Critical Land.
Perspektiven zum Klimawandel

30:45

Sie ist Leaderin der Cham­pa­gne and Aishi­hik First Nations, eine der weni­gen selbst­ver­wal­te­ten First Nati­ons in Kanada. Als Forscherin erzählt Jocelyn Joe-Strack im neuen Podcast, was ihr in den Debatten um den Klimawandelt fehlt.

02.05.2021

31 min Lesezeit

Illustrator*in:
Oriana Fenwick
Speaker*in:
Jocelyn Joe-Strack

Transkript

Sylvia Cunningham: Will­kom­men bei „Critical Land“. Ich bin eure Modera­to­rin, Sylvia Cunningham. Dies ist die dritte Episode eines englisch­spra­chi­gen Podcast der Schirn, paral­lel zur Ausstel­lung „Magne­tic North: Imagi­ning Canada in Pain­ting 1910-1940“. In dieser Podcast-Reihe grei­fen wir einige der Themen der Ausstel­lung auf, um in Gesprä­chen mit Indi­ge­nen Künst­le­rin­nen und Wissen­schaft­le­rin­nen über das hinaus­zu­ge­hen, was an den Wänden der Gale­rie zu sehen ist. In der heuti­gen Folge hören Sie von einer Indi­ge­nen Anfüh­re­rin über Land, wie sie es kennt.

Jocelyn Joe-Strack: Mein Name ist Joce­lyn Joe-Strack, ich lebe in White­horse, Yukon, und ich bin Mitglied der Cham­pa­gne and Aishi­hik First Nation aus dem nord­west­li­chen Yukon.

Sylvia Cunningham: Im Jahr 2019 kam Joce­lyn Joe-Strack nach Deutsch­land als eine Station ihrer euro­päi­schen Vortrags­reise durch kana­di­sche Botschaf­ten. Sie wurde einge­la­den, um ihre Perspek­tive auf den Klima­wan­del als Indi­gene Wissen­schaft­le­rin zu teilen. Im heuti­gen Gespräch nimmt Joe-Strack uns mit auf eine Reise durch ihre Erfah­run­gen in der akade­mi­schen Welt, von dem, was sie anfangs dazu bewegte, Wissen­schaft­le­rin zu werden, bis hin zu der Frage, warum sie sich heute als „scien­tist in reco­very“ („Wissen­schaft­le­rin in Gene­sung“) bezeich­net. Außer­dem werdet ihr hören, was sie als Führungs­per­sön­lich­keit geprägt hat und was ihrer Meinung nach in Gesprä­chen über den Klima­wan­del fehlt. Als Mitglied der Cham­pa­gne and Aishi­hik First Nation gehört Joe-Strack zu einer der weni­gen selbst­ver­wal­te­ten First Nati­ons in Kanada. Sie erklärt, warum das für sie und ihr Volk so wich­tig ist.

Jocelyn Joe-Strack: Ich bin stolz zu sagen, dass ich aus einer Fami­lie von Führungs­per­sön­lich­kei­ten komme. 1973 gingen meine Fami­lie nach Ottawa, einschließ­lich meines Vaters, und präsen­tier­ten Premier­mi­nis­ter Pierre Trudeau ihre Vision für „Toge­ther Today for our Child­ren Tomor­row“ – und das feiern wir immer noch. Dies war am Valen­tins­tag, wobei der Tag auch dieser Moment des tiefen Stol­zes für all den Kampf symbo­li­siert, der von unse­ren Vorfah­ren geführt haben. Ich bin also eine „Toch­ter von morgen“ und eine Toch­ter der Land­an­sprü­che. Aber die Arbeit noch nicht erle­digt. Es gibt noch so viel zu tun, doch wir sind dazu ausge­bil­det worden, um ein besse­res Morgen für unsere Kinder zu schaf­fen. All das wird von unse­rer Selbst­ver­wal­tung und Entschlos­sen­heit gestützt, sodass wir in der Lage sind, die Gesell­schaft, in der wir leben, weiter­zu­ent­wi­ckeln, um den kommen­den Gene­ra­tio­nen besser zu dienen.

Sylvia Cunningham: Du erwähn­test, dass dein Vater, Willie Joe, auch ein Ober­haupt war. Gibt es etwas, das Sie von seinem Führungs­stil gelernt haben, beson­ders im Bezug auf deine jetzige Rolle in der Gemeinde?

Jocelyn Joe-Strack: Das ist eine gute Frage. Ja, mein Vater war ein Visio­när. Er hatte wirk­lich große Ideen und ich würde gerne glau­ben, dass einige meiner Ideen auch von ihm stam­men. Er war sehr charis­ma­tisch – die Leute moch­ten ihn wirk­lich sehr, er war sehr char­mant. Er starb als ich 13 war, doch als ich 10 war, wurden die endgül­ti­gen Verträge abge­schlos­sen. Es hatte 20 Jahre gedau­ert sie auszu­han­deln und mein Vater war fast die ganze Zeit über ein Teil davon, in verschie­de­nen Funk­tio­nen. Ich erin­nere mich daran, dass ich in meinem Zimmer Wäsche gewa­schen habe oder so etwas und er in mein Zimmer platzte, mir dieses zerfled­der­ten Stück Papier reichte und er sagte: „Das ist für dich!“! Er war so aufge­regt, ich erin­nere mich noch genau an seine Aufre­gung und seinen Stolz. Dann rannte er wieder raus und ging feiern. Aber das war wirk­lich einschnei­dend für mich und ich glaube, er muss schon sehr früh mit mir über unsere Entschlos­sen­heit gespro­chen haben, zu führen. Er sagte mir immer: „Sei eine Anfüh­re­rin“, wobei ich mir zu der Zeit eher sagte: „Sei beliebt in der High-School!“ Ich wusste nicht, was er meinte. Also war es wirk­lich lohnend für ihn, so sehr an mich zu glau­ben und mir diese Hingabe zu vermit­teln, die ich jetzt für meine eige­nen Kinder und für alle Kinder in Yukon habe. 

Sylvia Cunningham: Und dieses zerfled­derte Stück Papier, das war dann die Verein­ba­rung?

Jocelyn Joe-Strack: Genau, ich besitze es immer noch. Ich habe immer noch seine Kopie der endgül­ti­gen Verein­ba­rung, die er mir gege­ben hat, also ja, es war wirk­lich etwas Beson­de­res.

Sylvia Cunningham: Du bist ausge­bil­dete Wissen­schaft­le­rin und hast Abschlüsse in Mikro­bio­lo­gie und Hydro­lo­gie. Kannst du genauer beschrei­ben, was deine Forschung beinhal­tete?

Jocelyn Joe-Strack: Ja, ich habe in meiner Jugend und in jünge­ren Jahren viele verschie­dene Wissens­ge­biete durch­wan­dert. In meinen 20ern habe ich mich sehr auf die Natur­wis­sen­schaf­ten konzen­triert. Mein Grund­stu­dium ist in Bioche­mie und Mikro­bio­lo­gie. Ich nehme an, ein Groß­teil meiner Geschichte handelt von meinem Vater. Mein Vater starb leider an Krebs, denn während des Zwei­ten Welt­kriegs kam die Armee und baute eine Auto­bahn direkt an unse­ren tradi­tio­nel­len Dörfern vorbei, und sie siedel­ten alle Leute von den Trap­li­nes in die Gemeinde Cham­pa­gne um und hatten dort eine Müll­halde. Sie luden dort alle Fahr­zeuge und das gesamte Öl ab. In der Folge star­ben viele der Menschen, die in der Cham­pa­gne aufwuch­sen, an sehr selte­nen Krebs­ar­ten, so auch mein Vater. Als ich also mit 17 meinen Abschluss machte, da hatte ich meinen Vater schon vier Jahre lang verlo­ren und wollte unbe­dingt mehr über die Krank­heit lernen, deshalb habe ich Bioche­mie studier. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass ich Krebs­for­schung betrie­ben habe. Ich habe einige Zeit damit verbracht, Stamm­zel­len und die Bösar­tig­keit von Brust­krebs zu erfor­schen, aber die Arbeit war nichts für mich, sie ist sehr ermü­dend und repe­ti­tiv. Mir wurde klar, dass ich nach Hause in den Yukon kommen wollte, und deshalb habe ich ange­fan­gen, den Schwer­punkt auf Mikro­bio­lo­gie, Geogra­phie und Hydro­lo­gie zu legen.Dann habe ich einen Master in Mikro­bio­lo­gie und Geogra­phie gemacht, weil ich wusste, dass ich mehr über mein Land, das Land unse­rer Leute wissen wollte. Also schaute ich mir den Kusawa-See an, der eine tiefe Geschichte hat. Ich unter­suchte den Zyklus von Queck­sil­ber in den dorti­gen Sedi­men­ten und die Rolle der Bakte­rien bei der Methy­lie­rung oder der Vergif­tung des Queck­sil­bers. Aber ich bin dort auf eine Grenze gesto­ßen, als es mir als Akade­mi­ke­rin und Wissen­schaft­le­rin nicht erlaubt war, meine Liebe und Zuge­hö­rig­keit zum Kusawa-See in meiner Forschung und meinem Schrei­ben auszu­drü­cken. Das war wirk­lich verlet­zend und schäd­lich für mich, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass ich wirk­lich die Geschichte erzähle. Sie woll­ten, dass ich nur die Geschichte der Wissen­schaft erzähle, aber das war ein so enges Fens­ter. Auch in meiner Forschung versuchte ich so umfas­send zu sein und so viel von der Geschichte zu erzäh­len, wie ich konnte, doch sie woll­ten, dass ich mich nur auf sehr spezi­fi­sche Teile davon konzen­triere, bis zu dem Punkt, an dem meine Disser­ta­tion ein Doku­ment ist, das auf einem Regal liegt. Ich hatte das Gefühl, dass es am Ende bedeu­tungs­los war und dass die fünf Jahre Arbeit, abge­se­hen von den Lektio­nen und den Erkennt­nis­sen, die ich daraus gezo­gen habe, nicht viel gebracht haben. Und so kam ich zurück in den Yukon und begann meine Leute zu bera­ten, mich mehr mit meiner Rolle als Führungs­kraft zu verbin­den. Dabei erkannte ich, dass die Wissen­schaft mir nicht erlaubte, die Führungs­kraft zu sein, die ich sein musste, und dass das wirk­lich Wich­tigste, auf das ich mich konzen­trie­ren konnte, die Menschen und ihre Bezie­hun­gen waren. Und so bin ich dank­bar und fühle mich geehrt, als Wissen­schaft­le­rin bekannt zu sein, aber jetzt nenne ich mich „scien­tist in reco­very“ („Wissen­schaft­le­rin in Gene­sung“), weil ich einfach das Gefühl hatte, dass ich mir in der Wissen­schaft nicht treu sein konnte. Ich war nur bekannt für das Wissen, die objek­ti­ven Beob­ach­tun­gen, die ich heraus­brachte, und nicht dafür, was sie meinem Herzen bedeu­te­ten, und nicht dafür, wie ich sie mit dem Leben der Menschen hier, mit dem Land und den Kindern verbin­den konnte.

Sylvia Cunningham: Mit all dem im Hinter­kopf, warst du in der Zeit deiner Promo­tion in der Lage, mit deiner Forschung an einen Punkt zu gelan­gen, an dem es nicht nur um das Sammeln von Daten ging, sondern um mehr als das? Kurz: Gibt es etwas, das du tun konn­test, was vorher fehlte?

Jocelyn Joe-Strack: Ich muss leider sagen: nein! Ich habe ein Ph.D.-Programm abge­bro­chen, teil­weise wegen dem, was du gerade ange­spro­chen hast. Als Bera­te­rin entwi­ckelte ich einen Land­an­spruch für meine Gemein­schaft – unser gesam­tes Terri­to­rium. Gleich­zei­tig dachte ich, das wäre eine groß­ar­tige Gele­gen­heit, eine Doktor­ar­beit zu schrei­ben, aber ich blieb während des Studi­ums durch eine Frage über Land­an­sprü­che hängen. Man wollte, dass ich sie mit Lite­ra­tur verbinde, aber leider war die Lite­ra­tur so unter­ent­wi­ckelt, und zwar aus einer Perspek­tive, die von Akade­mi­kern aus dem Süden stammte, die eine Adler­per­spek­tive einnah­men, die herun­ter­schau­ten und Aussa­gen über unsere Bezie­hun­gen und unsere Entschlos­sen­heit und unsere Hingabe an Kinder mach­ten. Und sie schrie­ben nur über das Land und die Ressour­cen und es war einfach ein tota­ler Zusam­men­prall der Welt­an­schau­un­gen. Also baten sie mich, meinen Aufsatz umzu­schrei­ben, weil ich die Lite­ra­tur nicht zusam­men­brin­gen konnte, weil sie mit meiner Iden­ti­tät als Toch­ter der Land­an­sprü­che kolli­dierte. Und das gefiel ihnen einfach nicht, und so kamen wir in eine Art Sack­gasse, und ich entschied mich, das Programm zu verlas­sen, als mir eine Stelle an der Yukon Univer­sity als Forschungs­lehr­stuhl ange­bo­ten wurde. Und die Yukon Univer­sity wählte mich für diese Posi­tion ohne Doktor­ti­tel aus, weil sie mein Wissen und meine Hingabe zum Yukon schätz­ten und erkann­ten, dass ein Doktor­ti­tel mich nicht befä­hi­gen oder daran hindern würde, die Arbeit auf gute Weise zu erle­di­gen.

Sylvia Cunningham: Hast du das Gefühl, dass du jetzt in deiner Rolle an der Yukon Univer­sity in der Lage bist das einzu­füh­ren, was dir vorher gefehlt hat? Es geht also nicht nur um die Daten oder darum, zu messen, was in einem See ist, und dann nicht in der Lage zu sein, es mit irgend­ei­ner ande­ren Art von Wissen zu verbin­den – denn das sagt nichts darüber aus, was man als Person einbrin­gen kann. Versuchst du das in deiner Rolle zu ändern und wenn ja, wie?

Jocelyn Joe-Strack: Ich bin dank­bar, dass ich das tue. Die Yukon Univer­sity hat, wie jede Insti­tu­tion heut­zu­tage, einen Weg vor sich, was die Deko­lo­ni­sie­rung und die Schaf­fung dieser Art von Raum angeht. Es erfor­dert, Risi­ken einzu­ge­hen und mit einem gewis­sen Maß an Unsi­cher­heit zu operie­ren. Viele unse­rer Richt­li­nien und Prozesse sind vorhan­den, um Sicher­heit zu geben, aber sie halten uns auch auf dem Boden. Sie hindern uns daran, uns vorwärts zu bewe­gen. Sie sind eine Kiste der Gewiss­heit, die Inno­va­tion verhin­dert. Und es ist irgend­wie lustig, dass die akade­mi­sche Welt als Ort der Inno­va­tion gilt, aber in Wirk­lich­keit ist sie ziem­lich streng darin, Inno­va­tion zu verhin­dern, weil sie Sicher­heit braucht – steu­er­li­che Sicher­heit, finan­zi­elle Sicher­heit, ethi­sche Sicher­heit. Und ich denke, es gibt eine Menge Akade­mi­ker*innen, die sehr hart daran arbei­ten, diese Heraus­for­de­run­gen zu über­win­den und die Gren­zen anzu­er­ken­nen, und es braucht einfach Führungs­qua­li­tä­ten, und da ich aus einer Fami­lie von Führungs­per­sön­lich­kei­ten stamme, weiß ich, was das bedeu­tet, und ein großer Teil davon besteht darin, den Mut zu haben, nein zu sagen! Und einige dieser Prozesse als unter­drü­ckend zu bezeich­nen oder als etwas, das uns daran hindert, uns vorwärts zu bewe­gen, das uns fest­hält, wo wir sind. Und all diese Systeme reichen über die akade­mi­sche Welt hinaus, sie beste­hen in unse­ren Regie­run­gen und in der Art, wie wir Entschei­dun­gen tref­fen. Und ich glaube, das ist der Grund, warum wir uns in der Zwick­mühle des Klima­wan­dels befin­den.

Sylvia Cunningham: Das ist eine tolle Über­lei­tung. Wie bist du dazu gekom­men, dich mit dem Klima­wan­del zu beschäf­ti­gen?

Jocelyn Joe-Strack: Ich nehme an, dass es damit ange­fan­gen hat, dass ich als Wissen­schaft­le­rin arbeite und mir die Verän­de­run­gen in unse­ren Wasser­läu­fen sehr bewusst sind. Aber es war, als ich den Land­plan für meine First Nation schrieb, das war eine wunder­bare Übung, weil ich so eng mit meiner Fami­lie, meinen Leuten – es gibt 1.200 Leute in meiner First Nation – zusam­men­ar­bei­tete. Ich fing an, die Geschichte von gestern bis heute zu verste­hen, und dann, was wir für morgen tun müssen. Und ein großes Stück, das bei unse­rer Arbeit fehlt, ist das Gestern. Wir verbrin­gen so viel Zeit damit, uns auf das Heute zu konzen­trie­ren und auf das, was wir tun, und auf die Modelle und die Systeme und die Beob­ach­tun­gen von heute, um Entschei­dun­gen darüber zu tref­fen, wie wir morgen voran­kom­men, aber um ehrlich zu sein, ist die Ehrung unse­rer Geschichte und unse­res Weges ein sehr wich­ti­ger Teil, um zu verste­hen, wie wir dort sitzen, wo wir heute sind. Und für mich als eine First-Nati­ons-Person aus dem Yukon hat unsere Geschichte eine trau­rige Kompo­nente in Bezug auf die Zeit, als die Sied­ler*innen kamen. Ich hatte das Glück, dass unser Volk erst recht spät in der Zeit­skala kam, so dass ich Leute kannte, die sahen, wie die ersten Weißen in den Yukon kamen, und die ersten began­nen erst in den späten 1800er Jahren in den Yukon zu kommen. Und dann hatten wir hier 1898 einen großen Gold­rausch, wo es einen massi­ven Zustrom von Gold­su­chern aus ganz Kanada und dem Westen der Verei­nig­ten Staa­ten gab. Dann, in den 1940er Jahren, wie ich bereits erwähnte, war das die eigent­li­che Verän­de­rung, als der Alaska High­way gebaut wurde und die Armee sich hier nieder­ließ und die Menschen von ihren Trap­li­nes in die Sied­lun­gen brachte.Wenn man über all diese Elemente der Entwick­lung unse­rer Gesell­schaft nach­denkt und wie wir an diesen Ort der Unge­rech­tig­keit gekom­men sind – gefan­gen in diesen Syste­men, in denen wir fest­ge­hal­ten werden. Das sind die Trieb­kräfte des Klima­wan­dels, und sie haben sich so entwi­ckelt, wie der Zweite Welt­krieg ein bedeu­ten­des Ereig­nis war, es ist wirk­lich der Punkt, an dem wir in die Zeit des Kapi­ta­lis­mus über­ge­gan­gen sind und wirk­lich ange­fan­gen haben, uns auf die mate­ri­elle Wirt­schaft zu konzen­trie­ren. So sind wir jetzt an diesen Punkt gekom­men, an dem wir völlig abhän­gig von diesen Syste­men sind. Wo wir diese Dinge brau­chen, mit denen wir uns umge­ben – wo wir unser Essen kaufen. Wo ich lebe, kommt das Essen oft von sehr weit her, in Plas­tik verpackt. Wir schei­nen keine andere Wahl zu haben. Um leben zu können, brau­chen wir Geld. Um Geld zu bekom­men, müssen wir von 9 bis 17 Uhr arbei­ten. Mit diesem Geld kaufen wir die Dinge, die unse­rem Leben dienen.  Aber Gestern hatten meine Vorfah­ren und viele der Vorfah­ren in Europa und an ande­ren Orten der Welt ein viel höhe­res Maß an Auto­no­mie und Kapa­zi­tät und Fähig­keit, für sich selbst zu sorgen. Und das war getrie­ben von der indi­vi­du­el­len Fähig­keit, aber auch von der Zuge­hö­rig­keit und der Abhän­gig­keit von der unmit­tel­ba­ren Gemein­schaft und der Fami­lie. Das gilt vor allem ach für den Yukon. Jede*r Einzelne war also in der Lage, für eine kurze Zeit in den Tiefen des minus 40 Grad kalten Winters im Yukon zu über­le­ben, wo es nur sehr wenig Nahrung gibt, aber sie waren auch sehr abhän­gig von ihren Fami­lien und sie hatten ganze soziale Struk­tu­ren und Regeln des Regie­rens und der Bezie­hung zum Land, die wirk­lich die Notwen­dig­keit des Landes, gesund zu sein, in den Vorder­grund stell­ten. Im Winter gab es nicht viel, es gab Geschich­ten von Hungers­nö­ten, und so legten sie den ganzen Sommer über in der Fülle des Sommers Vorräte an, und dann woll­ten sie im Winter darauf zurück­grei­fen und ernte­ten Nahrung unter dem Eis, und sie hatten Elche und Kari­bus. Sie über­leb­ten auf diese Weise, es war ein wirk­lich schö­ner Kreis­lauf, der von den Jahres­zei­ten abhän­gig war, von der Rolle, die man in der Fami­lie hatte. Alle wuss­ten, was sie zu tun hatten. Das ist eine andere Sache. Sie hatten Selbst­ver­trauen und emotio­na­les Bewusst­sein. Sie wurden nicht unan­ge­mes­sen wütend. Ihre Wut war auch sehr ziel­ge­rich­tet. Sie wurden einfach dazu ausge­bil­det, diese ganzen, sehr selbst­be­wuss­ten, selbst­si­che­ren und kompe­ten­ten Menschen zu sein.

Sylvia Cunningham: Wenn du sagst, dass nicht auf die Vergan­gen­heit schauen ist viel­leicht das, was in der Diskus­sion, die wir heute über den Klima­wan­del führen, fehlt. Ist die Lösung also der Versuch, zu eini­gen der Prak­ti­ken zurück­zu­ge­hen, die es früher gab? Oder ist es eher abstrakt, es geht mehr um das Vertrauen, das du erwähnt hast. Ist es eher diese Art von Verhal­ten als eine tatsäch­li­che buch­stäb­li­che Praxis im Sinne von „hier ist eine Anlei­tung, was zu tun ist“?

Jocelyn Joe-Strack: Ich glaube, ja, das ist sehr gut ausge­drückt. Wenn wir zurück­bli­cken, hilft uns das zu verste­hen, wer wir heute sind, und es gibt Dinge, die wir von unse­ren Vorfah­ren und Prak­ti­ken und Lektio­nen über­neh­men können, aber an der Wurzel von allem glaube ich, dass es die Werte unse­rer Gesell­schaft sind, die sich ändern müssen. Und wenn wir die Werte verän­dern wollen, müssen wir uns einem Prozess der Wahr­heit und Versöh­nung unter­zie­hen, der eine Praxis der First Nati­ons, der Urein­woh­ner ist, wie ich vermute, die in Ländern mit einer kolo­nia­len Geschichte durch­lau­fen wird, also wie Kanada, Neusee­land und Austra­lien und die USA. Wir haben bereits unter­schied­li­che Grade von Reali­tät und Versöh­nung und deren Erfolg. Aber es ist die Wahr­heit, rich­tig? Es geht darum, die Wahr­heit darüber zu sagen, wo wir herge­kom­men sind und ich weiß, dass es in vielen Gesell­schaf­ten eine Gemein­sam­keit darin gibt, die Reali­tät zu vertu­schen oder sie nicht anzu­er­ken­nen oder über das, was passiert ist, zu schwei­gen. Und das passierte auch hier.Als ich in der Inter­nats­schule aufwuchs, wusste ich nicht wirk­lich, was das war. Ich wusste, dass es schlimm war, aber meine Fami­lie wollte nicht darüber spre­chen, weil es Teil unse­rer Kultur war. Das ist passiert, es ist vorbei, und wir spre­chen nicht mehr darüber. Und ich weiß, dass das in ande­ren Ländern passiert, zum Beispiel in Spanien. Als ich in Spanien war, habe ich das verstan­den – es gibt dort eine Geschichte und ein Bedürf­nis nach Versöh­nung. Das war auch inter­es­sant, als ich in Deutsch­land war, und ich war sehr stolz auf Deutsch­land und Berlin für die Arbeit, die sie in die Versöh­nung und die Zeit des Krie­ges gesteckt haben. Ich glaube wir müssen dort­hin zurück­ge­hen, um wirk­lich anzu­er­ken­nen, wie sehr dieser Krieg unse­ren Plane­ten verletzt hat. Und wir sind alle stolz auf den Erfolg unse­rer Entwick­lung seit dem Krieg und den Komfort, in dem wir leben, und die Sicher­heit, die wir als einzelne entwi­ckelte Länder haben, aber wir lassen andere zurück. Es gibt ein großes Maß an Unge­rech­tig­keit in allen entwi­ckel­ten Ländern.Und der andere Teil – der wich­tigste Teil – ist, dass viele Menschen inner­halb dieser entwi­ckel­ten Länder nicht in einem Zustand der Zufrie­den­heit und des Frie­dens leben. Wir sind zermürbt, wir sind ängst­lich. Angst ist auf der ganzen Welt weit verbrei­tet, und wir sind aufgrund unse­rer indi­vi­dua­lis­ti­schen Werte vom Land und vonein­an­der getrennt. Aber eigent­lich denke ich, dass wir als Menschen – als gesell­schaft­li­che, verbun­dene, gemein­schaft­li­che Menschen – die Abhän­gig­keit vonein­an­der brau­chen, nicht diese Systeme, abstrakte Systeme. Wir brau­chen die Abhän­gig­keit vonein­an­der, um ein gutes Leben führen zu können.

Sylvia Cunningham: Du hast Spanien und Deutsch­land erwähnt, zwei der Orte, die du 2019 besucht hast, als du von den kana­di­schen Botschaf­ten einge­la­den wurdest, nach Europa zu kommen und dein Verständ­nis des Klima­wan­dels als Indi­gene Wissen­schaft­le­rin zu teilen. Was ist dir von diesem Besuch in Erin­ne­rung geblie­ben?

Jocelyn Joe-Strack: Es war ein wunder­ba­rer Besuch! Ich kam mit meinem Mann und meinen beiden klei­nen Kindern rüber. Wir fuhren nach Spanien, Schwe­den, Deutsch­land und Frank­reich. Und es war wirk­lich wunder­voll, ich fühlte mich so geehrt, etwas von dieser Weis­heit und Vieles von dem, worüber ich hier spre­che, weiter­ge­ben zu können, obwohl ich glaube, dass sich meine Botschaft ein wenig weiter­ent­wi­ckelt hat. Aber die Botschaft, die ich mitbrachte, handelte von der Verbin­dung zum Land und der Fähig­keit, ein besse­res Leben zu haben, nicht unbe­dingt ein glück­li­ches Leben, aber ein zufrie­de­nes und fried­li­ches Leben, in dem man die Zyklen und die Gescheh­nisse der Reise mehr akzep­tiert. Ich habe also über einige der Möglich­kei­ten gespro­chen, wie wir die Werte verän­dern können, und das sind Werte der First Nati­ons, die in unse­rer Gesell­schaft geschätzt und sehr regel­mä­ßig prak­ti­ziert wurden. Der erste und wich­tigste ist die Dank­bar­keit. Jeden Morgen wache ich auf und schaue nach Osten und [sage Danke für den neuen Tag]. Und seit­dem ich das tue, ist mein Leben ein biss­chen schö­ner gewor­den, das muss ich zuge­ben. Und manch­mal, wenn ich zu müde bin, um raus­zu­ge­hen und es zu tun, glaube ich, dass mein Tag nicht so schön ist wie die Tage, an denen ich es tue. Dank­bar zu sein ist das Gegen­teil von berech­tigt sein, und wir sind sehr wohl eine Gesell­schaft, die sich durch Vorstel­lun­gen von Besitz berech­tigt fühlen kann. Besitz ist nicht etwas, das in unse­rer Gemein­schaft der First Nati­ons Bestand hatte. Es gab Verwal­ter­schaft, es gab keinen Land­be­sitz. Man kümmerte sich. Es gab Orte, um die sich eine Fami­lie kümmerte und über die sie Auto­ri­tät hatte, weil sie unter ihrer Obhut stand, aber es gab keine harten Gren­zen. Und die einzi­gen Dinge, die man besit­zen konnte, waren Dinge, die man herstellte oder Lebens­mit­tel, die man erntete, aber alle Lebens­mit­tel wurden dank­bar geteilt. Und so ist dieser Anspruch etwas, das uns in der moder­nen Gesell­schaft nicht unbe­dingt dient.

Sylvia Cunningham: Ich möchte unsere Diskus­sion auf die Kunst­aus­stel­lung in der SCHIRN lenken, wo die Arbei­ten der Group of Seven zum ersten Mal in Deutsch­land gezeigt werden. Ich wollte dich zuerst nach deiner ersten Begeg­nung mit der Group of Seven fragen und wie dich deren Arbeit beein­druckt hat?

Jocelyn Joe-Strack: Kunst­werke sind eine so wunder­bare Möglich­keit uns zu verbin­den und ein biss­chen Ruhe und Fragen und Inqui­si­tion zu bieten. Sie bergen auch ein biss­chen den Geist des*der Künst­ler*in oder der Eigen­schaft der Kunst in sich, mit dem man sich verbin­den kann. Und wenn wir darüber nach­den­ken, wie wir versu­chen, ganze Menschen zu sein, ist Kunst ein sehr wich­ti­ger Teil dieser Krea­ti­vi­tät und Erfül­lung. Also ja, ich denke, die Group of Seven hat eine gute Arbeit geleis­tet, indem sie das tran­szen­diert hat, indem sie den Geist und das Leben des Landes in unsere Häuser oder in unsere Museen gebracht hat, damit wir alle daran teil­ha­ben können.

Sylvia Cunningham: Eines der Themen, die die Ausstel­lung „Magne­tic North“ in der SCHIRN unter­sucht, ist der Unter­schied zwischen Land und Land­schaft. Wie siehst du den Unter­schied zwischen diesen beiden?

Jocelyn Joe-Strack: Land und Land­schaft. Ich nehme an, Land­schaft ist etwas, das man betrach­ten oder beob­ach­ten soll. Wohin­ge­gen Land etwas ist, zu dem man eine Bezie­hung haben kann und ein Teil davon ist. Wir haben hier ein Motto, das „Teil des Landes, Teil des Wassers“ heißt. Und selbst in meiner Rolle als Wissen­schaft­le­rin stelle ich fest, dass die Leute immer wollen, dass ich mich mit „Umwelt­über­wa­chung“ oder „Land­ma­nage­ment“ beschäf­tige. Wenn ich dann über Kinder, Gemein­schaft und Unge­rech­tig­keit spre­che, fällt es ihnen schwer, die Verbin­dung zu erken­nen. Aber für mich bedeu­ten gesunde Menschen gesun­des Land. Und so konzen­triert sich meine ganze Ener­gie in Bezug auf den Klima­wan­del auf diese tiefen Werte der Menschen. Das könnte auch ein Teil meiner Mikro­bio­lo­gie sein, wie einfach an die Grund­lage dessen zu gehen, was das Problem ist, und das Problem ist, dass wir in einem System fest­ste­cken, das Werte fördert, die wiederum der Erde scha­den und einan­der scha­den. Also versu­che ich einfach, ein biss­chen mehr Frie­den und Zufrie­den­heit zu schaf­fen, ein biss­chen mehr Lächeln zu verbrei­ten, damit die Kinder von morgen eine bessere Zukunft haben können.

Sylvia Cunningham: Und das ist meine letzte Frage, denn ich weiß, dass du eines der Kinder von morgen warst, als dein Vater für eure Zukunft gekämpft hat. Jetzt hast du zwei Kinder und man könnte sagen, sie sind die Kinder von morgen. Ich frage mich also, wie du darüber nach­denkst, Kinder an der Spitze vieler Bewe­gun­gen zum Klima­wan­del zu sehen, und selbst kleine Kinder zu haben, wie sprichst du mit ihnen über diese Themen und die Art von Zukunft, die du dir für sie wünschst?

Jocelyn Joe-Strack: Nun, ich konzen­triere mich mit meinen Mädchen sehr auf die Werte und den Glau­ben. Der Glaube an das Leben eines Baumes und an die Würde und Auto­no­mie eines Baumes. Die Tatsa­che, dass er ein Leben hat, dass er Gefühle hat, dass er ein Gedächt­nis hat. Die Felsen haben ein Gedächt­nis, ob du es glaubst oder nicht, und ich bin sehr dank­bar, ein Mensch zu sein, der das weiß und die Erin­ne­rung an einen Felsen erlebt hat. Und so mache ich mir in unse­rer Gesell­schaft Sorgen darüber, wie wir unsere Kinder dazu brin­gen, nicht zu glau­ben, und die Wissen­schaft spielt dabei eine Rolle. Wir sagen ihnen, sie sollen an Fakten glau­ben, aber Wissen­schaft ist auch eine Theo­rie. Wir sagen ihnen also, dass sie nicht an den Weih­nachts­mann und die Zahn­fee glau­ben sollen und ich denke, das scha­det ihnen wirk­lich, wenn sie sich weiter­ent­wi­ckeln. Es trennt sie von ihrem Herzen und ihrem Geist. Also erzähle ich meinen Mädchen die Geschich­ten, ich verbinde sie mit dem Land. Ich gehe in die Kinder­gar­ten­klasse meiner Mädchen und bringe alle Schü­ler nach drau­ßen und sage ihnen, dass sie sich einen Baum schnap­pen sollen… Ich sage, OK, du stehst bei diesem Baum, du hältst seine Hand und jetzt atmest du. Ich sage, ihr atmet ein, und dann atmet ihr aus. Und seid still und schaut, ob ihr den Baum mit euch ein- und ausat­men hört. Denn er atmet ein, was du ausat­mest und du atmest ein, was er ausat­met. Und es ist einfach das Schönste, den Kindern zu helfen, zu erken­nen, wie sehr sie mit den Bäumen verbun­den sind und zu ihnen gehö­ren, also ist es das, was ich bei meinen Kindern am meis­ten zu schüt­zen versu­che, ihr Glaube. Ich arbeite auch viel mit Teen­agern und mit Menschen in ihren Zwan­zi­gern. Ich denke, die Zwan­zi­ger sind sehr prägende Jahre der Verwir­rung, also versu­che ich einfach, denje­ni­gen, die verwirrt sind, ein biss­chen Rat und Stabi­li­tät zu geben. Aber eines der größ­ten Dinge, die ich ihnen geben kann, ist ihr Gefühl der Zuge­hö­rig­keit und des Zwecks und der Bedeu­tung in diesem Leben. Für uns ist es die Verbin­dung mit der Kultur und dieser größe­ren Sache von „Heute gemein­sam für unsere Kinder von morgen“ und dass wir zu Verwal­tern werden und unsere Verpflich­tung, das Land zu verwal­ten. Das ist sehr bedeu­tungs­voll und erfül­lend. Das ist das Beste, was ich ihnen geben kann, im Gegen­satz zu unse­rem Bildungs­sys­tem, das von ihnen erwar­tet, entwe­der am Schreib­tisch zu sitzen oder an Maschi­nen zu arbei­ten oder in der Rohstoff­ge­win­nung zu arbei­ten… es ist sehr schwer, einen sinn­vol­len Zweck zu finden. Also ja, das versu­che ich auch zu tun. Das heißt.

Sylvia Cunningham: Joce­lyn Joe-Strack ist eine „Wissen­schaft­le­rin in der Gene­sung“, Anfüh­re­rin und Mitglied der Cham­pa­gne und Aishi­hik First Nation aus dem nord­west­li­chen Yukon.

Critical Land

In der Podcast­reihe „Critical Land“ zur aktu­el­len Ausstel­lung „Magne­tic North“ spricht Sylvia Cunningham u. a. mit SCHIRN-Kura­to­rin Martina Wein­hart, Kunst­his­to­ri­ke­rin Prof. Carmen Robert­son, der Künst­le­rin Caro­line Monnet sowie der Wissen­schaft­le­rin, Philo­so­phin und Unter­neh­me­rin Joce­lyn Joe-Strack und der Cree-Schriftstellerin Jessica Johns über die Male­rei der kana­di­schen Moderne, zeit­ge­nös­si­sche Kunst in Zeiten der Deko­lo­nia­li­sie­rung, das Verhält­nis von Land vs. Land­schaft und den Klima­wan­del aus Indi­ge­ner Perspek­tive. Auf Englisch

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Jocelyn Joe-Strack
© Oriana Fenwick

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