Ein neuer Blick auf Künstlerinnen –
„L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940“

04.12.2024

12 min Lesezeit

Carol Rama

Mit „L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940“ kuratierte Lea Vergine 1980 im Palazzo Reale in Mailand eine der ersten Ausstellungen, die auf übersehene Künstlerinnen der westlich geprägten Kunstgeschichte aufmerksam machte. Auch Carol Rama fand darin viel Beachtung – mit Folgen bis heute.

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Die Turi­ner Künst­le­rin Carol Rama (1918–2015) legte mit ihren eroti­schen Aqua­rel­len schon in den 1930er-Jahren den Grund­stein für ein über­aus viel­sei­ti­ges Werk, das in den folgen­den 70 Jahren nahezu jedes Jahr­zehnt eine radi­kale Neue­rung aufzu­wei­sen vermochte. Doch ihr Weg zur inter­na­tio­na­len Aner­ken­nung blieb lang und beschwer­lich: Eine adäquate öffent­li­che Würdi­gung für ihre Arbeit erhielt Rama erst im hohen Alter. Und das, obwohl sie in Intel­lek­tu­el­len- und Kunst­krei­sen bereits lange als Künst­le­rin ange­se­hen wurde, regel­mä­ßig an Ausstel­lun­gen teil­nahm und schließ­lich auf der Vene­dig Bien­nale 2003 mit dem Golde­nen Löwen für ihr Lebens­werk ausge­zeich­net wurde.

„Wenn ich wirk­lich so gut bin, kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin“– diese Worte der damals 86-jähri­gen Rama waren deut­lich, zudem wütend und erzähl­ten das, was die meis­ten Künst­le­rin­nen inner­halb ihres Werde­gangs erleb(t)en.

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Mit Carol Rama. Rebellin der Moderne zeigt die SCHIRN nun die erste insti­tu­tio­nelle Retro­spek­tive im deutsch­spra­chi­gen Raum. Sie reiht sich in eine Viel­zahl von Ausstel­lun­gen der letz­ten Jahre ein, die es ermög­li­chen, der Fülle an bislang unbe­rück­sich­tig­ten Künst­le­rin­nen im späte­ren Lebens­al­ter oder postum endlich einen adäqua­ten Raum zu geben, darun­ter Pati Hill, Faith Ring­gold, Ana Mendieta, Marta Minujín, Louise Bour­geois, Lee Kras­ner, Paula Moder­sohn-Becker und viele weitere.

Der Umgang mit Künst­le­rin­nen und ihrem Werk hat im Laufe des 20. Jahr­hun­derts viele Verän­de­run­gen erfah­ren: Einer­seits ist ihre künst­le­ri­sche Arbeit sicht­ba­rer gewor­den. Ande­rer­seits blie­ben Konstan­ten beste­hen, die dies weiter­hin brems­ten, und auch neue Heraus­for­de­run­gen wurden erkenn­bar, die die Reprä­sen­ta­tion und Lesbar­keit der künst­le­ri­schen Werke beein­flus­sen. Der oft in diesem Kontext auftre­tende Begriff der Wieder­ent­de­ckung sugge­riert dabei ein komple­xes Problem, das auch von den Struk­tu­ren des Kunst­be­triebs erzählt und die Frage stellt, wer hier eigent­lich wen entdeckt und ob der Begriff des Entde­ckens nicht schon allein gewisse Macht­ver­hält­nisse in sich birgt. Die tragen­den Säulen, also Kunst­be­trieb, Kunst­kri­tik und Markt, entschei­den maßgeb­lich über die Sicht­bar­keit von künst­le­ri­schen Posi­tio­nen und werden seit ihrem Beste­hen zumeist von patri­ar­cha­len Struk­tu­ren mitbe­stimmt.

Carol Rama. Rebellin der Moderne, Ausstellungsansicht
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
Aufbau der Ausstellung „Künstlerinnen International 1877-1977“ der nGbK in der Orangerie des Schloss Charlottenburg
Image via bpk-archive.de

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In den 1970er- und 1980er-Jahren entstan­den in west­li­chen Ländern drei Schlüs­sel­aus­stel­lun­gen, die auf über­se­hene, aller­dings fast ausschließ­lich weiße Künst­le­rin­nen aufmerk­sam mach­ten: „Künst­le­rin­nen Inter­na­tio­nal 1877-1977“, orga­ni­siert 1977 von der Gruppe Frauen in der Kunst im Schloss Char­lot­ten­burg in Berlin, „Women Artists 1550-1950“, die 1976 von Anne Suther­land Harris und Linda Noch­lin im Los Ange­les County Museum of Art reali­siert wurde sowie die von Lea Vergine initi­ierte Ausstel­lung „L’altra metà dell’avan­guar­dia 1910-1940“ [deutsch: Die andere Hälfte der Avant­garde] im Palazzo Reale in Mailand 1980. Auch Carol Rama fand hier Raum für ihre Arbeit.

Die Pionier­leis­tung dieser Grup­pen­aus­stel­lun­gen lag in der Wert­schät­zung von Künst­le­rin­nen. Sie wurden nun als zentrale Akteu­rin­nen aner­kannt. Seit­dem wuchs die Zahl dieses Ausstel­lungs­for­mats, das mitt­ler­weile auch die Einsei­tig­keit der west­li­chen Perspek­tive aufzu­bre­chen versucht. Neben umfang­rei­chen Retro­spek­ti­ven von älte­ren oder bereits verstor­be­nen Künst­le­rin­nen sind sie gegen­wär­tig ein weit verbrei­te­tes Programm­for­mat, auf das sich der Ausstel­lungs­dis­kurs in Europa und den USA seit eini­gen Jahren geei­nigt hat.

„L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940“

Lea Vergine, Kura­to­rin von „L’altra metà dell’avan­guar­dia 1910-1940“, sah in den Konzep­ten der beiden voraus­ge­gan­ge­nen Projekte einen zu großen Zeit­raum abge­deckt und dadurch wenig Raum für eine tief­grei­fende kunst­wis­sen­schaft­li­che Recher­che. Mit ihrem Konzept wollte sie die Avant­garde-Strö­mun­gen des frühen 20. Jahr­hun­derts umfang­reich beleuch­ten, Frauen als aktive Akteu­rin­nen hervor­he­ben und ihre Biogra­fien und Werken komple­xer darstel­len. Konkret hieß das, die Frauen als selbst­be­wusste und prägende Künst­le­rin­nen inner­halb der Avant­gar­de­be­we­gun­gen zu zeigen, losge­löst von der Erzäh­lung, dass diese im Schat­ten von Künst­lern in der Rolle als Ehefrauen oder Musen mehr mitge­mischt als ein eigen­stän­di­ges Werk erschaf­fen hätten. Genau darin liegt die große Stärke der Ausstel­lung, der eine inten­sive und lang­wie­rige Forschungs­ar­beit voraus­ging. In mehr als 20 Ausstel­lungs­räu­men wählte Vergine Kunst­werke von mehr als 100 Künst­le­rin­nen und versam­melte Male­rei, Skulp­tur, Foto­gra­fie und Design, die sie den jewei­li­gen Bewe­gun­gen vom Blauen Reiter über Kubis­mus, Futu­ris­mus und Bauhaus bis hin zum Surrea­lis­mus zuord­nete und in den beste­hen­den Kanon mitauf­nahm. Neben Carol Rama wurden auch Arbei­ten von Ithell Colquhoun, Frida Kahlo, Marisa Mori und vielen weite­ren Künst­le­rin­nen gezeigt, die inner­halb der Strö­mun­gen zuvor ausge­las­sen wurden. Die Ausstel­lung wanderte im Anschluss an Mailand nach Rom und Stock­holm und fand somit inter­na­tio­nale Beach­tung.

Für die Gestal­tung enga­gierte Vergine den Archi­tek­ten, Produkt- und Ausstel­lungs­de­si­gner Achille Castiglioni zusam­men mit der Künst­le­rin Grazia Varisco – beide waren bereits damals bekannte Größen der Mailän­der Kunst- und Design­szene. Gemein­sam entstand eine raum­spe­zi­fi­sche, sich über die vielen Säle erstre­ckende textile Instal­la­tion aus hellem, halb­trans­pa­rent gespann­ten Stoff. Diese durch­brach als eigene künst­le­ri­sche Arbeit einer­seits die Archi­tek­tur, ande­rer­seits sorgte sie für eine indi­rekte Beleuch­tung der gehäng­ten Kunst­werke und wich von dem recht übli­chen Ausstel­lungs­licht über Spots ab. Die zahl­rei­chen Kriti­ken zur Ausstel­lung waren von diesem unge­wöhn­li­chen Kunst­er­leb­nis begeis­tert, das sich aus der räum­li­chen Inter­ven­tion sowie dem inno­va­ti­ven kura­to­ri­schen Konzept ergab.

Lea Vergine zwischen den Räumen von L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940, Palazzo Reale, Mailand, 1980
Foto: Gianni Viviani; Image via cultura.trentino.it
Ansicht der Ausstellung L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940, Palazzo Reale, Mailand, 1980
Foto: Maria Mulas; Image via antinomie.it

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Die sehr bekannt gewor­dene Instal­la­tion wurde 20 Jahre später in der Fonda­zione Achille Castiglioni erneut gezeigt. In diesem Kontext wurde auch Vergine zu einem Vortrag einge­la­den. Sie begann mit dem Vorle­sen gesam­mel­ter Kriti­ken zu „L’altra metà dell’avan­guar­dia 1910-1940“, in der sie ein wenig schmun­zelnd eine italie­ni­sche Jour­na­lis­tin zitierte, die schrieb, dass die Ausstel­lung für Männer sehr anstren­gend sei, da darin ausschließ­lich Künst­le­rin­nen gezeigt werden. Auch die Instal­la­tion von Castiglioni und Varisco entkam dem männ­li­chen Blick nicht: Viele sahen darin das „Weib­li­che“ in der ausge­stell­ten Kunst unter­stützt und mein­ten Meta­phern einer Gebär­mut­ter oder das Weiche, Sanfte zu erken­nen – ein Narra­tiv, das Frauen im Kunst­dis­kurs und darüber hinaus bis heute anhaf­tet, ihre künst­le­ri­sche Arbeit auf eine „weib­li­che“ Zuschrei­bung redu­ziert und sie in „andere“ Räume drängt.

Ansicht der Ausstellung L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940, Fonazione Achille Castiglioni

Zwischen Sichtbarkeit und Zuschreibung

Neben den Kunst­wer­ken wurden in „L’altra metà dell’avan­guar­dia 1910-1940“ auch biogra­fi­sche Infor­ma­tio­nen und histo­ri­sche Kontexte präsen­tiert, um das Verständ­nis für die Heraus­for­de­run­gen und Errun­gen­schaf­ten der Künst­le­rin­nen zu vertie­fen. Zudem entstand 1982 ein ausführ­li­cher Kata­log, in dem Vergine ihre Recher­che­ar­beit und kura­to­ri­sche Perspek­tive nach­voll­zieh­bar werden ließ. Darin erkennt sie für sich, dass unter den ausge­stell­ten Posi­tio­nen ein Groß­teil Jüdin­nen und queere Menschen waren sowie Künst­le­rin­nen, die sich mit dem Sujet „Wahn­sinn“ befass­ten. Vergine räumte den Perso­nen also einer­seits ihren Platz inner­halb der west­li­chen Kunst­ge­schichte ein, konnte sich dabei aber auch nicht ganz von domi­nie­ren­den Zuschrei­bun­gen ihrer Zeit lösen.

Auch Carol Ramas Arbeit wurde lange Zeit unter dem Blick­win­kel der Ausein­an­der­set­zung mit psychi­schen Erkran­kun­gen und norm­ab­wei­chen­den Körper­dar­stel­lun­gen betrach­tet. Die Künst­le­rin selbst unter­stützte das Narra­tiv durch den offe­nen Umgang mit ihrer Fami­li­en­ge­schichte und der psychi­schen Erkran­kung ihrer Mutter, die sie auch in ihrem Werk verar­bei­tete – aber eben nicht nur. Bis heute hat Ramas Werk Mühe, sich von dieser einsei­ti­gen Betrach­tungs­weise zu befreien. Ihre künst­le­ri­sche Arbeit wird immer noch zu häufig im Kontext eines Outs­ider­tums geframed, sicher auch aufgrund ihrer fehlen­den Kunst­aus­bil­dung, denn Rama war weit­ge­hend Auto­di­dak­tin.

Ausstellungskatalog zu L’altra metà dell’avanguardia 1910-1940, 1980
Carol Rama. Rebellin der Moderne, Ausstellungsansicht
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
Carol Rama. Rebellin der Moderne, Ausstellungsansicht
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

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Ein Einzel­fall ist sie damit keines­wegs: Kunst von Frauen wird gene­rell zu oft als „anders“ und abwei­chend von Kate­go­rien, die für die Kunst von weißen Cis-Künst­lern einge­rich­tet wurden, etiket­tiert. Eine nach­träg­li­che Zuord­nung in kunst­his­to­ri­sche Strö­mun­gen und Sujets wie sie in „L’altra metà dell’avan­guar­dia 1910-1940“ erfolgte, labelte die teil­weise erst­mals insti­tu­tio­nell ausge­stell­ten Künst­le­rin­nen sehr stark inner­halb ihrer jewei­li­gen kunst­his­to­ri­schen Kontextua­li­sie­rung. Das tat ihnen nicht immer gut und ist auch gegen­wär­tig eine komplexe Heraus­for­de­rung. Fast immer bleibt in diesen Ausstel­lungs­for­ma­ten die Frage zurück, inwie­weit den Arbei­ten die Möglich­keit einer univer­sel­len Lesbar­keit ermög­licht werden kann, um sie nicht allein in ein bereits arti­ku­lier­tes, patri­ar­chal gepräg­tes System einzu­bet­ten. Die allei­nige Idee der Teil­habe am Ausstel­lungs­dis­kurs bleibt hier nicht ausrei­chend.

Dennoch hat die von Vergine kura­tierte Ausstel­lung vielen Künst­le­rin­nen und eben auch Carol Rama zu mehr Sicht­bar­keit und Reprä­sen­tanz verhol­fen. So verwun­dert es nicht, dass Vergine 1985 auch die erste große Retro­spek­tive von Rama am Museo d’Arte Contem­pora­nea, Castello di Rivoli, kura­tierte, wobei sie für das Ausstel­lungs­de­sign erneut mit Castiglioni kolla­bo­rierte. Ihre unge­bremste Arbeit prägte den femi­nis­ti­schen Ausstel­lungs­dis­kurs der Zeit maßgeb­lich mit. Umfang­rei­che Retro­spek­ti­ven wie die von Carol Rama, die aktu­ell an der SCHIRN zu sehen ist, treten gewis­ser­ma­ßen in ihre Fußstap­fen. Mehr noch: Sie ermög­li­chen, die Arbei­ten aus heuti­ger Perspek­tive in all ihrer Viel­schich­tig­keit für uns zugäng­lich zu machen und auch abseits ihrer zeit­li­chen Einord­nung zu reflek­tie­ren.

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