Carol Rama in 10 (F)akten

Carol Rama war eine der provokantesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Hier sind 10 spannende Fakten über ihr Leben und Werk.

02.10.2024

10 min Lesezeit

Carol Rama

1

Frei, unangepasst und bestens informiert

Carol Ramas künst­le­ri­scher Werde­gang zeugt von einer großen Kennt­nis histo­ri­scher und aktu­el­ler Kunst­be­we­gun­gen, wenn­gleich sie die formale Kunst­aus­bil­dung, die sie im Turin der 1930er-Jahre aufge­nom­men hatte, bereits nach kurzer Zeit abbrach. Viel­leicht entwi­ckelte die Ausnah­me­künst­le­rin aus Turin auch deshalb ihre ganz eigene künst­le­ri­sche Spra­che. Ihr auto­di­dak­ti­scher Ansatz gab ihr die Frei­heit, sich abseits akade­mi­scher Normen zu entfal­ten und neue, radi­kale Ausdrucks­for­men zu erschaf­fen, die in keine stilis­ti­sche Schub­lade pass­ten.

Carol Rama. Rebellin der Moderne, Installationsansicht: Carol Rama, Marta, 1940
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

2

Zwischen Provokation und Grenzüberschreitung

Ein beson­de­rer Wesens­zug von Carol Ramas Kunst ist die Faszi­na­tion für das Absei­tige und das Spiel mit der Provo­ka­tion. Bereits ihr Früh­werk beste­hend aus Aqua­rel­len der 1930er- und 1940er-Jahre, zeigt Szenen, die im katho­lisch und faschis­tisch gepräg­ten Italien mit jegli­chen Konven­tio­nen brachen: Momente in der Psych­ia­trie wurden ebenso zum Bild­mo­tiv wie eine schei­ßende Frau oder Figu­ren, die mastur­bie­ren oder andere sexu­elle Hand­lun­gen voll­zie­hen. Rama selbst sagte einst: „Ich habe mich immer für Dinge und Situa­tio­nen begeis­tert, die von ande­ren abge­lehnt wurden.“ Kein Wunder, dass sie in der Forschung häufig in femi­nis­ti­sche Diskurse einge­bun­den wird – ihre Werke sind nicht nur eine Über­schrei­tung gesell­schaft­li­cher Tabus, sondern auch ein Aufbe­geh­ren gegen patri­ar­chale Blick­re­gime, die Frauen als passive Objekte begrei­fen.

Carol Rama, I due Pini (Appassionata) (La signora Macor), 1939, Aquarell, Tempera und Buntstift auf Papier, 33,7 x 23,6 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Pino dell’Aquila

3

Eine Meisterin der Selbstinszenierung

Carol Rama verstand es nicht nur, ihre Kunst zu insze­nie­ren, sondern auch ihre eigene Person. Sie erzählte gerne Geschich­ten aus ihrem Leben, die eine biogra­fi­sche Deutung ihrer Werke nahe­le­gen: Etwa, wenn sie in dem Werk­ti­tel „I due Pini“ den Namen der psych­ia­tri­schen Frau­en­kli­nik aufgreift, in der ihre Mutter tempo­rär unter­ge­bracht war, oder Werke nach Fami­li­en­mit­glie­dern benennt, deren tragi­sche Lebens­ge­schich­ten sie bereit­wil­lig schil­derte. Doch oft bleibt unklar, ob ihre Anek­do­ten nun poeti­sche Erwei­te­run­gen ihrer Kunst oder ihre Werke poeti­sche Verar­bei­tun­gen ihres Lebens sind. Rama selbst sagte einmal, „alles und nichts“ sei „biogra­fisch“. Leben und Werk, Wahr­heit und Fiktion verschmel­zen in ihrem Oeuvre – fast so, als hätte sie auch diese Gren­zen gezielt über­win­den wollen.

Carol Rama, 1930–1931 brevetto n. 7H1261R (Appassionata), 1940, Aquarell und Bleistift auf Papier, 41,5 x 30,5 cm
GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Turin, Leihgabe der Fondazione Guido ed Ettore De Fornaris, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Studio Fotografico Gonella. Reproduced by permission of the Fondazione Torine Musei

4

Eine Skandalöse Legende der Zensur

Eine beson­ders eindrucks­volle, jedoch nicht veri­fi­zierte Anek­dote der rebel­li­schen Künst­le­rin betrifft ihre erste Einzel­aus­stel­lung. Die Schau, die 1945 in Turin über­wie­gend eroti­sche Aqua­relle gezeigt haben soll, sorgte laut Rama für einen Skan­dal, der ihre sofor­tige Schlie­ßung zur Folge hatte. Die Darstel­lung nack­ter, teils frag­men­tier­ter weib­li­cher Körper in sexu­el­len Posen sei dem Vati­kan zu Ohren gekom­men, der sogleich eine Beschwerde einge­reicht habe. Für die konser­va­ti­ven Behör­den ein untrag­ba­rer Zustand, der letzt­lich in der Zensur ihrer Ausstel­lung gemün­det sei. Erst über 30 Jahre später, 1979, wurden die provo­kan­ten Aqua­relle erneut der Öffent­lich­keit präsen­tiert – wieder in Turin und dieses Mal auch umfas­send doku­men­tiert.

Carol Rama, La linea di sete (Die Durststrecke), 1954, Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm
Turin, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Museo Sperimentale. By courtesy of the Fondazione Torino Musei, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Studio Fotografico Gonella. Reproduced by permission of the Fondazione Torine Musei

5

Stilistische Neuerfindung statt Stillstand

Carol Rama durch­lebte viele künst­le­ri­sche Phasen und erfand sich dabei immer wieder neu. Nahezu alle zehn Jahre änderte sie ihren Stil: Ange­fan­gen mit den frühen figu­ra­ti­ven, eroti­schen Aqua­rel­len und nahezu gesichts­lo­sen Anti-Porträts, wendete sie sich in den 1950ern als Mitglied des Movimento Arte Concreta (MAC) zunächst der Abstrak­tion zu, bevor sie sich in den 1960ern und -70ern verschie­de­nen Mate­ri­al­ex­pe­ri­men­ten verschrieb. Diese wurden in den folgen­den Jahr­zehn­ten wiederum von einer Wieder­auf­nahme und Weiter­ent­wick­lung figu­ra­ti­ver Bild­mo­tive und Zeich­nun­gen abge­löst.

Carol Rama, Presso il pungente promontorio orientale (Nahe der schroffen östlichen Landspitze), 1967, Tusche, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 36,5 x 24,5 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Roberto Goffi

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Materialrevolution: Carol Ramas radikale Bricolagen und Gomme

In den 1960er-Jahren begann Carol Rama, mit indus­tri­el­len Mate­ria­lien wie Gummi, Metall, Puppen­au­gen und ande­ren Alltags­ob­jek­ten zu expe­ri­men­tie­ren, was ihr in der Kunst­szene neue Aufmerk­sam­keit verschaffte. Ihre soge­nann­ten „Brico­la­gen“ – ein Begriff, den ihr Freund Edoardo Sangui­neti von Claude Lévi-Strauss über­nahm und auf Ramas neue Werk­reihe anwandte – erwei­ter­ten die klas­si­sche Collage durch den freien Einsatz von Sprüh­farbe, Kleb­stof­fen und montier­ten Objek­ten. Diese inno­va­tive Heran­ge­hens­weise setzte neue Maßstäbe in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst. In den 1970er-Jahren führte Rama ihre Mate­ri­al­ex­pe­ri­mente fort, indem sie für die Werk­gruppe „Gomme“ Fahr­rad- und Auto­rei­fen­schläu­che verwen­dete. Die biomor­phen Formen und die haut­ähn­li­che Mate­ria­li­tät verlei­hen den Werken eine sinn­li­che Quali­tät, die die stren­gen Kompo­si­tio­nen aufbrach und Rama als radi­kale Erneue­rin etablierte.

Carol Rama, Man Ray, 1984, Tusche und Filzstift auf Papier, 22 x 17 cm
Sammlung Mario De Giuli, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Massimo Forchino

7

Mitnichten eine Aussenseiterin

Carol Rama war keines­wegs eine Außen­sei­te­rin. Ein Blick auf die unzäh­li­gen Fotos in ihrem Studio offen­bart die inspi­rie­ren­den sozia­len Kreise, in denen sich die Künst­le­rin bewegte: Neben einer Viel­zahl bekann­ter Persön­lich­kei­ten aus der italie­ni­schen Kunst- und Intel­lek­tu­el­len­szene wie dem Archi­tek­ten und Desi­gner Carlo Mollino oder Kompo­nis­ten Luciano Berio, ist auch Man Ray zu sehen. Die eigen­wil­lige Künst­le­rin pflegte eine beson­dere Freund­schaft mit dem berühm­ten surrea­lis­ti­schen Foto­gra­fen. Die vielen Gesprä­che, Briefe und gemein­sa­men Reisen beein­fluss­ten ihre künst­le­ri­sche Entwick­lung maßgeb­lich und wech­sel­sei­tig.

Goldener Löwe, Bild via taz.de

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Der lange Weg zum Ruhm

Obwohl Carol Rama inner­halb der italie­ni­schen Kunst- und Intel­lek­tu­el­len­szene eine bekannte Größe war, erhielt sie mit ihrem viel­sei­ti­gen Werk erst spät inter­na­tio­nale Aner­ken­nung. Ein Grund dafür waren patri­ar­chale Struk­tu­ren im Kunst­be­trieb, die es Künst­le­rin­nen wie ihr lange erschwer­ten, größere Bekannt­heit zu erlan­gen. Erst 2003, im Alter von 85 Jahren, erhielt sie den Golde­nen Löwen der Bien­nale di Vene­zia für ihr Lebens­werk – zu einer Zeit, als der Diskurs über den weib­li­chen Körper und Geschlech­ter­rol­len an Bedeu­tung gewann und Rama bereits fünf Mal auf der Bien­nale ausge­stellt hatte.

Carol Rama, Senza titolo (Maternità) (Ohne Titel [Mutterschaft]), 1966, Emaillefarbe, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 90 x 70 cm
Privatsammlung, Turin, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Gabriele Gaidano

9

Eine Impulsgeberin für nachfolgende Künstler*innen

Carol Ramas Kunst dreht sich seit jeher um univer­selle Themen wie Sexua­li­tät, Lust, Krank­heit und Tod. Mit ihrem radi­ka­len, oft scho­nungs­lo­sen Blick auf diese Aspekte des Lebens stellte sie gesell­schaft­li­che Normen infrage und schuf Werke, die ihrer Zeit voraus waren. Ramas Ausein­an­der­set­zung mit diesen Themen wurde zu einem wich­ti­gen Impuls für jüngere Künst­le­rin­nenge­ne­ra­tio­nen, die ähnli­che Fragen aus einem dezi­diert femi­nis­ti­schen Blick­win­kel aufgrif­fen.

CAROL RAMA, FOTO: PINO DELL’AQUILA, IMAGE VIA ARTSLIFE.COM

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Ihr Atelier, ein Gesamtkunstwerk in der Vogue

Über 70 Jahre lang lebte und arbei­tete Carol Rama in ihrer Dach­ge­schoss­woh­nung in der Via Napione 15 in Turin. Ihr Zuhause war Atelier und Schatz­kam­mer zugleich, voller alltäg­li­cher Objekte, die sie in ihre Kunst inte­grierte. Mehr noch, die Wohnung wurde gewis­ser­ma­ßen selbst zum Kunst­werk, in dem sich ihr krea­ti­ver Geist frei entfal­ten konnte: Eine Tren­nung zwischen Kunst und Leben schien es auch hier nicht zu geben. Das Studio, das von der italie­ni­schen Vogue als Gesamt­kunst­werk gefea­tured wurde, avan­cierte zum touris­ti­schen Geheim­tipp, nach­dem es der brei­ten Öffent­lich­keit 2019 erst­mals zugäng­lich gemacht wurde.

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