Alle zwei Jahre für zwei oder drei Monate: Die terminlichen Umrisse der Berlin Biennale sind seit ihrer ersten Ausgabe 1998 gesetzt – eigentlich. Das Kurator*innenteam der 11. Ausgabe wollte sich der Hektik des Kunstmarktes jedoch bewusst widersetzen und begann bereits im Herbst 2019 mit einem dreiteiligen Vorspiel.
Das Gebäude des ehemaligen Druckmaschinenherstellers Rotaprint im Stadtteil Wedding diente als nachbarschaftlicher Projektraum für künstlerische Interventionen, die die brutalistische Architektur mit Leben füllten. Dass in diesen Tagen dort ein paar der für Kunstwerke angedachte Stellen an den Wänden frei bleiben müssen, ist der Pandemie geschuldet; sie verhindert die Anreise einiger Künstler*innen, die nicht in Europa leben.
Die Furchen, die uns trennen und verbinden
Und diese machen bei dieser erfrischend internationalen Biennale den größten Teil der 66 Teilnehmer*innen aus. Auch die vier Kurator*innen leben und arbeiten im außereuropäischen Ausland und lenken den eurozentrierten Blick bewusst auf Geschichten, Traumata und Widerstände anderer Kulturen: María Berríos (Chile), Renata Cervetto (Argentinien), Lisette Lagnado (Kongo) und Agustín Pérez Rubio (Spanien). Damit, heißt es, wollen sie „die kleinen Furchen, die uns ebenso trennen wie verbinden“ erkunden.
Im KW Institute of Contemporary Art geschieht dies auf radikale Art. Hier wird die „Antikirche“ ins Leben gerufen, die sich von den „alten, weißen Priestern“ der katholischen Kirche abwendet, zugunsten queer-feministischer Utopien: Florence Rodriguez Giles entwirft in ihren großformatigen Bleistiftzeichnungen Welten, die von in der Wildnis lebenden, anthropomorphen, ausschließlich weiblichen Mischwesen bevölkert sind. Ihre Leinwände hängen neben den zu einem großen Kreuz angeordneten Malereien aus der Serie „Bauen Sie Ihre eigene Sixtinische Kapelle“ von Pedro Moraleida Bernardes, die in expressionistischen Formen von Sex, Unterdrückung und Angst erzählen.
Young-jun Tak macht mit einem Kreis aus Figuren des gekreuzigten Jesus, die mit Propagandazetteln beklebt auf dem Boden liegen, auf die LGBTQI-Feindlichkeit seines Landes aufmerksam. „Wir sind die Enkel*innen der Hexen, die ihr verbrannt habt“, schreiben die Kurator*innen und rücken neben religiösen Machtstrukturen auch weibliche Solidarität in den Fokus.
Małgorzata Mirga-Tas verarbeitete in ihren Patchwork-Wandschirmen nicht nur verschiedene Stoffe und Muster ihrer weiblichen Vorfahren, sondern auch die Erinnerungen der Frauen an Krieg und Nachkriegszeit. Für Paula Baeza Pailamilla spielen Textilien ebenfalls eine wichtige Rolle; in ihrer Arbeit „Kurü Mapu“ („Schwarzes Land“) haben indigene Frauen des Mapuche-Volkes gemeinsam eine Landkarte der Gegend gewebt, die ihnen durch die spanische Kolonisation genommen wurde.
Über einen angemessenen Umgang mit dem Erbe der Kolonialzeit wird in Berlin seit längerem gestritten: Sollte die ethnologische Sammlung der Museen wirklich in den Neubau des Berliner Stadtschlosses ziehen, der sich detailgetreu auf das Gebäude aus der Kaiserzeit bezieht? Die Biennale geht im Martin Gropius Bau direkt einen Schritt weiter. „Museen wurden auf […] vielfachem Tod erbaut. In kleinen Glassärgen bergen sie die Scherben zerbrochener Welten, das dort erbeutete Gut“, schreiben die Kurator*innen – und lassen im „umgekehrten Museum“ deshalb die Beraubten ihre eigene Geschichte erzählen.
Glassärge mit den Scherben zerbrochener Welten
In den von Antonio Pichillá geschaffenen Video- und Textilarbeiten fließen schamanische Rituale und Traditionen mit gewebten Manifestationen verschiedener Gottheiten zu einer mystischen Welt zusammen, während Andrés Pereira Paz und Mapa Teatro – Laboratorio de Artistas immersive Installationen zwischen Traum und Wirklichkeit geschaffen haben.
Letztere erzählen mit „The Moon is in the Amazon: Index #1, Index #2, Index #3: an ethnofiction“ die Geschichte dreier Männer, die 1969 im Rahmen einer Expedition im kolumbianischen Amazonasgebiet auf den zeremoniellen Raum einer indigenen und von der Außenwelt abgeschiedenen Gemeinschaft stießen; nur einer der drei Männer kehrte von der Reise zurück und schmiedete fortan präkolumbianische Figurinen aus Gold, um die Geister zu vertreiben, die ihm jede Nacht im Traum erschienen.
Nicht mit Skulpturen, dafür mit Farbe und Pinsel verarbeiteten die Beteiligten des „Museums der unbewussten Bilder“ Erlebtes. 1952 durch die Ärztin Dr. Nise da Silveira in Rio de Janeiro gegründet, gab ihre Methode psychisch Kranken erstmals die Möglichkeit, mittels Malerei Traumata aufzuarbeiten und der Stigmatisierung als „geisteskrank“ entgegenzuwirken. Ein weiteres Projekt, das hier als „Museum im Museum“ gezeigt wird, entstand 1971 in Chile: Künstler*innen aus der ganzen Welt waren damals dazu aufgerufen, zur Unterstützung des chilenischem Volkes Arbeiten einzureichen.
Aufruf für ein Museum der Solidarität
Mit ihnen sollte ein antiimperialistisches Museum geschaffen werden, in dem Kunst und Politik untrennbar miteinander verwoben sind. Auch vierzig Jahre später spiegelt die 3x8 Meter große, aus Stoffstücken zusammengenähte Arbeit „Menschenmenge III“ von Gracia Barrios, die zu den beeindruckendsten Artefakten des „Museums der Solidarität“ gehört, den Geist des Widerstands wieder, der Chile bis heute prägt.
Gegen patriarchalischen Kapitalismus, überholte Moralvorstellungen und die Unterdrückung von Körper- und Geschlechtsidentitäten: Hinter den zahlreichen Ablehnungen, die den Besucher*innen der 11. Berlin Biennale mit explosiver Kraft entgegen geschleudert werden, steckt ebenso viel Affirmation. Die Ausstellungen propagieren auf differenzierte Weise – ohne sich dabei in weltfremde Utopien zu verlaufen – die Vorstellung einer offenen und toleranten Gesellschaft, in der unterschiedliche Erfahrungswelten anerkannt, kollektiv geteilt und geheilt werden können. „Der Riss beginnt im Inneren“, lautet das Motto der Ausstellung; wollen wir diesen Riss überwinden, müssen wir aber bei uns selbst beginnen.