Wollte man eine isländische Geschichte der Kunst schreiben, so wären jene Seiten, die der Zeit von der ersten Besiedlung bis etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts vorbehalten wären, entweder kaum beschrieben oder würden nur einen Bruchteil des Gesamtwerkes ausmachen. Zwar brachten die ersten Siedler Islands die norwegische Volkskunst mit auf die Insel – und galten die Wikinger als künstlerisch begabt – doch wurden aufgrund des rauen Klimas und nur geringer Ressourcen viele Zeugnisse im Laufe der Jahrhunderte vernichtet. So setzte eine wirkliche Entwicklung, etwa der Malerei, erst in der Neuzeit ein. Und auch in anderen Bereichen entfaltete sich die isländische Kunst erst in den letzten 150 Jahren.
Daher kann, sieht man einmal von Sigurður Guðmundsson (1833-1874) ab, als erster moderner Maler Þórarinn B. Þorláksson (1867-1924) betrachtet werden, in dessen Nachfolge die isländische Malerei mit den Künstlern Ásgrímur Jónsson (1876-1958), Jón Stefánsson (1881-1962) und Jóhannes S. Kjarval (1885-1972) zunehmend an Bedeutung gewann, während für die Anfänge der isländischen Bildhauerei Einar Jónsson (1874-1954) und in Folge Ásmundur Sveinsson (1893-1982), Sigurjón Ólafsson (1908-1982) und Gerður Helgadóttir (1928-1975) stehen.
Der Einfluss europäischer Kunsströmungen
Reisen und Studienaufenthalte im zumeist europäischen Ausland zeitigten eine Einflussnahme der europäischen Kunstströmungen auf viele Künstlerinnen und Künstler Islands. So lassen sich in den frühen Bildern Jón Engilberts (1908-1972) Parallelen zum deutschen Expressionismus finden, zeigt sich der Einfluss des Kubismus in den Werken von Nína Tryggvadóttir (1913-1968) oder findet sich das Farb- und Formenspiel der Gruppe COBRA bei Svavar Guðnason (1909-1988), der zu den Mitgliedern der Gruppe gehörte.
Seit den 1960er-Jahren findet sich auch die Konzeptkunst in Island. Doch wird gerade diese Kunstrichtung, die für ihre geglätteten Formen und einfach strukturierten Gedankengänge bekannt ist, von dem zugleich internationalsten isländischen Vertreter, Sigurður Guðmundsson (Jg. 1942), vielschichtig und mit beinahe konspirativer Energie transformiert. Sein Werk umfasst dokumentierte oder undokumentierte Performances, Fotografien, Zeichnungen, Drucke, Skulpturen, Installationen und Musik-Kompositionen. Er unterwirft sich weder einem konventionellen Blick auf die Grenzen dieser Kunstform, noch lässt er sich durch Formprobleme oder andere technische Schwierigkeiten einengen.
Einen nicht unerheblichen und bis heute anhaltenden Einfluss auf die jüngere isländische Kunst hatte der Wahlschweizer und seit 1960 auch in Island lebende Dieter Roth (1930-1998). Sein Werk, das die traditionellen engen Grenzen der Kunst sprengte – war Roth doch zugleich Grafiker, Schmuck- und Möbeldesigner, Filmemacher, Maler und Bildhauer, Dichter und Musiker – findet sich noch heute in den prozesshaften Installationen vieler junger Künstler. Ebenso seine Vorliebe für Kooperationen von Künstlern verschiedener Sparten, sowie die Zusammenarbeit mit Laien.
Den Pathos persiflieren
Was seitdem vielen Künstlern und Künstlerinnen gemein ist, und sich durch alle Genres und Richtungen isländischer bildender Kunst zieht, ist das Reagieren auf jene Sichtsprache, mit der wir uns ein Bild von der Welt, von Europa, respektive von Island machen. Sie benennen den Mythos und seine Form, persiflieren das Pathos und vertrauen auf die Kraft der ihnen eigenen Bildersprache. Ihrer Kunst liegt die Erkenntnis zugrunde, dass kulturelle Differenzierung, Vielheit, Reichtum und Geschichte nicht im nostalgischen Rückgriff auf die Vergangenheit möglich sind, sondern nur durch die stete Überprüfung der uns umgebenden Sichtsprache und ihrer Zeichensysteme.
Dafür stehen Birgir Andrésson (1955-2007), der sich mit der Subjektivität von Wahrnehmung und der Schwierigkeit befasste, allgemeingültige Standards der Verständigung zu entwickeln, die über das bloße Klischee hinausgehen, Ásmundur Ásmundsson (Jg.1971), der in seinen Installationen, die jede Attraktivität vermeiden, mit schäbigen Materialien, willkürlich verwendeten Produktlabeln oder mit riesigen Zementkonstruktionen, die aussehen wie erstarrte Türme von Ejakuliertem, absichtlich die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet, Hrafnkell Sigurðsson (Jg.1963), etwa mit seinen großformatigen Farbfotografien von Müllbergen, in denen die ritualisierten Verhaltensweisen der Konsumgesellschaft sichtbar werden und zugleich neue Landschaften entstehen, die an die elementaren Felsformationen Islands erinnern.
Dazu zählen auch Haraldur Jónsson (Jg.1961), dessen fotografischer Blick sich auf die Entäußerungen und Gefühle der Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung richtet, Þorvaldur Þorsteinsson (Jg.1960), zugleich Kinderbuchautor und Dramatiker, der auf dem Gebiet der Bildenden Kunst vermeintlich hinlänglich Bekanntes analysiert und Kunst-Orte schafft, in denen die Aufmerksamkeit nicht der Kunst, sondern dem Abenteuer der gewöhnlichen Alltagswelt gilt und Heimir Björgúlfsson (Jg.1975) – Musiker und Performer im Bereich experimenteller Elektronik – der als bildender Künstler eine eigentümliche Vorliebe für Tierporträts und für an Naturkundemuseen erinnernde Installationen zeigt: Papageien, Kolibris und andere Exoten treffen dabei auf die Vogelwelt des Nordens, als ob auch die Fauna sich nicht der Globalisierung verschließen könne.
Auf der Suche nach dem Kunst-Kick
Wichtige Positionen besetzen darüber hinaus der Künstler Finnbogi Pétursson (Jg.1959), in dessen Werk sich Klang und Licht vereinen, sowie Steingrímur Eyfjörð (Jg.1954) , der bereits seit den 1970er-Jahren für seine kritischen Arbeiten und Zeichnungen von „quälender Schönheit“ bekannt ist.
Bei der jüngsten Künstlergeneration fällt vor allem die Künstlergruppe Icelandic Love Corporation mit ihren Performances, Fotografien, Filmen und Skulpturen auf. Die Gruppe war 2005 mit der Performance „Creation – Corruption – Celebration“ während der Nacht der Museen in der SCHIRN Kunsthalle zu sehen.
Auch Elín Hansdóttir (Jg.1980) sticht hervor, mit ihren vielseitigen, oftmals von Verschiebungen der Wahrnehmung geprägten Installationen, und jene Künstler, die sich der Performance-Art verschrieben haben: so zum Beispiel Magnús Árnason (Jg.1977), der sich das Unbewusste in einem Spiel zwischen Neugier und Furcht zunutze macht und dessen Welten man als Gegenentwurf zum Paradiesischen beschreiben könnte, oder Ragnar Kjartansson (Jg.1976), dessen Werke gerade im Frankfurter Kunstverein zu sehen sind, und der über seine Motivation sagt: „Für mich ist Kunst wie ein Blues: Ich benutze sie, um meine Seele zu reinigen. Vielleicht bin ich ein Romantiker auf der unersättlichen Suche nach dem ultimativen Kunst-Kick.“ Das ist es, was ihn außergewöhnlich macht: Jemand, der das Showelement liebt, der ständig in neue Rollen schlüpft, Identitäten und Wahrheiten wechselt, jedoch immer authentisch bleibt. Etwa wenn er, wie in seiner Performance „The Great Unrest“ im Rahmen des Reykjavík Arts Festival 2005 in einem, in die majestätische Landschaft Islands eingebetteten alten Theater als Ritter verkleidet wochenlang auf der Bühne sitzt, singt oder vielmehr summt oder einen wortlosen Blues schreit.