Carol Rama.
Rebellin der Moderne

11.10.2024

13 min Lesezeit

Carol Rama

Radikal, erfinderisch, modern: die SCHIRN präsentiert erstmals in Deutschland das Werk von Carol Rama in einer großen Überblicksschau.

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Carol Rama (1918–2015) gehört zu den heraus­ra­gen­den Künst­le­rin­nen der Moderne, die trotz ihres eindrucks­vol­len facet­ten­rei­chen Schaf­fens erst spät zu Ruhm gelang­ten. Die SCHIRN präsen­tiert die Turi­ner Künst­le­rin vom 11. Okto­ber 2024 bis zum 2. Februar 2025 in einer ersten umfang­rei­chen Über­blicks­aus­stel­lung in Deutsch­land mit rund 120 Arbei­ten aus allen Schaf­fens­pha­sen ihres außer­ge­wöhn­li­chen Gesamt­werks.

Sexua­li­tät, Wahn, Krank­heit, Tod – es sind die großen mensch­li­chen Themen und elemen­ta­ren Erfah­run­gen, denen Rama ihre Kunst widmete. Mit Darstel­lun­gen weib­li­cher Lust berei­tete sie in den 1930er-Jahren heuti­ger femi­nis­ti­scher Kunst den Weg. Unab­hän­gig von Schu­len und künst­le­ri­schen Grup­pie­run­gen schuf die Auto­di­dak­tin in rund 70 Jahren ein unkon­ven­tio­nel­les und zudem sehr persön­li­ches Œuvre. Ramas Schaf­fen zeich­net sich durch große Expe­ri­men­tier­freude aus und entzieht sich einfa­chen Kate­go­ri­sie­run­gen. Von ihren künst­le­ri­schen Anfän­gen in den 1930er-Jahren bis in die frühen 2000er-Jahre erfand sie sich etwa alle zehn Jahre mit unter­schied­li­chen Werk­grup­pen stetig neu und blieb sich dabei selbst gänz­lich treu. Als eine Meis­te­rin ikonok­las­ti­scher Verfah­ren ging sie formal wie inhalt­lich immer wieder an die Gren­zen von künst­le­ri­schen und gesell­schaft­li­chen Konven­tio­nen. Ihr langes Leben verbrachte Rama in Turin, wo sie in ihrer als Gesamt­kunst­werk gestal­te­ten Atelier­woh­nung im Dach­ge­schoss der Via Napione 15 lebte und arbei­tete. Bestens vernetzt, versam­melte sie einen Kreis Intel­lek­tu­el­ler und Künst­ler*innen um sich und war dennoch lange Zeit außer­halb Itali­ens eher unbe­kannt. Inter­na­tio­nale Werk­schauen und hohe Auszeich­nun­gen wie etwa 2003 den Golde­nen Löwen der Bien­nale von Vene­dig für ihr Lebens­werk erhielt sie erst in hohem Alter.

Die Ausstel­lung präsen­tiert in insge­samt acht Kapi­teln einen Über­blick über Haupt­werke und Schaf­fens­pha­sen Carol Ramas, gerahmt von foto­gra­fi­schen Aufnah­men aus ihrem bis heute erhal­ten geblie­be­nen Turi­ner Studio.

Carol Rama, Senza titolo (Maternità) (Ohne Titel [Mutterschaft]), 1966, Emaillefarbe, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 90 x 70 cm
Privatsammlung, Turin, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Gabriele Gaidano

Werke in rot

Der erste Raum des Rund­gangs versam­melt zentrale Arbei­ten unter­schied­li­cher Werk­grup­pen in feuri­gem Rot, die als Auftakt bereits einen Eindruck von der Viel­falt ihres Œuvres geben. Neben plaka­ti­ven Werken wie etwa „Senza titolo (Mater­nità)“ (Ohne Titel [Mutter­schaft], 1966), in dem die Künst­le­rin eine vulva­ähn­li­che Form mit klei­nen Puppen­au­gen krönt, stehen pastos gemalte abstrakte Werke ebenso wie Objekt­mon­ta­gen, eher zarte „Brico­la­gen“ auf Papier und eine Arbeit in Textil.

Carol Rama, Marta, 1940, Aquarell, Tempera und Buntstift auf Papier, 23 x 17,5 cm
Privatsammlung, Turin, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Pino dell’Aquila

Erotische Aquarelle

Der folgende Raum widmet sich einer auf die Jahre 1936 bis 1946 datier­ten Serie eroti­scher Aqua­relle. Bereits als junge Künst­le­rin nimmt sich Rama hier die Frei­heit, das Unsag­bare darzu­stel­len und der herr­schen­den Ordnung zu trot­zen. Nach Aussage der Künst­le­rin schlägt ein Versuch, diese Serie um das Jahr 1945 in Turin auszu­stel­len, bereits vor Eröff­nung aufgrund von Zensur fehl, sodass die Aqua­relle erst 1979 öffent­lich gezeigt wurden. Das Absei­tige und das Unbe­merkte stehen im Zentrum der Serie, Frei­heit und Unter­drü­ckung, die gesell­schaft­li­chen Gren­zen und deren Über­schrei­tung sind ihre eigent­li­chen Themen. Viele Szenen spie­len in der Psych­ia­trie. Wieder­keh­rende Motive sind etwa heraus­ge­streckte Zungen, Mastur­ba­tion, Vulven, Körper­teile, Prothe­sen sowie beiläu­fige, alltäg­li­che Gegen­stände, darun­ter Rasier­mes­ser, Gebisse, Schau­feln, Pinsel oder Schuhe. Laut Rama stel­len diese Arbei­ten auch eine direkte Antwort auf frühe, einschnei­dende Ereig­nisse in ihrer eige­nen Biogra­fie dar wie der Aufent­halt ihrer Mutter in der Psych­ia­trie oder der Bank­rott und vermut­li­che Selbst­mord des Vaters. Aus dieser Verschrän­kung von Leben und Werk entsteht ein Narra­tiv, das zur poeti­schen Erwei­te­rung und zum inte­gra­len Bestand­teil ihres Schaf­fens wird. Mit dieser Serie lässt Rama das bürger­li­che, konser­va­tive Turi­ner Milieu, in dem sie aufwuchs, das katho­li­sche Italien mitten in der Zeit des Faschis­mus hinter sich und veror­tet sich als Künst­le­rin der Avant­garde.

Carol Rama, Senza titolo (Autoritratto) (Ohne Titel [Selbstbildnis]), 1937, Öl auf Leinwand auf Holz, 35 x 29 cm
Ursula Hauser Collection, Switzerland, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Archiv Ursula Hauser Collection

Porträts und Selbstporträts

In Kontrast zu den Aqua­rel­len steht eine Werk­gruppe von Ölge­mäl­den, die Rama Ende der 1930er-Jahre beginnt. Sie umfasst melan­cho­lisch anmu­tende und im Ausdruck redu­zierte Porträts und Selbst­por­träts, die flächig, beinahe körper­los erschei­nen. Anders als etwa in den Frau­en­por­träts des Turi­ner Malers Felice Caso­rati, der zu Ramas Freun­den und Förde­rern zählt und mit dem sie bereits früh in engem Austausch steht, reizt Rama das Porträt­genre bis an den Rand der Auflö­sung aus. Wenige Linien formen Nase oder Mund wie etwa in „Senza titolo (Auto­ri­tratto)“ (Ohne Titel [Selbst­bild­nis]) von 1937. In „Sguardo“ (Blick) oder „Senza Titolo“ (1947) gestal­tet sie das Porträt jeweils mit dem Gesicht als Leer­stelle, und „Senza Titolo“ (1944/45) zeigt eine gerade noch erkenn­bare Figur aus grünen Farb­fle­cken, hinter der ein oran­ge­far­be­nes Flackern unheil­voll lodert.

Carol Rama, La linea di sete (Die Durststrecke), 1954, Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm
Turin, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Museo Sperimentale. By courtesy of the Fondazione Torino Musei, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Studio Fotografico Gonella. Reproduced by permission of the Fondazione Torine Musei

Movimento per l’arte concreta

1953 tritt Rama dem Movimento per l’Arte Concreta (MAC) bei. Die Bewe­gung ist 1948 in Mailand u. a. von Gillo Dorfles und Bruno Munari gegrün­det worden, in Turin gibt es einen Able­ger um den mit Rama befreun­de­ten Künst­ler und Kriti­ker Albino Galvano. Ähnlich wie auch in Deutsch­land fanden Künst­ler*innen hier unter der vagen Idee der Abstrak­tion zusam­men, um sich von dem faschis­ti­schen Gebot einer realis­ti­schen Ästhe­tik abzu­gren­zen. Bis zu Beginn der 1960er-Jahre unter­nimmt Rama das einma­lige Expe­ri­ment, sich künst­le­risch einer Gruppe anzu­schlie­ßen. Sie gestal­tet abstrakte, beinah musi­ka­lisch kompo­nierte Werke in Öl, auf Papier oder auch in Textil sowie einen Teppich. „La linea di sete“ (Die Durst­stre­cke, 1954) oder „Compo­si­zione“ (Kompo­si­tion, 1959) zeigen rhyth­mi­sche Struk­tu­ren in einem zeit­ty­pi­schen Farb­klang.

Carol Rama, Presso il pungente promontorio orientale (Nahe der schroffen östlichen Landspitze), 1967, Tusche, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 36,5 x 24,5 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Roberto Goffi

Bricolagen

Anfang der 1960er-Jahre beginnt eine von Ramas prägnan­tes­ten Werk­pha­sen, die der „Brico­la­gen“. Diese Bezeich­nung etabliert, auf einen Begriff von Claude Levi-Strauss Bezug nehmend, ihr Dich­ter­freund Edoardo Sangui­neti für Ramas durch die Möglich­kei­ten des asso­zia­ti­ven Vorge­hens und der freien Kombi­na­to­rik geprägte Arbeits­weise. Während ihre frühe­ren Arbei­ten in ihrer Mate­ria­li­tät eher konven­tio­nell waren, expe­ri­men­tiert sie jetzt mit den Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten der Collage und malt frei mit Kleb­stof­fen, Emaille, Sprüh­farbe oder Pastell. Gleich­zei­tig erwei­tert sie den flachen Bild­grund mit montier­ten Objek­ten, darun­ter abge­schnit­tene Farb­tu­ben, Puppen­au­gen, medi­zi­ni­sche Sprit­zen, aber auch natür­li­che Mate­ria­lien wie kleine Zweige, Felle oder Tier­kral­len. Unge­wöhn­li­che Mate­ria­lien und die Dinge des Alltags rücken zeit­gleich eben­falls in das Blick­feld der Künst­ler*innen des Nouveau Réalisme oder der Arte Povera, die etwas später in Turin entsteht. Bei Ramas „Brico­la­gen“ erschei­nen die Objekte aller­dings wie Reflexe auf das Gegen­stands­re­per­toire ihrer frühen Aqua­relle und treten nun konkret in den Bild­raum. Gele­gent­lich werden sie wie in „XCV – C’è un altro metodo, per finire“ (XCV – Es gibt noch eine andere Methode, um zum Ende zu kommen, 1967) mit mathe­ma­ti­schen Formeln und physi­ka­li­schen Berech­nun­gen sowie Text­frag­men­ten kontras­tiert.

Carol Rama. Rebellin der Moderne, Ausstellungsansicht
© SCHIRN 2024, Foto: Norbert Miguletz

Werke in schwarz

In einem eige­nen Raum versam­melt die Ausstel­lung in der SCHIRN Ramas schwarze Arbei­ten. In mehre­ren Werk­grup­pen arbei­tet die Künst­le­rin wieder­holt aus der Schwärze des Bildes heraus. In ihrer Schlicht­heit und Radi­ka­li­tät erin­nern diese Arbei­ten an Kasi­mir Male­witschs „Schwar­zes Quadrat“ (1915) oder den ameri­ka­ni­schen Abstrak­ten Expres­sio­nis­mus um Ad Rein­hardt und Robert Rauschen­berg gegen Ende der 1940er-Jahre. In ihren Werken durch­bricht Rama die nüch­terne Strenge und verbin­det sie mit dem Profa­nen. In dem frühen Mate­ri­al­bild „Riso Nero“ (Schwar­zer Reis, 1960) kombi­niert sie eine mono­chrom schwarze Fläche mit von Farbe über­zo­ge­nen Reis­kör­nern, dem Lebens­mit­tel der Po-Ebene. Und in „Ricor­dati di quegli anni e li fa schiz­zar via“ (Erin­nere dich an diese Jahre, und du lässt sie entschwin­den, 1967) erzeugt Rama aus pastos aufge­tra­ge­ner schwar­zer Farbe einen Stru­del, in dessen Rund mehrere Grup­pen von Puppen­au­gen gesetzt sind.

Carol Rama, Autorattristatrice n. 10 (Wortspiel mit auto und rattristrare, traurig machen), 1970, Reifenschläuche auf Leinwand, 100 × 100 cm
Ursula Hauser Collection, Switzerland, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Roman März

Gomme

Zu Beginn der 1970er-Jahre wendet sich Rama einer neuen Werk­gruppe zu, den soge­nann­ten „Gomme“. Es entsteht eine Reihe mini­ma­lis­ti­scher Bilder aus Schläu­chen für Fahr­rad- und Auto­rei­fen in unter­schied­li­chen Farb­ge­bun­gen, die sie etwa in „Spazio anche più che temp“o (Raum mehr noch als Zeit, 1970) flach­ge­walzt auf die Lein­wand montiert oder in „Movimento e immo­bi­lità di Birnam“ (Bewe­gung und Still­stand von Birnam, 1977) im Bündel vor die Bild­flä­che hängt. Die an Haut erin­nernde Mate­ria­li­tät und die biomor­phen Formen brechen die stren­gen Kompo­si­tio­nen und verlei­hen ihnen etwas Sinn­li­ches und Spie­le­ri­sches. Mit diesen alltäg­li­chen, armen Mate­ria­lien knüpft Rama zugleich eine Verbin­dung zu ihrer eige­nen Biogra­fie, der Fabrik ihres Vaters für Auto­teile. In eini­gen Werken der Reihe wie „Auto­r­at­tristatrice“ (1970, Wort­spiel aus „auto“, selbst, und „rattris­trare“, trau­rig machen) sowie frühe­ren „Brico­la­gen“ zeigt sich auch Ramas Inter­esse an der Poli­tik. Die soge­nann­ten Napalm-Bilder entste­hen als eine düstere Reak­tion auf den Viet­nam­krieg und nehmen Bezug auf durch den Kampf­stoff verbrannte Körper.

Carol Rama, Lo specchio di Huguette (Huguettes Spiegel), 1983, Mischtechnik auf bereits beschriebenem Papier (Architekturzeichnung), 49,5 × 32 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Pino dell’Aquila

Zurück zur Figuration

Während sich in Italien die Tran­s­a­van­guar­dia Ende der 1970er-Jahre mit Malern wie Fran­cesco Clemente wieder dem Gegen­ständ­li­chen und konven­tio­nel­len Mate­ria­lien zuwen­det, kehrt auch Rama ab den 1980er-Jahren zur Figu­ra­tion zurück, kombi­niert sie aber mit ihrem bewähr­ten Prin­zip der gefun­de­nen Mate­ria­lien. Sie nutzt Doku­mente, tech­ni­sche Zeich­nun­gen, Grund­risse und Stadt­pläne von Turin für ihre Bilder, auf denen sie aus ihren frühe­ren Arbei­ten bekann­tes Perso­nal auftre­ten lässt. Bekränzte nackte Frau­en­fi­gu­ren, mysti­sche Krea­tu­ren, der ampu­tierte Torso, einzelne Körper­teile, Tiere und Fanta­sie­gestal­ten versam­meln sich in den unheim­li­chen, kryp­ti­schen und eher asso­zia­ti­ven Werken, die aber­mals auch Anspie­lun­gen auf Ramas Biogra­fie und Perso­nen aus ihrem Umfeld enthal­ten.

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