion“ dar, für deren Setting der Künst­ler zwar die Voraus­set­zun­gen erzeugte, doch den Akteu­ren anschlie­ßend weitest­ge­hend ihren Hand­lungs­raum über­ließ. Skulp­tur avan­ciert also wie schon bei Haacke zu einer Situa­tion, indem sie im Bezie­hungs­ge­füge hete­ro­ge­ner Objekte und Akteure entsteht.

Pierre Huyghe, Untilled2011–12 Living entities and inanimate things, made and not made Photo
© Pierre Huyghe; Image via estherschipper.com

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Die Gegen­über­stel­lung von Hans Haacke und Pierre Huyghe eröff­net neue Perspek­ti­ven auf das Medium Skulp­tur: Beide Künst­ler stel­len die tradi­ti­ons­rei­che Objek­täs­the­tik zuguns­ten von Offen­heit, Prozes­sua­li­tät und Rela­tio­na­li­tät in Frage, indem sie mit unter­schied­lichs­ten Akteu­ren bezie­hungs­rei­che Geflechte kreieren. Während Haackes Systeme jedoch offen­ge­legt sind und sicht­bar nach­voll­zo­gen werden sollen, blei­ben bei Huyghe die Zusam­men­hänge größ­ten­teils verbor­gen. Trotz aller Dyna­mik konzi­pie­ren beide Prot­ago­nis­ten ein ‚Bild‘ im Vorhin­ein, das im Laufe der Ausstel­lung bei Huyghe unge­ach­tet der sugge­rier­ten Offen­heit einer Modi­fi­zie­rung und konti­nu­ier­li­chen Pflege unter­lag. Beide Künst­ler simu­lie­ren und domes­ti­zie­ren Natur; sie stel­len mit ihren „non-human living sculp­tu­res“ eine vom Menschen erzeugte Natur aus, d.h. eine „Dritte Natur“ und tragen damit maßgeb­lich zur Erwei­te­rung des Skulp­tu­ra­len bei.

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