Eine Frage des Zuhörens

11.09.2024

6 min Lesezeit

Autor*in:
Tímea Junghaus
Selma Selman

Selma Selman erschafft ihre Poesie der Zukunft aus dem Erbe mehrerer Rom*nja-Generationen und verbindet sie mit der subjektiven Geschichte ihrer Familie. Ihr Werk zeigt, dass jede Auseinandersetzung mit Minderheiten und Kolonisierten mit dem Zuhören beginnen muss.

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Selma Selman belässt es nicht bei schein­ba­ren Erfol­gen: Ihre Weis­heit ist gene­ra­tio­nen­über­grei­fend, und so blickt die Künst­le­rin in Rich­tung einer Zukunft, die wir uns viel­leicht nicht einmal vorstel­len können. Ihre eigene Poesie der Zukunft erschafft sie aus dem Rom*nja-Erbe mehre­rer Gene­ra­tio­nen und verbin­det sie mit der subjek­ti­ven Geschichte ihrer Fami­lie, die aus der Stadt Bihać in Bosnien und Herze­go­wina stammt. Selmans Live-Perfor­mance „Merce­des Matrix“ bestand aus der Zerle­gung eines gebrauch­ten Merce­des Benz, von dem zahl­rei­che Bestand­teile in der Gemäld­e­se­rie „Pain­tings on Metal“ wieder­ver­wen­det wurden.

In der SCHIRN instal­liert die Künst­le­rin riesige mobile Blumen­in­stal­la­tio­nen, für die gebrauchte Mehr­schalen­grei­fer trans­for­miert wurden. Die Grei­fer erwa­chen zu neuem Leben als sich öffnende und schlie­ßende Blüten­blät­ter, die gera­dezu anthro­po­morph wirken und mit Augen bemalt sind, einige davon zudem mit Tränen. Der beglei­tende Geruch von Benzin verstärkt die Span­nung zwischen dem Bild fragi­ler Blumen einer­seits und dem robus­ten Metall­schrott ande­rer­seits und eröff­net einen Raum für die Betrach­tung von Schön­heit ebenso wie von Bestän­dig­keit, ja Resi­li­enz. Selmans künst­le­ri­sche Stra­te­gie nutzt das Wissen ihrer Fami­lie, um Schön­heit und Wert­schät­zung zu finden – in dem, was andere als wert­lo­sen Abfall anse­hen.

Selma Selman. Flowers of Life, Ausstellungsansicht, 2024
Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
Selma Selman. Flowers of Life, Detailansicht
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

Kraft und Wissen von Generationen

Selmans Zeich­nun­gen der Werk­reihe „Super­po­si­tio­nal Inter­sec­tio­na­lism“ spei­sen sich zugleich aus dem Bewusst­sein der Rom*nja über das Leben, das Univer­sum und unsere plane­ta­ri­sche Verbun­den­heit. Der Begriff „Tajsa“ bedeu­tet in der Spra­che Roma­nes Gegen­wart, Vergan­gen­heit und Zukunft glei­cher­ma­ßen. Er trans­por­tiert die Über­zeu­gung, dass der Mensch – wie es die Über­la­ge­rungs­theo­rie der Quan­ten­phy­sik ja auch bewie­sen hat – in einer unend­li­chen Anzahl poten­zi­el­ler Zeiten und Möglich­kei­ten exis­tiert. Die gezeich­ne­ten Selbst­por­träts der Künst­le­rin erwei­tern die Form des mensch­li­chen Körpers und gehen über seine Gren­zen hinaus.

Selma Selman, A Pink Room of Her Own, Installation, Performance, 3D Print, 2020
Image via selmanselma.com

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Selmans uner­schro­cke­ner Femi­nis­mus beginnt mit der Stärke und Wider­stands­kraft ihrer Mutter. Durch sie gibt die Künst­le­rin weite­ren bosni­schen Frauen Sicht­bar­keit und eine Stimme – nimmt Posi­tio­nen ein, in denen sich die Kraft von Gene­ra­tio­nen vermit­telt, die Selmans Akti­vis­mus beflü­geln. Liebe und Sinn­lich­keit erfül­len ihre frühen der Mutter gewid­me­ten Werke. Aus dem ersten Ausflug ans Meer mit ihrer Mutter entstand die Video­ar­beit „SALT­WA­TER AT 47“ (2015/16), die ihre erste Begeg­nung mit der Adria und mit dem Meer über­haupt thema­ti­siert. In einer 3D-Model­lie­rung der uner­füll­ten Kind­heits­träume ihrer Mutter schuf die Künst­le­rin einen aus rosa Kunst­stoff gedruck­ten Raum, um den mütter­li­chen Traum in ihrem Kunst­werk Wirk­lich­keit werden zu lassen („A Pink Room of Her Own“, 2020).
Selmans Erfah­run­gen als Frau und als Über­le­bende im Allge­mei­nen verflech­ten sich zudem mit weite­ren Mitglie­dern ihrer Fami­lie – mit ihrem Vater, ihrem Bruder und ihren Cousins, die zu ihrem Ausdruck und Erfolg beitra­gen.

Aller Anfang liegt im Zuhören

Unter dem Titel „Flowers of Life“ präsen­tiert die aktu­elle Ausstel­lung in der SCHIRN Selma Selmans viel­schich­ti­ges Werk und ihre zuneh­mende Sicht­bar­keit als Rom*nja-Künst­le­rin. An den von ihr geschaf­fe­nen Zeich­nun­gen, Video­ar­bei­ten, Instal­la­tio­nen und Live-Perfor­man­ces können wir die in der Kunst vorherr­schende Tendenz zur Deko­lo­nia­li­tät able­sen, die darauf basiert, dass jede Ausein­an­der­set­zung mit Minder­hei­ten und Kolo­ni­sier­ten mit dem Zuhö­ren begin­nen muss. Viele west­li­che Inter­ven­tio­nen stel­len sich Akte der Befrei­ung und Frei­heit ledig­lich als eine genaue Spie­ge­lung dessen vor, was sie bereits kennen. Wenn wir jedoch zuhö­ren, so erken­nen wir, dass zahl­rei­che aufstän­di­sche Bewe­gun­gen tatsäch­lich das Ziel verfol­gen, Zugang zum Raum zu erhal­ten und verschie­dene Stra­te­gien zu entwi­ckeln, die keine grund­le­gende Ableh­nung von Staat­lich­keit verfol­gen, sondern eine bessere Form bürger*innen­schaft­li­cher Teil­habe. So kämp­fen viele um Zugang zur regu­lä­ren Infra­struk­tur, versu­chen, Sicht­bar­keit zu erlan­gen, oder schlie­ßen sich Bewe­gun­gen an, die über alter­na­tive Formen natio­na­ler Staat­lich­keit nach­den­ken oder auch über ein Terri­to­rium, das sie als ihr eige­nes bezeich­nen können.

Sie ist „die gefähr­lichste Frau der Welt“ (nach Selbst­aus­sage der Künst­le­rin im Jahr 2020), zugleich aber eine Frau von berüh­ren­der Verletz­lich­keit und mit dem bren­nen­den Wunsch, das in jeder Seele vorhan­dene Gerech­tig­keits­emp­fin­den anzu­spre­chen. Sie lädt uns alle ein, einan­der zuzu­hö­ren und sich mitein­an­der zu verbin­den.

Man sieht eine Ausstellung
Selma Selman. Flowers of Life, Ausstellungsansicht, 2024
Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

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