Die Erde bebt, die Kunst erschüttert
09.04.2025
3 min Lesezeit
Mithilfe geologischer Echtzeitdaten verwandelt Christos Voutichtis den Wiesbadener Kunstverein Bellevue-Saal bis zum 2. Mai in ein herausforderndes Raumerlebnis, das unter die Haut geht.
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„Wann werden endlich die Wolken vorüberziehen, dass wir endlich wieder die Sterne sehen werden?“ Diese poetische Sentenz stammt aus einem während der griechischen Militärdiktatur entstandenen Lied des Sängers und Komponisten Nikos Xillouris. Die Zeilen, die Freiheit und Weitblick als Gegenmodell zu Autoritarismus und Unterdrückung beschwören, erklingen zeitgleich aus fünf Megafon-Lautsprechern. Zuvor wurde der fensterlose, in Nebel und diffuses orangenes Licht gehüllte Saal plötzlich von einem tiefen, markerschütternden Brummen erfüllt. Der auf einer quadratischen Plattform inmitten des Raums montierte Stein begann intensiv zu vibrieren. Auf den entlang der Plattform montierten Bildschirmen erschienen Orts- und Zeitangaben sowie Zahlenwerte. Dort ist zu lesen, dass auf dem Reykjanesrücken im Nordatlantik soeben ein Erdbeben der Stärke 5,5 stattgefunden hat.
Die globale Häufung von Krisen
Mittels öffentlich zugänglicher Erdbebendaten der U.S. Geological Survey verwandelt Christos Voutichtis’ Installation „ΦΘΟΡΑ“ (Griechisch für „Verschleiß“) den Wiesbadener Bellevue-Saal in ein herausforderndes Raumerlebnis: Sobald irgendwo auf der Welt die Erde bebt, übersetzen zwei große Bass-Lautsprecher die seismischen Aktivitäten in überaus deutlich wahrnehmbares Brummen. Übertrifft das Beben die Stärke 3, erfüllt zudem Nikos Xillouris’ Gesang den Saal.
Politische Brüche, bewaffnete Konflikte, sozioökonomische Instabilität, Rechtsruck, ökologische Katastrophen: Die globale Akkumulation von Krisen hat Voutichtis, der für anspruchsvolle Klanginstallationen bekannt ist, zu „ΦΘΟΡΑ“ bewogen. Umsetzen konnte er das Werk dank einem Stipendium des Kunstvereins Bellevue-Saal. „Das Erdbeben ist eine Metapher für all diese Brüche“, sagt Christos Voutichtis – und wieder setzt unvermittelt ein tiefes Brummen ein, das einen durchschüttelt und aufschreckt.


Brüche der Gegenwart sind unausweichlich
Innerhalb weniger Minuten macht diese Installation deutlich: Unsere Erde bebt beständig, unter der Oberfläche brodelt es. Auf seismischer Ebene kann es uns jederzeit hart treffen – aber auch politisch, wirtschaftlich und ökologisch. Die Unmöglichkeit, sich von all diesen Schocks zu distanzieren und sich ins bürgerliche Glück zurückzuziehen, führt Christos Voutichtis eindrücklich vor.
Es war ihm wichtig, den Bellevue-Saal in ein immersives Erlebnis zu verwandeln, das kein Entrinnen zulässt: „Ich habe sehr streng darauf bestanden, dieses Licht und den Nebel zu nehmen. Du gehst in ein Szenario hinein.“ Und so gerät der Saal zu einer Kapsel, die geradezu apokalyptische Zustände beschwört und niemanden kalt lässt. Kurz nachdem man den Ausstellungsraum verlassen hat, um auf die gründerzeitlich-elegante Wilhelmstraße zu treten, ist wieder ein unter die Haut gehendes Brummen zu spüren. So schnell lässt einen dieses Kunsterlebnis nicht los.

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