Was genau ist eigentlich Kunst? An dieser Frage beißen sich Künstler, Kritiker und Kunsthistoriker gleichermaßen die Zähne aus. Auch Ed Kienholz strapazierte die Grenzen der Vorstellung dessen, was und wie ein Kunstwerk zu sein hat. Er lotete die Frage mit sozialkritischen Assemblagen und opulenten Environments aus und erprobte neben der Übersteigerung auch die absolute Reduktion auf das Wesentliche eines Kunstwerks: in den 1960er-Jahren begann Kienholz eine Reihe von Werken als Concept Tableaux zu entwerfen. Den Titel des jeweiligen Projekts gravierte er in eine Bronzeplakette, in einem zugehörigen Text formulierte er das Vorhaben und veranschlagte die Kosten. Interessierte konnten sie erwerben und die Realisierung finanzieren.
Wahnsinn und Gesellschaft
Vier Concept Tableaux wurden umgesetzt, das wohl eindrücklichste ist das derzeit in der SCHIRN ausgestellte „The State Hospital“. Eine kleine Trittleiter lädt ein, durch ein winziges vergittertes Fenster in einen klaustrophobischen Kasten zu blicken. Darin liegen zwei nackte, ausgemergelte Körper in exakt der gleichen Haltung auf einem heruntergekommenen Stockbett aus Metall, das linke Handgelenk der Männer ist jeweils mit einem breiten Lederriemen an das Gestell gefesselt. Die Köpfe bestehen aus Glaskugeln, in denen kleine schwarze Plastikfische schwimmen. Eine den oberen Körper rahmende rote Neonsprechblase und eine nackte Glühbirne an der Decke erhellen die Zelle nur schwach. „The State Hospital“ verweist auf einen in karger Einsamkeit isolierten Patienten in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt – vor den Augen und dem Gewissen der Gesellschaft weggesperrt. Ein einziger Blick in diese Zelle macht den in dieser Zeit praktizierten grausamen Umgang mit psychisch Kranken erlebbar.
Zur Entstehungszeit dieses Tableaus formierte sich eine Anti-Psychiatrie-Bewegung, die sich gegen die in den Einrichtungen herrschenden unmenschlichen Zustände einsetzte. Zu den Protagonisten zählte der französische Philosoph und Soziologe Michel Foucault, der sich, neben anderen Publikationen, in seinem 1961 erschienenen Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ mit der Ausgrenzung des Wahnsinns von einer nur vordergründig vernünftigen, in der Realität jedoch zutiefst repressiven Gesellschaft auseinandersetzte. Kienholz verarbeitete mit diesem Werk aber zu allererst seine eigene Erfahrung: Nach der High School arbeitete er als Pfleger in einer solchen Psychiatrie und wurde Zeuge grausamer Methoden und zweifelhafter Therapien. Die ausweglose Lage und die lebensgroßen, vom Leiden gezeichneten Körper – Kienholz fertigte dafür Gipsabgüsse seines schwer an Krebs erkrankten Bekannten Ed Born an – machen die „Distanz zwischen dem Innen und Außen der Gesellschaft auf direkte Weise physisch erfahrbar“, beschreibt Kuratorin Martina Weinhart im Katalog zur Ausstellung treffend.
Der Reiz der puren Idee
„The State Hospital“ ist ein greifbares und erfahrbares Kunstwerk. Doch was ist mit den nie realisierten Concept Tableaux, die nur in der Vorstellungswelt des Lesers entstehen? Ist schon die „Idee“ alleine Kunst? Diese Frage beschäftigte in den ausgehenden 1960er Jahren die Konzeptkunst-Bewegung, die das methodische Vorgehen des Künstlers in den Vordergrund rückte. Ergebnis waren oft kryptische Kunstwerke, die sich beim Betrachten ohne Wissen zu dem zugrundeliegenden Konzept nur schwer erschlossen. Ed Kienholz’ Kunst ist direkt, erschließbar und thematisch greifbar. Seine Concept Tableaux thematisieren aber den Reiz der puren Idee. Auch der amerikanische Konzeptkünstler Lawrence Weiner befasste sich mit der Frage, ob Kunst ausgeführt werden müsse, um sich als Kunst zu manifestieren, oder ob die Formulierung der Idee genüge. In seinem 1968 erschienenen Buch „Statements“ entwickelt er Kunstprojekte. Hier ersetzt die Sprache das Kunstwerk „zum Anfassen“. Tatsächlich geben auch Kienholz’ Concept Tableaux eine reiche Bildwelt wieder, im Kopf des Lesers entstehen bedeutungsstarke Assemblagen und Environments. Sie enthalten die Materialien seiner Arbeiten, etwa schon vorhandene Objekte, Gipsfiguren oder ausgestopfte Tierköpfe. Und auch die Kienholz‘schen Themen, die seinerzeit Aufsehen erregten, sind in den Concept Tableaux wiederzufinden: Rassismus, Religion, Tod, sexuelle Ausbeutung der Frau – der Zündstoff der amerikanischen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre.
Grauen in wenigen Worten
Die in Kienholz’ Werk tonangebende Schockästhetik entfaltet bereits in der bloßen Beschreibung ihre Wirkung, etwa in der Ideenskizze zu „The Black Leather Chair“ von 1966. Ein schwarzer Lederstuhl soll auf einen Sockel montiert werden, umgeben von einem Kasten aus Plexiglas. Der Betrachter kann durch eine Öffnung in den Kasten greifen und den Stuhl berühren. Kienholz weist im Text bereits darauf hin, dass er das Tableaux vielleicht niemals realisieren könne. Der Stuhl befände sich nämlich nicht in seinem Besitz, sondern auf dem Dachboden im Haus einer „Negerfamilie“ in Texas. Sie wolle sich wahrscheinlich ungern von ihm trennen – denn der Bezug ist die Haut des Urgroßvaters. Wenige Worte kondensieren die grausamen Ereignisse in der Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung und verweisen auf den menschenverachtenden Umgang mit Afroamerikanern in einer geteilten Gesellschaft.
Allein das Lesen der Concept Tableaux gibt den „Blick“ auf ein vielfältiges, ideenreiches und auch politisches Werk frei, das ungemütliche Realitäten reflektiert und sich gleichzeitig mit dem Wesen von Kunst auseinandersetzt. Wie auch immer man Kunst definieren mag, fest steht: Ed Kienholz und seine Frau Nancy Reddin Kienholz schufen große Kunst, die noch heute bewegt. In der Vorstellung ebenso wie beim Betrachten der realisierten Assemblagen und Tableaux.