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Kunstherbst in der SCHIRN: Paula Modersohn-Becker

19.09.2021

6 min Lesezeit

Mit einer umfassenden Retrospektive beleuchtet die Schirn, wie Paula Modersohn-Becker zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm.

Keine andere deutsche KĂŒnstlerin der Klassischen Moderne hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen solch legendĂ€ren Status erreicht wie Paula Modersohn-Becker (1876–1907). In ihrem kurzen Leben schuf sie ein umfassendes und facettenreiches ƒuvre, das ĂŒber 100 Jahre zur ProjektionsflĂ€che wurde und bis heute fasziniert.

Die Schirn widmet sich ab 8. Oktober 2021 dem Gesamtwerk Paula Modersohn-Beckers mit aktuellem Blick und zeigt in einer umfassenden Retrospektive, wie entschieden sie sich ĂŒber gesellschaftliche und kĂŒnstlerische Konventionen ihrer Zeit hinwegsetzte. Die Ausstellung versammelt 116 ihrer GemĂ€lde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen, darunter Hauptwerke, die heute als Ikonen der Kunstgeschichte gelten. In der nach prĂ€gnanten Serien und Bildmotiven gegliederten PrĂ€sentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre kĂŒnstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfĂ€ltigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.

Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis mit rotem BlĂŒtenkranz und Kette, 1906/07 © Landesmuseum Hannover - ARTOTHEK

Ab 1898 lebte Paula Modersohn-Becker in der KĂŒnstlerkolonie Worpswede, unterbrochen durch vier lĂ€ngere Aufenthalte in Paris. Ihr umfangreiches ƒuvre aus rund 734 GemĂ€lden und etwa 1500 Arbeiten auf Papier spiegelt die EinflĂŒsse dieser beiden gegensĂ€tzlichen Orte deutlich wider. Trotz fehlender weiblicher Vorbilder und auch wĂ€hrend ihrer Ehe mit dem Worpsweder Landschaftsmaler Otto Modersohn verfolgte sie mit großer Disziplin ihre eigenstĂ€ndige kĂŒnstlerische Entwicklung. Ihre Werke entstanden in oft einsamer Auseinandersetzung mit der Ă€lteren Kunstgeschichte und aktuellen Tendenzen der Kunst, die sie in der französischen Metropole studierte.

In großen Werkserien umkreist sie ein wiederkehrendes Repertoire von Bildmotiven: Einen besonderen Schwerpunkt stellen PortrĂ€ts und SelbstportrĂ€ts dar, weitere zentrale Werkkomplexe sind Kinderbildnisse, Darstellungen von Mutter mit Kind, BĂ€uerinnen und Bauern, Akte, Landschaften aus Worpswede und Paris sowie Stillleben. Dabei fand sie zu ĂŒberzeitlichen, allgemeingĂŒltigen Bildern und unabhĂ€ngigen Darstellungen. Ihre Arbeiten sind rigoros, bisweilen radikal anders als die ihrer Zeitgenossen. Dem hohen eigenen Anspruch der KĂŒnstlerin steht ihr zu Lebzeiten völlig ausbleibender Ă€ußerer Erfolg gegenĂŒber. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt, dabei in seiner Ambivalenz vielfach vereinnahmt.

Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesam­melt und ausge­stellt.
Ausschnitt: Paula Modersohn-Becker in ihrem Atelier bei BrĂŒnjes, um 1905, Foto: Karl Brand

Ein besonderer Fokus im Schaffen Paula Modersohn-Beckers liegt auf der Darstellung des Menschen, dem PortrĂ€t. Insbesondere ihre SelbstportrĂ€ts sind eines ihrer wichtigsten kĂŒnstlerischen Experimentierfelder. Zu sehen ist eine Auswahl dieser malerisch und stilistisch höchst unterschiedlichen Werkgruppe, die ihre gesamte Entwicklung spiegelt und als fortwĂ€hrender Akt der kĂŒnstlerischen Selbstvergewisserung diente. Bereits in den frĂŒhen Selbstbildnissen wird ihre zentrale malerische Methode sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld wird komplett ausgefĂŒllt, indem das Gesicht nah heranrĂŒckt. WĂ€hrend ihres zweiten Aufenthalts in Paris 1903 fand Modersohn-Becker in der FrontalitĂ€t römisch-Ă€gyptischer MumienportrĂ€ts im Louvre eine Form der Verallgemeinerung, die in der Verbindung von direkter NĂ€he und zeitlosen Elementen ihren kĂŒnstlerischen Bestrebungen entsprach und die sie unter anderem in „Selbstbildnis mit rotem BlĂŒtenkranz und Kette“ aufgriff. 

Mehr als die HĂ€lfte ihrer SelbstportrĂ€ts entstand 1906/07, als sie sich – getrennt von Otto Modersohn – in Paris aufhielt und ihren Weg als KĂŒnstlerin suchte. Eine Sonderrolle nimmt das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ ein, der erste bekannte Selbstakt einer KĂŒnstlerin und zum Zeitpunkt der Entstehung nicht ausstellbar. Das komplexe Werk liefert zahlreiche Anspielungen auf kunsthistorische VorlĂ€ufer und deutet diese zu einer um 1900 Ă€ußerst gewagten Selbstdarstellung um. Nackt und mit angedeuteter Schwangerschaft stellt sich Modersohn-Becker selbstbewusst und feminin dar – doppelt potent als KĂŒnstlerin und als Frau.

Paula Modersohn-Becker, Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, 1906, Museen Böttcherstraße, Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

Viele Figurenbilder von Paula Modersohn-Becker kennzeichnet eine unverwechselbare Mischung aus NĂ€he und Distanz, aus Naturalismus und Symbolhaftigkeit, mit der diese auf die Ebene des Überzeitlichen und AllgemeingĂŒltigen gehoben werden. Diese Darstellungsweise charakterisiert auch ihre einzigartigen Kinderbildnisse sowie ihre Mutter-Kind-Bilder. Mit insgesamt ĂŒber 400 Arbeiten von meist bĂ€uerlichen Kindern bilden diese im Werk Modersohn-Beckers die grĂ¶ĂŸte Gruppe.

Kinder erscheinen als autonome Individuen

Die Auswahl an Kindermotiven in der Schirn verdeutlicht, mit welch großer IntensitĂ€t sich die KĂŒnstlerin diesem im spĂ€ten 19. Jahrhundert besonders beim bĂŒrgerlichen Publikum beliebten Sujet widmete. Allerdings verzichtete Paula Modersohn-Becker vollkommen auf die damals ĂŒbliche idealisierende Darstellung. Ihre Kinder erscheinen als autonome Individuen, fremd und entrĂŒckt, in nah herangerĂŒckten Bildausschnitten, prĂ€sent und intim. In den letzten Jahren ihres Schaffens werden sie zu ĂŒberzeitlichen Sinnbildern und mit Beigaben wie FrĂŒchten und Blumen in phantastischen BildrĂ€umen zu ReprĂ€sentanten einer umfassenden Naturmystik. Diese Stilisierung erreicht in „MĂ€dchenakt mit Blumenvasen“, das geprĂ€gt ist von Paul Gauguins Tahiti-Motiven, einen Höhepunkt. 

Paula Modersohn-Becker, Sitzender MÀdchenakt mit Blumenvasen, 1906/1907 © Von der Heydt-Museum Wuppertal

In ihren Mutter-Kind-Darstellungen beschĂ€ftigte sich Modersohn-Becker mit einem Motiv, das vor ihr kaum systematisch bearbeitet wurde, und entwickelte zahlreiche Varianten. Vor dem Hintergrund der Lebensreformbewegung und der auch von der KĂŒnstlerin praktizierten Nacktkultur wird der unbekleidete Körper wie in den Selbstbildnissen zum TrĂ€ger einer pantheistischen und matriarchalen Ideenwelt, die sich mit einer ikonenhaften Statuarik verbindet. Eine Besonderheit in Modersohn-Beckers ƒuvre sind die PortrĂ€ts der Worpsweder Dorfbewohnerinnen und -bewohner, unter denen sich die KĂŒnstlerin neben Kindern und MĂŒttern hĂ€ufig betagte BĂ€uerinnen und Bauern als Modelle suchte. Sie verlieh den PortrĂ€tierten ein hohes Maß an WĂŒrde, ohne Alter, Grobheit und Armut zu verklĂ€ren. Zwischen 1903 und 1907 entstand die Serie der meist großformatigen ArmenhĂ€uslerinnen, die zu ihren monumentalen Hauptwerken zĂ€hlt.

HĂ€ufig suchte sie sich betagte BĂ€uerinnen und Bauern als Modelle

Immer wieder griff sie auf dieselben Personen zurĂŒck, insbesondere „Mutter Schröder“ wie in „Alte ArmenhĂ€uslerin“ oder „ArmenhĂ€userin“. Schwer, statisch, zeitlos und mit riesigen HĂ€nden erscheint sie wie eine Göttin aus einer fernen vorchristlichen Kultur. Die Schirn zeigt als besondere Leihgabe aus dem Detroit Institute of Arts auch das durch seinen farblich ungewöhnlichen Bildaufbau bemerkenswerte Hauptwerk „Alte BĂ€uerin mit auf der Brust gekreuzten HĂ€nden“, das fĂŒnf Jahre nach Modersohn-Beckers Tod 1912 in der ersten großen Avantgardeausstellung in Deutschland gemeinsam mit Werken von Vincent van Gogh und Paul Gauguin gezeigt wurde.

Paula Modersohn-Becker, Alte BÀuerin mit auf der Brust gekreuzten HÀnden, 1907 © Detroit Institute of Arts, Gift of Robert H. Tannahill
Paula Modersohn-Becker, Mutter mit Kind auf dem Arm, Halbakt II, 1906 © Museum Ostwall im Dortmunder U, Dortmund. Foto: JĂŒrgen Spiler, Dortmund

Mit ihren Stillleben, von denen die meisten zwischen 1905 und 1907 entstanden, wandte sich Modersohn-Becker einem bevorzugten Experimentierfeld der Avantgarde von Gustave Courbet, Odilon Redon, Paul Cézanne oder Henri Matisse zu, das in Worpswede nur vereinzelt von Heinrich Vogeler aufgegriffen wurde. Wie Cézanne wÀhlte sie ein sich wiederholendes Repertoire von GegenstÀnden. Doch unterscheiden sich ihre statisch monumentalen Kompositionen deutlich durch die dichte materielle Malweise. Als neutrale, unverfÀngliche Motive zÀhlten sie nach ihrem Tod zu den zunÀchst am hÀufigsten gesammelten und ausgestellten Werken.

Paula Modersohn-Becker, Stillleben mit Goldfischglas / Still-life with goldfish bowl, 1906, Wuppertal, Von der Heydt-Museum

Paula Modersohn-Becker

8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022

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