Gustave Courbet wird in der Regel als Gründungsvater des Realismus wahrgenommen. Doch die Ausstellung in der SCHIRN zeigt, dass Courbets Werk darin nicht aufgeht. Sicherlich, so Klaus Herding, sind Realismus und die politische Seite von Courbets Arbeiten wichtige Aspekte, die nicht ausgeklammert werden dürfen.
Jedoch hat Courbet selbst 1855 festgestellt, dass ihm diese Bezeichnung auferlegt worden sei und Jules-Antoine Castagnary, ein wichtiger Theoretiker des Realismus zu Courbets Lebzeiten, schrieb schon damals, Courbet sei nie ein Realist gewesen.
ES GIBT NICHT EINEN, SONDERN VIELE COURBETS
So wurde von den Zeitgenossen am „Begräbnis von Ornans“ (1850) eben nicht nur die Abwendung vom akademischen Ideal und die Darstellung der Figuren in ihrer Alltäglichkeit bewundert, sondern insbesondere die emotionale Seite dieses Manifest-Bildes des Realismus. Nachfolgende Künstlergenerationen haben in Courbets Gemälden besonders den collagehaften Stil und die malerische Technik bewundert. Herding behauptet dabei nicht, dass man den Begriff des Realismus gänzlich aufgeben müsse, aber man solle ihn „zeitlich gebunden sehen“. Das heißt, im Kontext der Zeit verstehen und die anderen Aspekte in Courbets Werk mitbedenken. Denn „es gibt nicht einen, sondern viele Courbets“: also nicht nur Courbet den Realisten, sondern ebenso Courbet, den Träumer und den Courbet, der die Auflösung des Gegenstands betrieb.
Gerade die letztgenannten „Courbets“ sind es, die Giorgio de Chirico veranlassten, in ihm den bedeutendsten Poeten des 19. Jahrhunderts zu sehen, und Marcel Duchamp in seinem Urteil bestärkten, Courbet sei der Vorreiter der Moderne schlechthin.
Begeisterung und Überzeugungskraft
Herding hat dies in seinem Vortrag mit so großer Begeisterung und Überzeugungskraft deutlich gemacht, dass selbst Skeptiker ins Träumen geraten mussten. Und er hat Perspektiven aufgezeigt, in die sich die Courbet-Forschung in Zukunft bewegen kann.
Für die Ausstellung wurden nicht nur ganz neue, bisher gänzlich unbekannte Gemälde Courbets ausfindig gemacht – ein „Waldweg“ und ein „Strandbild“, von denen der Waldweg ab dem 21. Dezember 2010 erstmalig in der SCHIRN gezeigt wird. Es ist auch möglich geworden, einige bereits bekannte Gemälde zum ersten Mal öffentlich zu präsentieren: beispielsweise die „Schneelandschaft“ (um 1866–1868) aus New York, die noch nie zuvor in Europa gezeigt wurde. Herding hat diese Informationen nicht einfach nur erwähnt, sondern mit jeder seiner Bildbeschreibungen gelang es ihm, die anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörer in die „Sonder- und Zauberwelten“ Courbets hineinzuversetzen.
Er zeigte Beziehungen zwischen den einzelnen Arbeiten auf, die offensichtlich sind und doch übersehen werden können: So wird beispielsweise erst durch die in der Ausstellung gewählte Zusammenschau der Wogenbilder mit der bereits erwähnten Schneelandschaft ihre Verwandtschaft und die Ähnlichkeit der Landschaft mit einer sich überschlagenden Woge deutlich.
PERSPEKTIVEN ÜBER DIE AUSSTELLUNG HINAUS
Getreu dem Titel seines Vortrags – „Perspektiven über die Ausstellung hinaus“ – entwickelte Herding auch neue Thesen zu den ausgestellten Werken. „Die Mädchen an der Seine, im Sommer“ (1856/7), sieht Herding in Beziehung zu Courbets berühmten Atelierbild, das Werner Hofmann erst kürzlich in Frankfurt erläuterte. Für den Kurator und Kunsthistoriker ist klar, dass die zwei Gemälde das Pariser Leben behandeln: Das Atelierbild setzt sich mit dem öffentlichen Leben auseinander, während das Bild der zwei jungen Pariserinnen die Frage nach der „privaten Sphäre des Glücks“ stellt, das sie in der Liebe zu suchen scheinen.
Beide Gemälde zeigen auch Courbets Ablehnung der Großstadt, nämlich indem Paris selbst nur vermittelt über die Figuren dargestellt wird. Vom Glück (der Liebe) beispielsweise träumen die zwei Damen eingebettet in die Natur und nicht vor der Pariser Kulisse.
Und schließlich zeigte Herding, wie groß der Einfluss des französischen Künstlers auf nachfolgende Künstlergenerationen bis heute ist. Sein revolutionärer Frauenakt „Der Ursprung der Welt“ zeigt fotorealistisch den Unterleib einer Frau. Duchamp nimmt in seiner ebenso berühmten Arbeit „Gegeben sei 1. Der Wasserfall, 2. Die Gaslaterne“ Bezug auf dieses Motiv. Spiegelverkehrt legt er den Akt in Gras und gibt dem Torso eine Glaslaterne in die Hand. Gleichermaßen haben Courbets gewagte Übereinanderlagerungen von Farbe Gerhard Richter zu „Abstraktes Bild, Courbet“ inspiriert. Neo Rauchs „Kalimuna“ bezieht sich in seiner disparaten Gruppendarstellung auf Courbets „Rückkehr der Bauern vom Markt“. Wie genau sich der Zusammenhang von Rauchs Gemälden zu Courbets Malerei verhält, werden Rauch und Herding im Januar in einem Expertengespräch erläutern.
Es gibt, so Herding, viele Aspekte außerhalb des Realismus, die in Zukunft erforscht werden können und sollten. Herding selbst hat derzeit ein anderes großes Forschungsprojekt vor sich. Es ist zu jedoch zu hoffen, dass er das Schreiben der Rezeptionsgeschichte Courbets und einer aktuellen Courbet-Monographie nicht nur den nachfolgenden Kunsthistorikern überlässt.
Karin Bellmann
Interview mit Max Hollein: „Träumerisch und introspektiv“
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Kontext: Courbet. Ein Traum von der Moderne
Kontext: Die Dame auf der Terrasse – Traum oder Wirklichkeit?
Eine Bilderstrecke und den Katalog zu „Courbet. Ein Traum von der Moderne“ finden Sie auf unserer Website.