Critical Land.
Sprache schafft Veränderung

45:04

05.06.2021

38 min Lesezeit

Illustrator*in:
Oriana Fenwick

In der letzten Folge der englischen Podcast-Reihe mit Indigenen Perspektiven auf Kunst, Natur und Dekolonisierung spricht Cree-Schriftstellerin Jessica Johns über Träume, Trauerreden und Indigene Literatur.

Transkript

Sylvia Cunningham: Will­kom­men bei „Critical Land“. Ich bin eure Modera­to­rin, Sylvia Cunningham. Dies ist die vierte und letzte Folge des englisch­spra­chi­gen Podcasts der SCHIRN, der paral­lel zur Ausstel­lung „Magne­tic North: Mythos Canada in der Male­rei 1910-1940“. Dieser Podcast war eine Gele­gen­heit, einige der Themen aus „Magne­tic North“ aufzu­grei­fen und über das hinaus­zu­ge­hen, was an den Wänden der Gale­rie zu sehen ist. Im Laufe dieser Serie haben wir mit Indi­ge­nen Künst­le­rin­nen und Wissen­schaft­le­rin­nen über die Group of Seven, die Deko­lo­nia­li­sie­rung von Kunst, die Bedeu­tung von Land und Land­schaft gespro­chen sowie was in Gesprä­chen über den Klima­wan­del fehlt. In der heuti­gen Folge gehen wir einen Schritt weg von der Kunst in die lite­ra­ri­sche Welt, wo wir eine Gene­ra­tion von Autor*innen finden, die sich mit vielen dieser Themen ausein­an­der­setzt. In diesem letz­ten Kapi­tel von „Critical Land“ hören Sie von der Cree-Schrift­stel­le­rin Jessica Johns, einem Mitglied der Sucker Creek First Nation im Treaty 8-Terri­to­rium im Norden von Alberta, Kanada. Sie lebt jetzt in Vancou­ver, wo sie die Chef­re­dak­teu­rin des femi­nis­ti­schen Lite­ra­tur­kol­lek­tivs Room Maga­zine ist und die Lese­reihe Indi­ge­nous Bril­li­ance mitor­ga­ni­siert. Außer­dem arbei­tet sie an ihrem Debüt­ro­man „Bad Cree“. Hier ist mein Gespräch mit Jessica Johns, ohne Umschweife.

Sylvia Cunningham: Bevor wir zu deinen Texten kommen, und weil dies unsere letzte Folge ist, möchte ich zu unse­rem Ausgangs­punkt zurück­keh­ren, nämlich der Ausstel­lung in der SCHIRN, wo die Werke der Group of Seven zum ersten Mal in Deutsch­land gezeigt werden. Ich bin neugie­rig: Als wir dich um das Inter­view baten und die Group of Seven erwähn­ten, hattest du da irgend­eine Verbin­dung zu deren Kunst?

Jessica Johns: Nein…

Sylvia Cunningham: Über­haupt nicht?

Jessica Johns: Ganz und gar nicht.

Sylvia Cunningham: War die Gruppe jemals Teil des Lehr­plans oder etwas, das du an den Wänden gese­hen hast oder…?

Jessica Johns: Wenn ich sage über­haupt nicht, meine ich keine persön­li­che Erfah­rung… Ich bin mehr in der lite­ra­ri­schen Welt und nicht so sehr in der Kunst­welt, aber sie über­schnei­den sich an eini­gen Punk­ten, und so habe ich durch Künst­ler*innen­freund*innen schon davon gehört, aber ansons­ten keine persön­li­che Verbin­dung.

Sylvia Cunningham: In unse­rer ersten Folge spra­chen wir mit einer Lakota-schot­ti­schen Kunst­pro­fes­so­rin namens Carmen Robert­son. Sie erzählte, dass sie, als sie in einer Klein­stadt aufwuchs, nicht viel mit Kunst in Berüh­rung kam, aber trotz­dem wusste wer die Group of Seven war. Also habe ich mich gefragt, ob du eine ähnli­che Erfah­rung gemacht hast. Aber wie ich bereits erwähnt habe, haben wir diesen Podcast als Chance genutzt, um über die Ausstel­lung hinaus­zu­ge­hen. In unse­rer letz­ten Folge des Podcasts habe ich mit Joce­lyn Joe-Strack gespro­chen, die ein Mitglied der Cham­pa­gne und Aishi­hik First Nation ist. Sie bezeich­net sich selbst als „Scien­tist in Reco­very“, was zum Teil auf ihre Erfah­run­gen mit der akade­mi­schen Welt zurück­zu­füh­ren ist. Als sie zum Beispiel ihren Doktor­ti­tel anstrebte, wurde ihr gesagt, sie solle ihre Forschun­gen über Land­an­sprü­che mit Lite­ra­tur von nicht-Indi­ge­nen Akade­mi­ker*innen aus dem Süden unter­mau­ern, die ihrer Meinung nach sehr unter­ent­wi­ckelt ist. Sie entschied sich schließ­lich, das Dokto­ran­den­pro­gramm zu verlas­sen, nach­dem sie in dieser Sache in eine Sack­gasse gera­ten war. Ich habe mich gefragt, ob du ähnli­che Erfah­run­gen gemacht hast.

Jessica Johns: Ja, das ist leider ziem­lich häufig. Es ist ziem­lich üblich, dass es in Insti­tu­tio­nen histo­risch gese­hen eine bestimmte anthro­po­lo­gi­sche Sicht­weise auf Indi­gene Völker aus der Sicht von Weißen oder Nicht-Indi­ge­nen gibt, was wirk­lich schwie­rig und proble­ma­tisch ist, wenn man als Indi­gene Auto­rin oder Künst­le­rin gelebte Erfah­run­gen hat und nicht als Außen­ste­hende hinein­schaut. Ich habe also ähnli­che Erfah­run­gen in der akade­mi­schen Welt gemacht. Ich habe meinen MFA an der UBC für krea­ti­ves Schrei­ben gemacht. Davor habe ich meinen Bache­lor-Abschluss in Lite­ra­tur gemacht. Und in beiden Fällen gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass ich aufge­for­dert wurde, mich außer­halb meiner selbst zu betrach­ten. Das ist eine sehr disso­zia­tive Art, seine eigene Iden­ti­tät zu verste­hen. Beson­ders deut­lich wurde das im MFA-Programm, wo wir aufge­for­dert wurden, das Geschich­ten­er­zäh­len und das Schrei­ben mit sehr euro­zen­tri­schen Tradi­tio­nen zu üben und auf der Grund­lage euro­zen­tri­scher Erzähl­tra­di­tio­nen. Und das ist wirk­lich schwie­rig, wenn die eige­nen Erzähl­tra­di­tio­nen oder das, was man für gülti­ges Wissen hält, als eine Art zu kommu­ni­zie­ren und Geschich­ten zu erzäh­len, nicht bestä­tigt wird und wenn man aufge­for­dert wird, weiße Akade­mi­ker*innen oder weiße Autor*innen zu zitie­ren und zu lesen, die nicht den glei­chen Kontext und das glei­che Wissen haben wie man selbst – und zwar um die eige­nen geleb­ten Erfah­run­gen herum.

Sylvia Cunningham: Was war für dich die Art und Weise, wie du durch diese Erfah­rung navi­giert hast? Hattest du das Gefühl, dass du an eini­gen Stel­len Arbei­ten geschrie­ben und geschaf­fen hast, auf die du dann nicht unbe­dingt stolz warst oder die nicht wider­spie­gel­ten, wer du bist?

Jessica Johns: In gewis­ser Weise hatte ich das Gefühl, dass es meiner eige­nen krea­ti­ven Arbeit gescha­det hat. Vor allem am Anfang, als ich eine neue Auto­rin und MFA-Studen­tin war – ich bin gerade am Anfang, ich lerne gerade und ich nehme alles, was mir gesagt wird, sehr ernst, wenn also eine einfluss­rei­che Person, ein*e Profes­sor*in, ein*e etablierte*r Autor*in mir sagt, dass, wie auch immer ich etwas mache, es falsch ist, dass es die Leute nicht inter­es­sie­ren wird, dass es sich nicht verkau­fen wird … das ist wirk­lich schäd­lich. Ich schaue auf einige Arbei­ten zurück, die ich geschrie­ben habe, die einfach nicht nach mir klin­gen. Dann machst du Work­shops und bekommst Feed­back von deiner Kohorte, deinen Kolleg*innen. Wenn das über­wie­gend nicht-Indi­gene Kolleg*innen und über­wie­gend weiße Kolleg*innen sind, bekommt man dieses Feed­back noch einmal verstärkt. Das hat mein Schrei­ben in vieler­lei Hinsicht beein­flusst, und es fühlte sich nicht gut an, aber dann, als ich mich ein biss­chen mehr in der Welt des Schrei­bens verwur­zelt hatte, gelernt habe wie sie funk­tio­niert und die Probleme damit. Ich analy­sierte die Art und Weise, wie die weiße Vorherr­schaft und der Kolo­nia­lis­mus Indi­gene Geschich­ten­er­zäh­ler*innen und Schrift­stel­ler*innen in Kanada für eine wirk­lich lange Zeit gestört und verletzt haben. Meine vom Writers‘ Trust preis­ge­krönte Kurz­ge­schichte „Bad Cree“, aus der jetzt ein Buch gemacht wird, entstand sozu­sa­gen als Gegen­re­ak­tion auf den Rat eines weißen Profes­sors, etwas nicht zu tun, und zwar nicht über Träume zu schrei­ben, was in der Cree-Kultur ein sehr wich­ti­ges Erzähl­mit­tel ist. Es ist ein bedeu­ten­des und essen­ti­el­les Verständ­nis von Wissen und den Möglich­kei­ten, mit Menschen zu kommu­ni­zie­ren. So wurde mir von jeman­dem in einer Gruppe von Leuten gesagt: „Schreib niemals über deine Träume, die Leute werden sich nicht dafür inter­es­sie­ren, du wirst dein Publi­kum verlie­ren“. Das machte mich rich­tig wütend. Also schrieb ich dieses Stück als eine Art „Ich zeig’s dir!“.

Sylvia Cunningham: Und das hast du.

Jessica Johns: Ja, das habe ich! Aber davon abge­se­hen sollte das nicht passie­ren… diese Arbeit, diese Art von „Resi­li­enz“-Narra­tiv sollte Indi­ge­nen Menschen nicht aufge­zwun­gen werden, um sie zu über­win­den und zurück­zu­schla­gen um mit einer preis­ge­krön­ten Arbeit zu antwor­ten. Deshalb habe ich gewon­nen, das hätte gar nicht erst passie­ren dürfen, statt­des­sen wären jahre­lange Mentor*innen­schaft und Unter­stüt­zung in der Art und Weise meines Schrei­bens von Anfang an viel vorteil­haf­ter gewe­sen als das, was am Ende in meiner akade­mi­schen Karriere passiert ist.

Sylvia Cunningham: „Bad Cree“, die Geschichte, die du erwähnst, wurde zunächst als Kurz­ge­schichte im Grain Maga­zine veröf­fent­licht und du wandelst sie jetzt in einen voll­stän­di­gen Roman um. Was ist das für ein Prozess, die Geschichte auszu­fül­len oder auszu­deh­nen? Ich weiß nicht einmal, wo man anfängt – ist es so, dass der Roman irgend­wie dort weiter­geht, wo die Kurz­ge­schichte aufge­hört hat, oder vergrö­ßerst oder erwei­terst du tatsäch­lich Abschnitte, die du zuvor gekürzt hattest?

Jessica Johns: Das ist eine sehr gute Frage, es gab so viele Itera­tio­nen und Ände­run­gen an diesem Stück, um es in einen Roman zu verwan­deln, und es ist immer noch in einem sehr frühen Entwurfs­sta­dium, also wird es sich noch mehr verän­dern. Aber meine ursprüng­li­che Entschei­dung, es zu erwei­tern, kam daher, dass ich noch nicht fertig damit war. Ich dachte weiter über die Geschichte nach. Ich dachte immer wieder über andere Dinge nach, die ich damit machen wollte. Die Figur blieb bei mir. Ich dachte immer wieder über andere Dinge nach, die sie tun würde, und über andere Traum­er­leb­nisse, die sie haben würde. Also begann ich, diese Ideen zu erwei­tern und dann war es eine Art von beidem. Beson­ders als ich es meinem Agen­ten zeigte und als wir den Redak­ti­ons­pro­zess began­nen, wurde es zu einem Prozess des Aufblä­hens von Berei­chen, also war es wie eine Erwei­te­rung der Geschichte, und dann wurde an bestimm­ten Teilen der Geschichte gefeilt und diese vergrö­ßert und aufge­bläht und tiefer in die Entwick­lung der Charak­tere, in die Szenen hinein­ge­gra­ben. Nach­dem ich all das getan hatte, hatte ich plötz­lich 200 Seiten…

Sylvia Cunningham: Oh wow…

Jessica Johns: Ich weiß. Und ich habe mich gefragt, wie das über­haupt passiert ist, und noch einmal, es verän­dert sich immer noch, und es wandelt sich immer noch, aber es fühlt sich auf diese Weise irgend­wie orga­nisch an.

Sylvia Cunningham: Siehst du es also als ein beglei­ten­des Stück oder fast als ein neues Werk, das ein Eigen­le­ben entwi­ckelt? Denn bei der Kurz­ge­schichte hat man einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, oder zumin­dest weiß man, wo man sie abge­schlos­sen hat, aber viel­leicht wird der Ort, an dem man sie abge­schlos­sen hat, im Roman nicht mehr derselbe sein. Siehst du die beiden als zwei getrennte Einhei­ten an?

Jessica Johns: Es gibt so viel von dem Origi­nal­stück in dem Roman, aber es ist trotz­dem komplett anders. Also sehe ich es defi­ni­tiv als eine eigene Sache an. Aber man kann zu 100 Prozent sehen, wie dies der Samen war und dies der Baum ist.

Sylvia Cunningham: Es gibt einen kurzen Auszug, den ich gerne aus „Bad Cree“ vorle­sen würde… Du schreibst: [Eigene Über­set­zung, Anm. d. Red.] „Es ist zwei Jahre her, dass ich High Prai­rie, meine Heimat, verlas­sen habe, die Stadt, in der ich gebo­ren und mit meinen zwei Geschwis­tern aufge­wach­sen bin. Als ich umzog, kam meine Mutter hinten aus dem Haus und fand mich, wie ich Erde in eine Flasche füllte. Sie schüt­telte nur den Kopf und sagte, dass es mein Körper ist, der die Erde nach Hause trägt, nicht das Land. Es ist der schlimmste Albtraum einer Cree-Mutter, dass ihre Fami­lie ausein­an­der­ge­ris­sen wird. Und jetzt bin ich hier, tausend Meilen entfernt in Vancou­ver. Eine Flasche Prärie­erde auf meinem Nacht­tisch.“ Dieser Satz: „Es war mein Körper, der mich nach Hause trug, nicht das Land.“ Kannst du dich auch persön­lich mit diesem Gefühl iden­ti­fi­zie­ren?

Jessica Johns: Ja, ich habe diese Zeile tatsäch­lich geän­dert, und ich habe viel darüber nach­ge­dacht, weil ich zu der Zeit viele Arbei­ten von Quill Chris­tie-Peters gele­sen habe, einer bilden­den Künst­le­rin der Anis­hina­abe, und sie schreibt viel darüber, wie die Rück­ver­bin­dung zur Heimat und die Rück­ver­bin­dung zum Heimat­land ziem­lich schwie­rig sein kann, weil viele Indi­gene Menschen aus ihrer Heimat vertrie­ben wurden. Eine der Arten, wie sie darüber spricht, wieder nach Hause zu kommen und sich zu Hause zu fühlen, ist, dass die Heimat mit uns in unse­rem Körper lebt. Sie ist in unse­rem Blut, sie ist in unse­rem Knochen­mark. Ich habe viel darüber nach­ge­dacht, und das hat mich beim Schrei­ben sehr ange­spro­chen. Ich habe diese Zeile jetzt geän­dert, so dass sie lautet: „Es ist unser Körper, der die Heimat trägt, genauso wie das Land.“ Anstelle von „nicht das Land“. Denn egal, wo du bist, ob es deine Heimat ist oder nicht, Land ist so sehr… ist so eine Erwei­te­rung unse­res Körpers und von uns selbst, und egal, ob das so ist, wenn du in einer Stadt bist… da ist viel­leicht Beton unter deinen Füßen, aber da ist Land, du bist auf einem Terri­to­rium, das so ist, dass ich hier auf einem unbe­strit­te­nen Terri­to­rium bin, das nicht mein Terri­to­rium ist, das ich entwi­ckeln und tief über meine Bezie­hung zu diesem Ort nach­den­ken muss. Ich denke also, dass diese beiden Dinge wirk­lich wich­tig sind, und nicht nur das eine oder das andere, wie es die erste Itera­tion der Zeile sugge­rierte.

Sylvia Cunningham: Ich möchte das aufgrei­fen, was du gerade mit dem Leben auf nicht aner­kann­tem Gebiet gesagt haben. Die Prot­ago­nis­tin sagt, dass sie nach „Vancou­ver“ zieht. Aber außer­halb der Geschichte gibst du an, dass du „auf dem tradi­tio­nel­len Terri­to­rium der Musqueam-, Squa­mish- und Tsleil-Waututh-Völker“ lebst und arbei­test. Kannst du für dieje­ni­gen, die mit dieser Unter­schei­dung nicht vertraut sind, die Bedeu­tung dieser Aner­ken­nung erklä­ren und viel­leicht auch, warum du dich in der Geschichte dafür entschie­den hast den Ort als Vancou­ver zu benen­nen?

Jessica Johns: Ich glaube, ich habe Vancou­ver geschrie­ben, weil das ein Ort ist, mit dem die Leute vertraut sind, wenn sie eine Geschichte lesen und wissen, wo das ist. Mir gefällt jedoch die Idee, das zu zerstö­ren, was die Leute über einen Ort zu wissen glau­ben, wenn es sich in Wahr­heit um nicht aner­kannte Gebiete handelt. Vancou­ver ist die kolo­ni­sierte Stadt des Landes, das einst den Musqueam, Squa­mish und Tsleil-Waututh-Völkern gehörte – und immer noch gehört. Und „unce­ded“ zu sein bedeu­tet, dass sie sich nie auf einen Vertrag mit den Euro­päer*innen und Sied­ler*innen geei­nigt hatten, es gab also buch­stäb­lich keine Diskus­sio­nen, sie haben einfach das Land über­nom­men und besetzt, das ihnen nicht gehörte. Das ist also der Unter­schied.

Sylvia Cunningham: Ich möchte dich darüber befra­gen, wie du dich der Spra­che näherst… weil ich auf ein Inter­view gesto­ßen bin, das du 2017 in PRISM inter­na­tio­nal gemacht hast, wo du früher die Lyri­k­re­dak­teu­rin warst. Damals hast du den preis­ge­krön­ten Schrift­stel­ler aus der Drift­pile Cree Nation, Billy-Ray Belcourt, inter­viewt. Sein Debüt-Gedicht­band „The Wound is a World“ war gerade heraus­ge­kom­men. Und eines der Themen, die ihr bespro­chen habt, ist die Spra­che beim Schrei­ben. Du sprachst mit deiner Mither­aus­ge­be­rin darüber, dass, wenn sie Cree-Wörter verwen­det, sie diese in der phone­ti­schen Schreib­weise einklam­mert, Billy diese Wörter verwen­det und neu defi­niert, wie er es tut. Damals sagtest du, dass du Cree-Wörter über­setzt, wenn du sie verwen­dest. Haben sich deine Entschei­dun­gen bezüg­lich der Spra­che oder deine Philo­so­phie darüber in den letz­ten drei, vier Jahren geän­dert?

Jessica Johns: Ja, deut­lich…​danke, dass du mich daran erin­nerst! Ich habe gerne mit Billy und Selina gespro­chen. Und ich liebe es, mit Menschen über Spra­che zu spre­chen, beson­ders mit Indi­ge­nen Menschen, die eine Spra­che lernen oder viel­leicht nicht lernen, und einfach über ihre Bezie­hung zur Spra­che zu spre­chen. Auch das ist etwas, das sehr belas­tend ist und sich ziem­lich verän­dert hat. Denn ich mache das nicht mehr, ich über­setze keine Cree-Wörter mehr in meinen Texten und ein Grund dafür ist… es gibt eine Schrift­stel­le­rin namens Leanne Simpson, eine Anis­hina­abe-Schrift­stel­le­rin und Akade­mi­ke­rin, die ich sehr bewun­dere und folge, also lehne ich mich hier ein wenig an ihre Weis­heit an, denn sie hat viel darüber gespro­chen. In ihrer Arbeit hat sie früher Sachen ins Engli­sche über­setzt aber in neue­ren Werken tut sie das nicht mehr und ihre Begrün­dung dafür ist, dass im Zeit­al­ter der Infor­ma­tion, Leute mit einem Knopf­druck nach­schla­gen können, was dieses Wort bedeu­tet, wenn sie das wollen. Es ist eine Art von Arbeit, die man als Leser*in tun kann, und für eine Cree-Person, die das liest, wird sie es lesen und etwas ganz ande­res aus dieser Lektüre mitneh­men als eine nicht-Cree- oder eine nicht-Cree-spre­chende Person es tun würde. Ich mag das, ich mag, dass es da mehrere Ebenen gibt und auch, dass wir das die ganze Zeit machen. Wenn wir auf ein engli­sches Wort stoßen, das wir nicht kennen, setzen wir es entwe­der in den Kontext oder wir schla­gen es nach, weil wir sagen: „Ich habe keine Ahnung, was das Wort bedeu­tet.“ Es ist einfach so, warum norma­li­sie­ren wir das für Englisch und zitie­ren „nicht fremd“… was so selt­sam ist, dass Cree in Kanada als „fremd“ ange­se­hen wird, also ist das eine Praxis, die ich in letz­ter Zeit ange­fan­gen habe, nämlich die Spra­che nicht zu über­set­zen, wenn ich sie benutze und sie einfach für sich exis­tie­ren zu lassen.

Sylvia Cunningham: Einer der Aspekte, die ich wirk­lich an deinem Schrei­ben liebe, ist, wie viel Humor du hast. Selbst wenn du über dunk­lere Themen sprichst, wie in deiner Geschichte „Good Bones“, die im März 2018 in Cosmo­nauts Avenue veröf­fent­licht wurde. Sie fasst das sogar mit der ersten Zeile zusam­men, die ich vorle­sen werde: [Eigene Über­set­zung, Anm. d. Red.] „Als meine Schwes­ter ihre Trau­er­rede findet, ist sie wirk­lich nicht beein­druckt. Dabei hätte sie sich eigent­lich freuen müssen, finde ich, wenn ich es geschafft hätte, so viele nette Dinge über sie zu sagen.“ Ohne zu viel zu verra­ten, erfah­ren wir, dass dieser Charak­ter viel Zeit damit verbringt, sich vorzu­stel­len, auf welche Weise Menschen ster­ben werden – nicht auf eine morbide Art, oder zumin­dest so, wie ich es verstan­den habe, für mich war es eher eine Art, auf alles vorbe­rei­tet zu sein. Ich habe mich gefragt, ob du glaubst, dass das so etwas wie ein Abwehr­me­cha­nis­mus ist, als ob die Trauer nicht so inten­siv sein wird, wenn man weiß, dass man buch­stäb­lich auf alle mögli­chen Umstände vorbe­rei­tet ist?

Jessica Johns: Das ist eine gute Frage…​ich weiß nicht, was das ist. Eine meiner Freun­din­nen – und wirk­lich bril­lante Schrift­stel­le­rin, sie heißt Saman­tha Nock und ist eine Métis-Schrift­stel­le­rin – hat eine Zeile in einem Gedicht, es ist so etwas wie… „Kokum sagt mir, ich soll meine trau­rigste Geschichte erzäh­len und sie mit meinem größ­ten Witz fort­set­zen.“ Das findet man oft oder ich habe es oft bei Indi­ge­nen Menschen gefun­den, ich möchte nicht über uns als Mono­lith spre­chen, weil wir alle sehr unter­schied­lich sind, es gibt viele verschie­dene Kultu­ren und Natio­nen. Aber ich habe die Erfah­rung gemacht, dass Indi­gene Menschen im Allge­mei­nen sehr lustig sind. Wirk­lich witzige Leute, und ich denke das exis­tiert einfach von selbst. Einfach… wir haben Humor in unse­ren Knochen. Ein ande­rer Teil davon, diese Idee, ihn mit viel­leicht dunk­le­ren Momen­ten zu paaren, ist, dass die Trauer irgend­wie immer mit uns lebt. Es gibt ein gene­ra­tio­nen­über­grei­fen­des Trauma, mit dem wir umge­hen, es gibt das stän­dige Trauma des tägli­chen Lebens in einer kolo­nia­len Welt, die immer noch versucht, uns und unser Volk und unsere Rechte auszu­rot­ten. Das ist ein alltäg­li­ches Trauma mit dem wir umge­hen müssen und wenn wir uns die ganze Zeit darauf konzen­trie­ren, denke ich, dass das ein sehr schnel­ler Weg ist, um sicher­zu­stel­len, dass diese Zerstö­rung passiert, also machen wir statt­des­sen Witze darüber. Und ich weiß nicht, ob „Abwehr­me­cha­nis­mus“ das rich­tige Wort ist, aber es ist irgendwo in der Nähe davon.

Sylvia Cunningham: In „Good Bones“, während sich die Figur vorstellt, wie Menschen, die sie liebt oder kennt, ster­ben werden, entwirft sie auch deren Grab­re­den. Ich habe mich gefragt, während du dieses Stück Fiktion geschrie­ben hast, ob du über deine eigene Grab­rede nach­ge­dacht hast und was die Leute sagen würden. Eine etwas düstere Frage…

Jessica Johns: Ich liebe diese Frage, also mach dir keine Sorgen… ich habe nicht einmal während des Schrei­bens über meinen eige­nen Tod und die Grab­rede und solche Dinge nach­ge­dacht, aber ich war in einer Phase, in der ich ziem­lich stark über Menschen in meinem Leben nach­ge­dacht habe, die ster­ben und was ich bei ihren Beer­di­gun­gen sagen würde, was eine wirk­lich selt­same Sache ist. Das ist die Prämisse der Geschichte, diesen selt­sa­men Zwang heraus­zu­ho­len. Aber es war auch zu einer Zeit in meinem Leben, als ich mit Trauer zu tun hatte, ich hatte gerade ein paar Freunde verlo­ren… es war eine selt­same Sache, zu dieser Zeit so inten­siv über den Tod nach­zu­den­ken. Ich hätte wahr­schein­lich zur Thera­pie gehen sollen oder so… statt­des­sen habe ich es aufge­schrie­ben.

Sylvia Cunningham: Das ist lustig, dass du das sagst, denn es gibt den Thera­peut*innen in der Geschichte. Eine andere Zeile, die ich mir notiert habe, ist: „‘Viel­leicht soll­test du wieder zu Dr. Boxma gehen‘, schlägt Mom vor. Dr. Boxma war eine wunder­bare Frau, die wirk­lich ihr Bestes gege­ben hat, aber man kann einer Person mit einem perfekt symme­tri­schen Gesicht einfach keine selt­sa­men Dinge zuge­ste­hen.“

Jessica Johns: Ich meine, das ist einfach wahr! Wenn jemand zu perfekt ist, ist es wirk­lich schwer, abnor­male Dinge zu sagen. Verstehst du?

Sylvia Cunningham: Abso­lut… weil du diese Geschichte zu einer Zeit geschrie­ben hast, in der du beschreibst, dass es diese Paral­le­len in deinem Leben gab, findest du – weil du erwähn­test nicht mit einem Thera­peu­ten gespro­chen zu haben – dass das ein konstruk­ti­ver Weg war, um auf diese Umstände vorbe­rei­tet zu sein, sich Dinge vorzu­stel­len und diese Szena­rien irgend­wie durch­zu­ar­bei­ten oder war das nur eine Art, wie du es verar­bei­tet hast und du kannst gar nicht sagen, ob es am Ende wirk­lich gehol­fen hat oder nicht?

Jessica Johns: Hmm… ich weiß nicht, ob es am Ende gehol­fen hat oder nicht. Damals habe ich auch gerade erst ange­fan­gen… das war eines der aller­ers­ten Dinge, die ich veröf­fent­licht habe und ich habe gerade erst ange­fan­gen bewuss­ter zu schrei­ben – bewuss­ter in dem Sinne, dass ich versucht habe, als Schrift­stel­le­rin zu schrei­ben und nicht nur als „heim­li­che Schrift­stel­le­rin“, wie ich es vorher irgend­wie getan habe, nur für mich selbst zu schrei­ben.

Sylvia Cunningham: Moment, was meinst du damit, eine heim­li­che Auto­rin?

Jessica Johns: Also dieses Stück war etwas, das ich geschrie­ben habe und dachte, ich schreibe das, um es zu verschi­cken und zu versu­chen, es irgendwo zu veröf­fent­li­chen. Heim­lich wäre wie vorher, als ich schrieb und dachte: „Ich zeige das nieman­dem, das ist für nieman­den sonst, das ist nur für mich und meine eige­nen Zwecke.“ Für andere wäre ich keine Schrift­stel­le­rin, weil niemand wüsste, dass ich diese Arbeit mache. Ich weiß nicht, denn ich verar­bei­tete eine Menge Gefühle und Emotio­nen in diesem Stück, aber ich war mir auch sehr bewusst, dass ich es schrieb, um es in die Welt hinaus­zu­tra­gen. Ich schrieb es, um es zu veröf­fent­li­chen, also war ich vorsich­tig, um nicht zu roh zu sein, indem ich es immer noch mit vielen fantas­ti­schen Elemen­ten durch­tränkte, um eine Art Schutz­schild zwischen dem Werk und meiner eige­nen Verar­bei­tung und meinen Gefüh­len zu errich­ten.

Sylvia Cunningham: Als du den Über­gang von der „heim­li­chen Auto­rin“ zur veröf­fent­lich­ten Auto­rin voll­zo­gen hast, waren da Leser*nnen im Kopf, die du dir beim Lesen deiner Arbeit vorstel­len konn­test?

Jessica Johns: Ja, ich habe das Gefühl, dass ich für mich selbst schreibe, dass ich Geschich­ten schreibe, die ich selbst lesen wollen würde. Denn ich liebe Fantasy und ich liebe magi­schen Realis­mus und wirk­lich schräge Geschich­ten. Ich liebe Horror, groteske Elemente und so lese ich eine Menge davon. Ich würde gerne Cree-Leute in diesen Geschich­ten sehen, also habe ich das Gefühl, wenn ich schreibe, schreibe ich Bücher, die ich mögen würde. Ich versu­che Dinge zu schrei­ben, von denen, wenn ich mich selbst nicht kennen würde und dieses Buch in die Hand nähme, ich begeis­tert sein würde.

Sylvia Cunningham: In einem Arti­kel, der im Toronto Star erschie­nen ist, sagte deine Agen­tin Stepha­nie Sinclair über deine Arbeit… „In vieler­lei Hinsicht norma­li­siert und vermensch­licht [Johns] die Erfah­rung der Indi­ge­nen Bevöl­ke­rung in der Stadt auf eine Art und Weise von der ich denke, dass sie heraus­for­dert, wie Menschen über stereo­type Indi­gene Menschen denken. Ich denke, dass sie auch einen Einblick und eine Perspek­tive auf die Freude bietet, die in vielen indi­ge­nen Fami­lien exis­tiert, von denen wir nicht genug hören.“ Stimmst du mit dieser Einschät­zung über­ein? Ist das ein Ziel oder einfach der Effekt?

Jessica Johns: Ich denke, das ist ein Effekt, weil ich nicht danach strebe, eine städ­ti­sche Indi­gene Erfah­rung zu reprä­sen­tie­ren. Beson­ders weil es so viele verschie­dene Arten von Indi­ge­nen Erfah­run­gen gibt, aber ich denke, worauf sie hinaus will ist, dass es so viele verschie­dene Arten von Indi­ge­nen Erfah­run­gen gibt und eine Indi­gene Mill­en­nial, die in der Stadt lebt, das ist eine Erfah­rung. Über Indi­ge­ni­tät zu schrei­ben oder einfach nur ein*e Indi­gene*r Schrift­stel­ler*in zu sein, über Dinge zu schrei­ben, muss einfach nicht auf eine bestimmte Art und Weise sein. Ich denke, was Stepha­nie an meinem Schrei­ben schätzt, ist, dass ich versu­che echt zu sein. Ich versu­che, aus einer Erfah­rung heraus zu schrei­ben, die ich kenne und nicht aus einer, die ich nicht kenne. Das bedeu­tet, dass eine Indi­gene Person, die viel Zeit verplem­pert, wenn sie versucht heraus­zu­fin­den wie man schmiert, weil das eine tradi­tio­nelle Lehre ist, die ihr nicht wirk­lich beige­bracht wurde als sie aufwuchs, obwohl sie in ihrer Gemein­schaft aufge­wach­sen ist. Weißt du, sie stol­pert durch das Lernen von Dingen und stol­pert durch die Verbin­dung zu ihrer Fami­lie, weil Dinge passiert sind, die diese Verbin­dun­gen ein wenig zerbro­chen und durch­trennt haben. Aber ihre Gemein­schaft und Fami­lie ist immer noch so wich­tig. Ich denke also, obwohl das sicher­lich kein Ziel ist, dass das Schrei­ben aus einer Erfah­rung heraus, die ich kenne, hat Reso­nanz gefun­den.

Sylvia Cunningham: Hast du eine typi­sche Schrei­b­rou­tine?

Jessica Johns: Ja, ich bin keine Morgen­schrei­be­rin, ich habe es versucht. Ich habe versucht die Person zu sein, die früh aufsteht, sich einen Kaffee macht und schreibt. Aber das funk­tio­niert nicht, mein Gehirn funk­tio­niert nicht so. Als ich dann anfing das Buch zu schrei­ben und vor allem, als ich es bear­bei­tete, war meine Routine so, dass ich maxi­mal zwei bis drei Stun­den daran arbei­ten konnte, weil es sehr viel und anstren­gend ist. Es braucht viel mentale Ener­gie, also mache ich das am Nach­mit­tag und arbeite danach an ande­ren oder leich­te­ren Sachen. Aber ich tue das jeden Tag. Wenn ich eine Pause mache, dann ist es, als ob ein Rad von einem Auto abge­fal­len ist und dann kann alles passie­ren… Also halte ich mich an diese Routine und ich habe auch gemerkt, dass ich beim Schrei­ben diese Routine zufäl­lig aufge­schnappt habe. Aber ich habe mir ange­wöhnt jeden Abend zu lesen und gleich nach­dem ich mit dem Lesen fertig bin, lege ich mein Buch weg und schreibe dann auf meinem Tele­fon eine halbe bis eine Stunde lang, weil Lesen so eine große Hilfe ist. So liege ich im Bett, nicht an meinem Compu­ter, mit meiner Noti­zen-App und schreibe einfach und gehe dann ins Bett. Ein großer Teil meines Romans wurde in meiner Noti­zen-App geschrie­ben.

Sylvia Cunningham: Stellst du fest, dass du – weil du verschie­dene Autor*innen direkt vor dem Schla­fen­ge­hen und direkt vor dem Schrei­ben liest – auf Abschnitte zurück­blickst, die du geschrie­ben hast und denkst: „Oh OK, das war defi­ni­tiv nach dem Lesen von XY“

Jessica Johns: Auf jeden Fall. Oh ja. Ich habe Eden Robin­son gele­sen, das letzte „Tricks­ter“-Buch aus ihrer Serie. Es ist wirk­lich grotesk, es gibt jede Menge Körper­hor­ror. Und ja, es gab ein paar Szenen, die ich wieder gele­sen habe und dachte: „Wow, da war ich tief in der Eden-Robin­son-Spirale.“

Sylvia Cunningham: Abge­se­hen davon, dass du deinen Debüt­ro­man geschrie­ben hast, bist du auch geschäfts­füh­rende Heraus­ge­be­rin des Room Maga­zine, der ältes­ten femi­nis­ti­schen Lite­ra­tur­zeit­schrift Kana­das. Was waren deine Ziele als du die Leitung über­nom­men hast?

Jessica Johns: Es gab ein paar Dinge, die ich unbe­dingt tun wollte, als ich das Amt über­nahm. Die Chef­re­dak­teu­rin vor mir, Chelene Knight, war eine wirk­lich wunder­bare Mento­rin für mich. Ich wollte wirk­lich ein Erbe aufrecht­er­hal­ten. Sie hatte es bereits begon­nen. Sie hatte imple­men­tiert und versucht sicher­zu­stel­len, dass die Struk­tur, also ein Team von Kollek­tiv­mit­glie­dern, von Frei­wil­li­gen, von Mitar­bei­ter*innen sich weiter­ent­wi­ckelt. Alles drehte sich um Bezie­hun­gen –Bezie­hun­gen unter­ein­an­der, Bezie­hun­gen zu unse­ren Autor*innen, zu unse­rem Vertrieb, zu Orga­ni­sa­tio­nen, mit denen wir bei Projek­ten zusam­men­ar­bei­ten. Und diese waren einfach wirk­lich… die lite­ra­ri­sche Welt kann wirk­lich kalt sein, beson­ders diese Orga­ni­sa­tio­nen, die auf Kapi­ta­lis­mus aufge­baut sind, in dem wir alle nur Rädchen sind. Ich glaube, sie wollte, dass Room etwas ande­res verkör­pert und sich auf eine andere Weise bewegt.

In diesem Sinne wollte ich wirk­lich ein paar Dinge tun. Ich hatte bei Room mit der Lese­reihe „Indi­ge­nous Bril­li­ance“ begon­nen und wollte sie ernst­haf­ter in die Dyna­mik von Room einbin­den, denn zu der Zeit, vor zwei Jahren, war sie noch eine Art Offset unter dem Dach von Room. Es war eine Lese­reihe, die statt­fand, aber ich wollte mehr Projekte fördern, die Indi­gene Stim­men in den Mittel­punkt stel­len, die Schwarze Stim­men in den Mittel­punkt stel­len. Das ist eines der Dinge, von denen ich glaube, dass wir sie in einem wirk­lich posi­ti­ven Maße umge­setzt haben. Wir haben so viele wunder­bare Projekte mit Indi­ge­nous Bril­li­ance, die bewusst in die Struk­tur von Room einge­floch­ten sind, anstatt nur ein Able­ger zu sein. Und dann haben wir auch unsere Systeme neu bewer­tet, denn jede einzelne Lite­ra­tur­zeit­schrift ist von Natur aus auf einem kolo­nia­len System aufge­baut, da alles, von unse­ren Stil­richt­li­nien bis hin zu der Spra­che, die wir verwen­den, Englisch, eine kolo­niale Spra­che ist. Und so wollte ich wirk­lich alles was wir tun in Frage stel­len und unter­bre­chen und über­le­gen, wie wir diese Systeme, diese Richt­li­nien, diese Leit­fä­den, diese Ressour­cen aktua­li­sie­ren können, um anti-diskri­mi­nie­rende Prak­ti­ken einzu­bauen. Das ist eine Menge Arbeit im Hinter­grund, aber es ist struk­tu­rell und ich habe das Gefühl, dass wir als Redak­teur*innen von Ressour­cen lernen, die anti-diskri­mi­nie­rende Praxis in den Mittel­punkt stel­len und nicht nur die Gram­ma­tik, das ist ein wirk­lich bedeu­ten­der Akt in der Redak­tion und im Zeit­schrif­ten­ver­lag. Und ja, der Versuch diese Dinge zu tun war eine ziem­lich bedeu­tende Menge an Arbeit und Lernen und Verler­nen von meiner Seite aus.

Sylvia Cunningham: Wenn du diese Style­gui­des dekon­stru­ierst, treten dann neue Style­gui­des an ihre Stelle und was sind dann die neuen Regeln oder gibt es neue Regeln?

Jessica Johns: Nein, nein, es gibt immer noch Regeln. Es ist mehr eine Art an das Editie­ren heran­zu­ge­hen, der Style Guide exis­tiert immer noch, er ist nur anders. Zum Beispiel war eines der Dinge, die in allen Style Guides zu finden waren, dass man nicht-engli­sche Wörter kursiv setzen musste. So war ein Bruch darin, dass man das nicht tun muss, es ist den Autor*innen über­las­sen, ob sie das möch­ten. Und es wurde in den Style­guide aufge­nom­men, wie Unter­drü­ckung im Schrei­ben aussieht, so dass man in der Lage ist zu erken­nen, wenn diskri­mi­nie­rende Spra­che verwen­det wird. Also einige Meta­phern und solche Dinge können ziem­lich rassis­tisch oder trans­phob oder frau­en­feind­lich sein. Es ist eine Spra­che, die wir als selbst­ver­ständ­lich hinneh­men oder wir sind uns dessen einfach nicht bewusst. Sie hat sich so sehr in unsere Spra­che, in unser Lexi­kon einge­prägt, dass wir sie nicht bemer­ken. Die Leute schrei­ben also darüber und dann kommt es zu uns und anstatt nur so etwas zu haben wie: „So erkennst du ein falsch gesetz­tes Bestim­mungs­wort“, ist dies ein Style­guide, der wie folgt lautet: „So erkennst du poten­zi­ell rassis­ti­sche Spra­che“ – zum Beispiel. Hier ist, wie du das ändern kannst oder hier ist, wie du das Gespräch mit d* Autor*in führen kannst, d* das wahr­schein­lich nicht absicht­lich gemacht hat. Es ist also eher so. Wir haben nicht alle Antwor­ten, denn es gibt keine Möglich­keit, alles zu iden­ti­fi­zie­ren, was mögli­cher­weise auftau­chen könnte. Es ist eher eine Art, an die Bear­bei­tung heran­zu­ge­hen. Es ist eine Verän­de­rung der Art und Weise, wie wir das Editie­ren betrach­ten müssen, denke ich. Es gibt einen Indi­ge­nen Stil­rat­ge­ber, der von dem verstor­be­nen Gregory Youn­ging geschrie­ben wurde und ich denke, dass diese Praxis wirk­lich nach diesem Buch model­liert ist, in dem er gleich zu Beginn sagt, dass dies keine Anlei­tung ist, dass dies nicht alle Antwor­ten geben wird, sondern eine Art aufzeigt, an diese Dinge heran­zu­ge­hen, eine neue Art des Hinter­fra­gens, des Denkens über eine neue Bezie­hung zur Spra­che und diese Art von Dingen. Es ist eine Öffnung. Um das zu errei­chen, hat sich der Style Guide geän­dert.

Sylvia Cunningham: Du hast erwähnt, dass du Co-Kura­to­rin der Indi­ge­nous Bril­li­ance Lese­reihe in Vancou­ver bist, die die Werke von Indi­ge­nen Frauen, Two Spirit und quee­ren Autor*innen hervor­hebt. Ich kann mir vorstel­len, dass du mit vielen dieser Autor*innen bereits vertraut bist, aber du lernst wahr­schein­lich auch stän­dig neue Schrift­stel­ler*innen kennen. Da habe ich mich gefragt, ob du uns ein paar Empfeh­lun­gen geben könn­test.

Jessica Johns: Ja, abso­lut. Ich liebe es, Empfeh­lun­gen zu geben, vor allem von Indi­ge­nen Autor*innen und quee­ren Indi­ge­nen Autor*innen. Das Buch von Jaye Simpson „It was never going to be okay“ ist letz­tes Jahr heraus­ge­kom­men und es ist abso­lut bril­lant. Es ist ein Gedicht­band. Sie ist ein Mitglied des Indi­ge­nous Bril­li­ance Teams und ein fantas­ti­scher Mensch. Selina Boan hat gerade einen Gedicht­band mit dem Titel „Undo­ing Hours“ veröf­fent­licht. Molly Cross-Blan­chard hat gerade einen Gedicht­band namens „Exhi­bi­tio­nist“ veröf­fent­licht. Und natür­lich kennt und liebt jede*r Billy-Ray Belcourt und sein neues­tes Sach­buch „A History of My Brief Body“, das für zahl­rei­che Preise nomi­niert ist und immer wieder groß­ar­tig ist. Eden Robin­son hatte ich schon erwähnt und die Tricks­ter-Serie. Eine sehr prägende Serie für mich und meine Arbeit, und ihre Mento­rin­nen­schaft war auch sehr einfluss­reich.

Sylvia Cunningham: Das war Jessica Johns, die leitende Redak­teu­rin des Room Maga­zine, deren Debüt­ro­man „Bad Cree“ im Früh­jahr 2023 bei Harper­Col­lins Canada erschei­nen soll. Ein großes Danke­schön an alle meine Inter­view­gäste, die sich die Zeit genom­men haben, mit mir über diese Serie zu spre­chen – Carmen Robert­son, Martina Wein­hart, Caro­line Monnet, Joce­lyn Joe-Strack und Jessica Johns. Vielen Dank auch an meine Freun­din und Künst­le­rin Miranda Holmes, die mir als Reso­nanz­bo­den diente und mir erlaubte, sie vor der aller­ers­ten Folge von „Critical Land“ zu befra­gen. Die Ausstel­lung „Magne­tic North“ wurde bis zum 29. August verlän­gert, so dass ihr noch etwas Zeit habt zu schauen, was tatsäch­lich an den Wänden der Gale­rie zu sehen ist, darun­ter Arbei­ten von Caro­line Monnet, Lisa Jack­son und eine Auswahl von 90 Gemäl­den und 40 Skiz­zen der Group of Seven, die zum ersten Mal in Deutsch­land gezeigt werden.

Critical Land

In der Podcast­reihe „Critical Land“ zur aktu­el­len Ausstel­lung „Magne­tic North“ spricht Sylvia Cunningham u. a. mit SCHIRN-Kura­to­rin Martina Wein­hart, Kunst­his­to­ri­ke­rin Prof. Carmen Robert­son, der Künst­le­rin Caro­line Monnet sowie der Wissen­schaft­le­rin, Philo­so­phin und Unter­neh­me­rin Joce­lyn Joe-Strack und der Cree-Schriftstellerin Jessica Johns über die Male­rei der kana­di­schen Moderne, zeit­ge­nös­si­sche Kunst in Zeiten der Deko­lo­nia­li­sie­rung, das Verhält­nis von Land vs. Land­schaft und den Klima­wan­del aus Indi­ge­ner Perspek­tive. Auf Englisch

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Jessica Johns
© Oriana Fenwick

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