Eine Gestalt aus der Videoarbeit „Inside the Core“ von Gabríela Friðriksdóttir blickt den Betrachter auf dem Cover der Publikation „Icelandic Art Today“ durch zwei ausgefranste Löcher in einer helmartigen Konstruktion aus Lehm und Mullbinden mit stahlblauen Augen an. Die Arbeiten von Friðriksdóttir sind wie die vieler junger isländischer Künstler: eigenartig im wörtlichen Sinne. Auf über 300 Seiten präsentiert „Icelandic Art Today“ fünfzig dieser Künstler mit Fotografien ihrer Arbeiten und Essays in englischer Sprache. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2011, bei der Island als Gastland seine Kultur- und Kunstschätze präsentierte, erschien die zweite Auflage. Die erste erschien bei Hatje Cantz im Jahr 2009 – kurz nach dem Zusammenbruch der isländischen Wirtschaft infolge der internationalen Finanzkrise. Das Buch wollte einen Neuanfang markieren, auch in der Kunstszene des Landes, deren Kreativität aber ganz augenscheinlich vom finanziellen Desaster ungebrochen blieb.
Erró holte Island auf die Bühne der internationalen Kunstwelt
Doch wie fing alles an? Halldór Björn Runólfsson, Direktor der isländischen Nationalgalerie und Professor an der Icelandic Academy of the Arts, an der viele der vorgestellten Künstler studierten, gibt in einem einleitenden Essay Einblick in die Entwicklung der jüngeren Kunstgeschichte des Landes seit den 1960er-Jahren. Den Anfang markiert Erró, denn er unterhielt als erster zeitgenössischer isländischer Künstler dauerhafte Beziehungen zur internationalen Kunstwelt und legte so überhaupt erst einen soliden Grundstein für die weltweite Wahrnehmung der isländischen Szene. Das Essay verwebt die Fäden von Erró über den deutsch-schweizerischen Fluxus-Künstler Diether Roth, der viele Jahre in Island lebte und Teil der einflussreichen Bewegung SÚM war, bis hin zu international renommierten Künstlern, wie dem in Berlin lebenden Ólafur Elíasson, dessen isländische Wurzeln bis heute seine Arbeit prägen. Oder Matthew Barney, der mit der Sängerin Björk liiert ist und mit ihr zusammen diverse Kunstprojekte durchgeführt hat. Sie alle üben nach wie vor großen Einfluss auf die isländische Gegenwartskunst aus.
Die junge Szene verfügt über enormes Potenzial
Trotz der Einflüsse internationaler Künstler und Kunstströmungen hat sich in vielen Positionen eine eigentümliche Qualität erhalten. „Die isländische Kunst hat etwas, das Künstler aus anderen Ländern verzweifelt suchen. Sie ist direkt und authentisch. Sie überschreitet spielerisch die Grenzen anderer Kunstformen […] und ist von einer enormen kreativen Energie gespeist“, schreibt Herausgeber Christian Schoen im Vorwort zu „Icelandic Art Today“. Diese kreative Energie ist beim Blättern durch die Publikation spürbar. Installationen, Gemälde, Stills aus Videoarbeiten, Fotos von Performances und viele andere Einblicke enthüllen die mediale und motivische Vielfalt der jungen Kunst von der Insel. Internationale Kunsthistoriker, Kritiker und Kuratoren stellen die 50 Künstler hinter den Werken in kurzen Essays vor. Matthias Wagner K, Kurator der Ausstellung „Gabríela Friðriksdóttir. Crepusculum“, präsentiert Friðriksdóttir und führt darüber hinaus auch in das Werk von Egill Sæbjörnsson ein. Die Arbeiten des Isländers, der bereits in Berlin, New York, Helsinki und Sydney ausgestellt hat, können als symptomatisch für die zeitgenössische isländische Kunst gesehen werden: Wie viele seiner Kollegen vernetzt er Musik, Skulptur, Videokunst, Animation und Performance.
Zwischen den Disziplinen
In einem Land mit nur knapp 320.000 Einwohnern kennt man sich. Kooperationen mit anderen Künstlern und zwischen den Disziplinen Theater, Musik, Architektur, Design, Film und Literatur sind so alltäglich wie notwendig. Auch in „Icelandic Art Today“ stößt man auf zahlreiche Querverbindungen, viele Künstler haben bereits mit Sängerin Björk zusammengearbeitet. Ein Werk der in New York lebenden Isländerin Hrafhildur Arnardóttir dürfte vielen bekannt sein: die faszinierende, komplex verflechtete Haarskulptur, die Björk auf dem Cover ihres Albums „Medúlla“ aus dem Jahr 2004 trägt. Zu der Idee, Haar als Material und Medium zu verwenden, inspirierte sie ein viktorianischer Ritus, bei dem Trauernde aus Haarsträhnen von Verstorbenen Trauerschmuck flochten. Neben Perücken kreiert sie auch bunte Wandbilder aus synthetischem Haar.
Der Luxus von Eis und Schnee
Vertreten ist auch die wohl bekannteste Künstlergruppe der Insel, „The Icelandic Love Corporation“, die im Jahr 2005 mit der Performance „Creation – Corruption – Celebration“ auch in der Schirn auftrat. Die drei jungen Isländerinnen lernten sich beim Studium am Icelandic College of Arts and Crafts in Reykjavík kennen und formierten sich, um eine von männlichen Motiven, Materialien und Methoden dominierte Kunstproduktion zu revolutionieren. Sie eigneten sich klassische Handarbeitstechniken an und entwickeln Videoarbeiten und Performances mit selbstkreierten Kostümen. Zu ihren wohl bekanntesten Performances gehört „Dynasty“: Gekleidet in pompöse Jacken und Mützen aus Fell und mit teurem Schmuck behangen spielen sie reiche Hausfrauen, die sich den Luxus von Eis und Schnee in Zeiten globaler Erwärmung gönnen. Ihre Arbeiten sind kritisch und zugleich humorvoll – vielleicht ist das der Schlüssel zu ihrem großen Erfolg.
Die Szene ist dynamisch
„Icelandic Art Today“ gibt einen wunderbaren Überblick über die Arbeiten und Lebensläufe der Künstler, die Wurzeln, aus denen die zeitgenössische Kunstszene der Insel gewachsen ist und die Einflüsse, die sie prägen. Der isländische Kunstmarkt ist klein und die finanziellen Möglichkeiten des noch von der Finanzkrise angeschlagenen Landes begrenzt – die Kunstszene hingegen ist dynamisch, eigen und erfrischend inspirierend. Die größtenteils jungen Protagonisten lassen sicher noch einiges von sich hören und sehen.