Sein Gesicht ist kreideweiß, er liegt mit geschlossenen Augen auf dem Rücken: „The Somnambulist“ von Goshka Macuga ist die vielleicht beklemmendste Skulptur inmitten der mehr als 100 Arbeiten der Gruppenausstellung „Geheimgesellschaften – Wissen Wagen Wollen Schweigen“. Nicht erst der Titel der Skulptur vermittelt den Eindruck, der Schlafwandler könnte jeden Moment die Augen öffnen. Er entspricht exakt dem Somnambulist aus Robert Wienes expressionistischem Stummfilm „Cabinet des Dr. Caligari“ von 1920 – und ihn umgibt die selbe geheimnisvolle Atmosphäre. Man dreht sich unwillkürlich immer wieder zu ihm um und schaut gebannt auf seine Augen: bleiben sie geschlossen? Macuga hat die Skulptur 2006 aus Holz, Fiberglas, Stoff und Echthaar hergestellt. „The Somnambulist“ spiegelt die Faszination an der Belebung unbelebter Materie wider, wie sie auch die expressionistischen Filme „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (1920) und „Frankenstein“ (1931) zelebrieren. Macuga zitiert mit ihrer Skulptur die Okkultismus-Begeisterung, die zu der Entstehungszeit dieser Filme in der künstlerischen Avantgarde herrschte.
Die 1967 in Polen geborene Künstlerin kann zu einer Generation gerechnet werden, die mit ihren unheimlichen Skulpturen Schockästhetik zum Stilmoment erhebt. In London, wo Macuga lebt und arbeitet, zeigt die Saatchi Gallery gerade viele von ihnen in der Schau „The Shape of Things to Come: New Sculpture“. Zu sehen sind an Paul Wegeners „Golem“ erinnernde groteske Körper, Skulpturen aus Pferdefell und echtem Blut und bizarre Kunststoffmenschen. Auch die Brüder Jake und Dinos Chapman, Galionsfiguren der Young British Artists, schockieren derzeit in der Londoner White Cube Gallery mit lebensgroßen schwarzen Kunststoff-Figuren, die unheimliche Fratzen haben und SS-Uniformen mit Smiley-Armbinden tragen.
Macugas Schlafwandler reflektiert die Dichotomie „Leben und Tod“. Das Thema griff die Künstlerin bereits mit ihrer Skulptur „Madame Blavatsky“ auf: Eine schwarz gekleidete Frau schwebt wie in Hypnose über zwei Stühlen. Die russische Aristokratin Helena Petrovna Blavatsky lebte im 19. Jahrhundert und gründete die dem Okkulten verschriebene Theosophische Gesellschaft. Wer schlafwandle, befinde sich in einem tranceartigen Zustand zwischen Leben und Tod und entfalte dabei in außerordentlichem Maße seine Kreativität, schrieb Blavatsky.
Macugas Skulpturen sind nur ein Ausschnitt aus ihrem facettenreichen Werk. Ihre Arbeiten waren bereits in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, 2008 war Macuga für den Turner Prize nominiert. Ihre Herangehensweise ist grundsätzlich konzeptionell: Macuga recherchiert und inszeniert in ihren Installationen historische Objekte und Dokumente, auch mit politischem Hintergrund. Derzeit ist in Minneapolis im Walker Art Center eine Einzelschau mit dem Titel „It Broke From Within“ zu sehen. Dafür hat sie unter anderem eine gigantische Tapisserie angefertigt, in der sie Protagonisten aus der Geschichte der Galerie neben von ihr fotografierten Tea Party-Aktivisten in einem dunklen Wald collagiert. Oft steht Macugas Kunst im Kontext von Mythen und stellt das Sichtbare in Frage – in bester Manier der Geheimgesellschaften dieser Welt.