Alles ist nicht verloren. Oder? Der amerikanische Kunsthistoriker Noah Charney, der sich in den letzten Jahren einen Namen durch Bestseller-aufbereitete Kunstthemen gemacht hat, versucht sich an einem imaginĂ€ren Museum verlorener Kunstwerke. Einige davon, das wird man noch sehen, hat es vielleicht nie gegeben. Auf 280 Seiten widmet sich das Buch gewordene âMuseum Of Lost Artâ verschiedensten Formen des Verschwindens: Kunst, die durch menschengemachte und höhere Gewalt zerstört wird, durch Feuer, Krieg und Erdbeben, ob mutwillig oder versehentlich.Â
Geschichten um sagenumwobene Kunstwerke, die man selbst niemals zu Gesicht bekommen konnte, bieten hĂ€ufig genug Stoff fĂŒr kriminalistische Spannung: Zum Beispiel ein raumfĂŒllendes Meisterwerk des flĂ€mischen Renaissance-Malers Rogier van der Weyden, das im Sturmfeuer französischer Truppen im Sommer 1695 verbrannte. Dessen Existenz wurde allein durch die zahllosen, begeisterten ErzĂ€hlungen seiner Bewunderer bekannt (Albrecht DĂŒrer beispielsweise verehrte van der Weyden und sein Kolossal-GemĂ€lde). Doch auch Werke aus neuerer Zeit können fĂŒr immer vom Erdboden verschwinden, in diesem Fall existieren immerhin noch Abbilder: Tracey Emins Liebhaber-Zelt beispielsweise verbrannte neben Hunderten anderer Kunstwerke bei einem Lagerhausbrand in London 2004, der Gesamtverlust belief sich auf ĂŒber 50 Millionen Pfund.
Verlorene SchÀtze, zerstörte Klassiker und Kunst, die sich selbst auflöst
Kurzweilig, aber eben auch: bisweilen wirklich knapp verhandelt der Autor Geschichten berĂŒhmter und bedeutender KunstschĂ€tze, einzelner Malereien oder Installationen bis hin zu ganzen Bauwerken. Massenhaft zerstörte Kunst durch die Nazis? Im Buch ist vor allem von verloren gegangenen Klimt-GemĂ€lden die Rede. Auch die noch jungen Zerstörungen der Assyrischen KunstschĂ€tze in Nimrud durch den IS bleiben im Duktus des Buches nur eine kurze Anekdote.
Es sind daneben mindestens ebenso viele Geschichten des Wiederfindens, die erzĂ€hlt werden. Oder zumindest ein Versuch hiervon: Im BemĂŒhen, Kunstwerken ĂŒberhaupt eine solche Bedeutung zuzuschreiben, Anteil zu nehmen an ihrem Verschwinden, sieht Noah Charney eine schöne BestĂ€tigung fĂŒr die menschliche Sehnsucht nach einer Welt, die tatsĂ€chlich âlarger than lifeâ erscheint. Alles sei nicht verloren, meint der Autor, wenn selbst nach Jahrzehnten und Jahrhunderten verschollen geglaubte Kunstwerke unverhofft wieder auftauchen. Dass mutwillige Zerstörung weniger Hoffnung auf ein Wiedersehen gibt als ein Kunstraub, erklĂ€rt sich von selbst. Eine Sonderstellung verlorener Kunst schlieĂlich stellt jene dar, die von Anfang an nicht fĂŒr die Ewigkeit gemacht war: Wie beispielsweise Ulays âFotototâ-Bilder, deren Motive mit zunehmender Belichtungszeit vor den Augen der Besucher zu Schwarz verglimmten.
Eine ganz eigene (Unter-)Kategorie im Buch nehmen Arbeiten wie Heather Bennings âDollhouseâ ein: In der Tradition von Rauschenberg und De Kooning, Picasso oder Gerhard Richter zerstörte die 1980 geborene KĂŒnstlerin ihr Werk selbst. FĂŒr âDollhouseâ richtete Benning ein leer stehendes Farmerhaus wie ein ĂŒberdimensionales Puppenhaus ein, dank einer kompletten Glasseite voyeuristisch einsehbar. Die Zerstörung desselben war bei der Kanadierin dann wiederum Teil des Kunstwerks - âDeath to the Dollhouseâ nannte sie das gezielte Abfackeln der Hausskulptur folgerichtig.
Das Buch endet â wer es nicht wissen mag, sollte jetzt nicht weiterlesen â mit einer traurigen Episode. Zumindest vermutlich, denn letztlich bleibt alles Hypothese: Auf knapp anderthalb Seiten widmet sich der Autor abschlieĂend den verlorenen KĂŒnstlern, auch dies im weitest möglichen Sinne, und stellt die Was-wĂ€re-wenn-Frage. Was wĂ€re, wenn Giorgione oder Raphael lĂ€nger gelebt hĂ€tten, wenn der russische Maler Wladimir Tatlin sich nicht Stalins Diktat gegen die Abstraktion hĂ€tte unterwerfen mĂŒssen? Welche Kunst blieb der Welt auf diese Weise verborgen?
Mit Bas Jan Ader setzt Charney dann auch noch dem groĂen PerformancekĂŒnstler ein Denkmal: Der niederlĂ€ndische KonzeptkĂŒnstler brach in einem kleinen Segelboot von seiner amerikanischen Wahlheimat 1976 in Richtung seiner europĂ€ischen Galerie auf und ward nie wieder gesehen. Seine kleine âOcean Waveâ wurde Wochen spĂ€ter im Meer treibend gefunden, vom KĂŒnstler keine Spur. Sicher sein kann man sich nicht, ob Bas Jan Ader seine letzte Fahrt sorgfĂ€ltig inszenierte oder tatsĂ€chlich, ganz banal, irgendwo im Atlantik zwischen New England und England ertrank. Der menschliche Wunsch nach Sinnhaftigkeit macht auch vor diesem Ereignis nicht Halt. âOder hat erâ, bringt der Autor ganz zuletzt so eine dritte Lesart ins Spiel, ânur vielleicht, unfreiwillig die wortwörtlichste Form einer âverlorenen Kunstâ geschaffen?â