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GEGENWÄRTIGES AUS VERGANGENEN ZEITEN

17.10.2011

4 min Lesezeit

Islands 500 Jahre alte Manuskripte der Islandsagas wurden 1971 in einem Staatsakt von Dänemark an Island zurückgegeben. Andreas Vollmer über Götter, Helden und heilige Schriften.

21. April 1971: 15.000 stehen am Kai, um die ersten beiden Heimkehrer zu empfangen. Ein Schiff der dänischen Kriegsmarine hat angelegt, über die Gangway kommen Offiziere, und sie eskortierten die kostbarste aller Frachten sicher an Land: „Buch des Königs“ heißt das eine und „Buch von der Insel Flatey“ das andere, und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. „Flateyjarbók“ ist groß und prachtvoll, der „Codex regius“ klein und unansehnlich. Und doch ist der „Codex Regius“ der einzige seiner Art: Er enthält die Helden- und Götterlieder der Edda. Wäre diese Handschrift nicht, wir hätten keine Eddalieder.

Islands einzigartiger Reichtum

Wären die Handschriften nicht, hätten die Isländer keine Zeugnisse vergangener Zeiten. Es gibt keine Bauten und nichts Bleibendes einer früheren Kirchen- oder Staatsmacht. Die Archäologie rekonstruiert mühsam Grundrisse und Indizien des Lebens zur Zeit der Besiedlung und mehr und mehr auch späterer Zeiten. Aber wir haben die Pergamente und Papiere, und mit ihnen auch die ganze Breite der Möglichkeiten von Erzählen und Literatur aller Art. Das ist Islands einzigartiger Reichtum, der nun auch Finanzkrise und Bankencrash überdauert hat.

Man durchlöcherte die alten Manuskripte für Siebe

Die großzügige Übergabe der in Dänemark verwahrten Handschriften ist ein beeindruckendes und bedenkenswertes Beispiel für die Restitution von Kulturgütern: Die beiden Länder einigten sich nach äußerst zähen Verhandlungen darauf, zwei Schwesterinstitute für die Aufbewahrung und Forschung zu gründen: Reykjavík und Kopenhagen, beide benannt nach dem großen Forscher und Sammler Árni Magnússon (1663-1730), einem Isländer, der im Dienste der dänischen Krone alles, was Buchstaben hatte, vor seinen Landsleuten nach Kopenhagen rettete und archivierte. In den dramatischen Notjahren der frühen Neuzeit war das beschriebene Pergament auf Island kostbar und vor nichts sicher: Man brauchte es für Fensterhöhlen und durchlöcherte es für Siebe, verwendete es für Schuhe, und es sind Schnittmuster erhalten, sogar für eine Bischofsmütze. Unfassbar tragisch, dass ein Teil von Árni Magnússons mühsam zusammengetragener Bibliothek beim großen Brand von Kopenhagen in Flammen aufging. Er selbst starb kein Jahr später, er habe es nicht verwinden können, heißt es, aber der Winter war auch sehr streng.

Alte Bestände wachsen digital zusammen

Trotzdem – wir haben heute rund 700 Pergamentcodizes, ganz oder in Teilen, und unzählige Papierabschriften aller Art, von Verlorenem und Erhaltenem, rund 12.000. Also knapp so viele wie Menschen damals beim Staatsempfang am Kai. Wurde in den 70er- und 80er-Jahren in dem über zwanzig Jahre dauernden Prozess noch jede Handschrift fotografiert, bevor sie auf die Reise nach Island geschickt wurde, wachsen die Bestände mittlerweile wieder digital zusammen. Die Bilder sind verfügbar wie noch nie, seit sie auf der Website handrit.is zusammengeführt werden.

Die Faszination von Gegenwärtigkeit

Spricht man von isländischen Sagas, sind meist die literarisch herausragenden Isländersagas gemeint, eine Gruppe von Texten, die im 13. und 14. Jahrhundert entstanden und auch in der „Flateyjarbók“ enthalten sind. Sie handeln von der Herausbildung der isländischen Gesellschaft nach der Besiedlung im 10. Jahrhundert und bilden einen eigenen Erzählkosmos aus Gestalten, Geschichten und Gegenden. Die Isländersagas erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven, sind aber intensiv untereinander verbunden: Personen kehren wieder, die isländische Landschaft ist kreuz und quer mit Geschichten gefüllt, die sich untereinander auch immer wieder zitieren. Die modernen Erzählformen der Isländersagas, die literarisch gestaltete Historizität, die realistische Platzierung in der auch heute noch erfahrbaren Landschaft – all das schafft eine ganz besondere Faszination von Gegenwärtigkeit ferner Zeiten.

Die eigene Weltdeutung von Gabríela Friðriksdóttir

Jetzt sind acht Handschriften in der Schirn und geben einen Eindruck von der Vielfalt, was uns Text alles bedeuten kann: Sagas, Gesetze, Mythologisches und Magisches. War insbesondere die Heilige Schrift früher auch als Schrift heilig, entwickeln heute die originalen Handschriften erneut eine eigene Aura, die Gabríela Friðriksdóttir mit ihrer eigenen Weltdeutung verwebt. Die Originale sind einzigartig, zerbrechlich, haben trotz allem überlebt und damit ihre Würde und ihren Stolz. Es sind sehr menschliche Zeugnisse von früheren Menschen.