Carol Rama in ihrem Wohnatelier, 1994
© Foto: Pino Dell’Aquila

Carol Rama in 10 (F)akten

02.10.2024

9 min Lesezeit

Carol Rama

Carol Rama war eine der provokantesten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Hier sind 10 spannende Fakten über ihr Leben und Werk.

1

Frei, unangepasst und bestens informiert

Carol Ramas künst­le­ri­scher Werde­gang zeugt von einer großen Kennt­nis histo­ri­scher und aktu­el­ler Kunst­be­we­gun­gen, wenn­gleich sie die formale Kunst­aus­bil­dung, die sie im Turin der 1930er-Jahre aufge­nom­men hatte, bereits nach kurzer Zeit abbrach. Viel­leicht entwi­ckelte die Ausnah­me­künst­le­rin aus Turin auch deshalb ihre ganz eigene künst­le­ri­sche Spra­che. Ihr auto­di­dak­ti­scher Ansatz gab ihr die Frei­heit, sich abseits akade­mi­scher Normen zu entfal­ten und neue, radi­kale Ausdrucks­for­men zu erschaf­fen, die in keine stilis­ti­sche Schub­lade pass­ten.

Carol Rama. Rebellin der Moderne, Installationsansicht: Carol Rama, Marta, 1940
© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

2

Zwischen Provokation und Grenzüberschreitung

Ein beson­de­rer Wesens­zug von Carol Ramas Kunst ist die Faszi­na­tion für das Absei­tige und das Spiel mit der Provo­ka­tion. Bereits ihr Früh­werk beste­hend aus Aqua­rel­len der 1930er- und 1940er-Jahre, zeigt Szenen, die im katho­lisch und faschis­tisch gepräg­ten Italien mit jegli­chen Konven­tio­nen brachen: Momente in der Psych­ia­trie wurden ebenso zum Bild­mo­tiv wie eine schei­ßende Frau oder Figu­ren, die mastur­bie­ren oder andere sexu­elle Hand­lun­gen voll­zie­hen. Rama selbst sagte einst: „Ich habe mich immer für Dinge und Situa­tio­nen begeis­tert, die von ande­ren abge­lehnt wurden.“ Kein Wunder, dass sie in der Forschung häufig in femi­nis­ti­sche Diskurse einge­bun­den wird – ihre Werke sind nicht nur eine Über­schrei­tung gesell­schaft­li­cher Tabus, sondern auch ein Aufbe­geh­ren gegen patri­ar­chale Blick­re­gime, die Frauen als passive Objekte begrei­fen.

Carol Rama, I due Pini (Appassionata) (La signora Macor), 1939, Aquarell, Tempera und Buntstift auf Papier, 33,7 x 23,6 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Pino dell’Aquila

3

Eine Meisterin der Selbstinszenierung

Carol Rama verstand es nicht nur, ihre Kunst zu insze­nie­ren, sondern auch ihre eigene Person. Sie erzählte gerne Geschich­ten aus ihrem Leben, die eine biogra­fi­sche Deutung ihrer Werke nahe­le­gen: Etwa, wenn sie in dem Werk­ti­tel „I due Pini“ den Namen der psych­ia­tri­schen Frau­en­kli­nik aufgreift, in der ihre Mutter tempo­rär unter­ge­bracht war, oder Werke nach Fami­li­en­mit­glie­dern benennt, deren tragi­sche Lebens­ge­schich­ten sie bereit­wil­lig schil­derte. Doch oft bleibt unklar, ob ihre Anek­do­ten nun poeti­sche Erwei­te­run­gen ihrer Kunst oder ihre Werke poeti­sche Verar­bei­tun­gen ihres Lebens sind. Rama selbst sagte einmal, „alles und nichts“ sei „biogra­fisch“. Leben und Werk, Wahr­heit und Fiktion verschmel­zen in ihrem Oeuvre – fast so, als hätte sie auch diese Gren­zen gezielt über­win­den wollen.

Carol Rama, 1930–1931 brevetto n. 7H1261R (Appassionata), 1940, Aquarell und Bleistift auf Papier, 41,5 x 30,5 cm
GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Turin, Leihgabe der Fondazione Guido ed Ettore De Fornaris, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Studio Fotografico Gonella. Reproduced by permission of the Fondazione Torine Musei

4

Eine Skandalöse Legende der Zensur

Eine beson­ders eindrucks­volle, jedoch nicht veri­fi­zierte Anek­dote der rebel­li­schen Künst­le­rin betrifft ihre erste Einzel­aus­stel­lung. Die Schau, die 1945 in Turin über­wie­gend eroti­sche Aqua­relle gezeigt haben soll, sorgte laut Rama für einen Skan­dal, der ihre sofor­tige Schlie­ßung zur Folge hatte. Die Darstel­lung nack­ter, teils frag­men­tier­ter weib­li­cher Körper in sexu­el­len Posen sei dem Vati­kan zu Ohren gekom­men, der sogleich eine Beschwerde einge­reicht habe. Für die konser­va­ti­ven Behör­den ein untrag­ba­rer Zustand, der letzt­lich in der Zensur ihrer Ausstel­lung gemün­det sei. Erst über 30 Jahre später, 1979, wurden die provo­kan­ten Aqua­relle erneut der Öffent­lich­keit präsen­tiert – wieder in Turin und dieses Mal auch umfas­send doku­men­tiert.

Carol Rama, La linea di sete (Die Durststrecke), 1954, Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm
Turin, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea, Museo Sperimentale. By courtesy of the Fondazione Torino Musei, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Studio Fotografico Gonella. Reproduced by permission of the Fondazione Torine Musei

5

Stilistische Neuerfindung statt Stillstand

Carol Rama durch­lebte viele künst­le­ri­sche Phasen und erfand sich dabei immer wieder neu. Nahezu alle zehn Jahre änderte sie ihren Stil: Ange­fan­gen mit den frühen figu­ra­ti­ven, eroti­schen Aqua­rel­len und nahezu gesichts­lo­sen Anti-Porträts, wendete sie sich in den 1950ern als Mitglied des Movimento Arte Concreta (MAC) zunächst der Abstrak­tion zu, bevor sie sich in den 1960ern und -70ern verschie­de­nen Mate­ri­al­ex­pe­ri­men­ten verschrieb. Diese wurden in den folgen­den Jahr­zehn­ten wiederum von einer Wieder­auf­nahme und Weiter­ent­wick­lung figu­ra­ti­ver Bild­mo­tive und Zeich­nun­gen abge­löst.

Carol Rama, Presso il pungente promontorio orientale (Nahe der schroffen östlichen Landspitze), 1967, Tusche, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 36,5 x 24,5 cm
Privatsammlung, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Roberto Goffi

6

Materialrevolution: Carol Ramas radikale Bricolagen und Gomme

In den 1960er-Jahren begann Carol Rama, mit indus­tri­el­len Mate­ria­lien wie Gummi, Metall, Puppen­au­gen und ande­ren Alltags­ob­jek­ten zu expe­ri­men­tie­ren, was ihr in der Kunst­szene neue Aufmerk­sam­keit verschaffte. Ihre soge­nann­ten „Brico­la­gen“ – ein Begriff, den ihr Freund Edoardo Sangui­neti von Claude Lévi-Strauss über­nahm und auf Ramas neue Werk­reihe anwandte – erwei­ter­ten die klas­si­sche Collage durch den freien Einsatz von Sprüh­farbe, Kleb­stof­fen und montier­ten Objek­ten. Diese inno­va­tive Heran­ge­hens­weise setzte neue Maßstäbe in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst. In den 1970er-Jahren führte Rama ihre Mate­ri­al­ex­pe­ri­mente fort, indem sie für die Werk­gruppe „Gomme“ Fahr­rad- und Auto­rei­fen­schläu­che verwen­dete. Die biomor­phen Formen und die haut­ähn­li­che Mate­ria­li­tät verlei­hen den Werken eine sinn­li­che Quali­tät, die die stren­gen Kompo­si­tio­nen aufbrach und Rama als radi­kale Erneue­rin etablierte.

Carol Rama, Man Ray, 1984, Tusche und Filzstift auf Papier, 22 x 17 cm
Sammlung Mario De Giuli, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Massimo Forchino

7

Mitnichten eine Aussenseiterin

Carol Rama war keines­wegs eine Außen­sei­te­rin. Ein Blick auf die unzäh­li­gen Fotos in ihrem Studio offen­bart die inspi­rie­ren­den sozia­len Kreise, in denen sich die Künst­le­rin bewegte: Neben einer Viel­zahl bekann­ter Persön­lich­kei­ten aus der italie­ni­schen Kunst- und Intel­lek­tu­el­len­szene wie dem Archi­tek­ten und Desi­gner Carlo Mollino oder Kompo­nis­ten Luciano Berio, ist auch Man Ray zu sehen. Die eigen­wil­lige Künst­le­rin pflegte eine beson­dere Freund­schaft mit dem berühm­ten surrea­lis­ti­schen Foto­gra­fen. Die vielen Gesprä­che, Briefe und gemein­sa­men Reisen beein­fluss­ten ihre künst­le­ri­sche Entwick­lung maßgeb­lich und wech­sel­sei­tig.

Goldener Löwe, Bild via taz.de

8

Der lange Weg zum Ruhm

Obwohl Carol Rama inner­halb der italie­ni­schen Kunst- und Intel­lek­tu­el­len­szene eine bekannte Größe war, erhielt sie mit ihrem viel­sei­ti­gen Werk erst spät inter­na­tio­nale Aner­ken­nung. Ein Grund dafür waren patri­ar­chale Struk­tu­ren im Kunst­be­trieb, die es Künst­le­rin­nen wie ihr lange erschwer­ten, größere Bekannt­heit zu erlan­gen. Erst 2003, im Alter von 85 Jahren, erhielt sie den Golde­nen Löwen der Bien­nale di Vene­zia für ihr Lebens­werk – zu einer Zeit, als der Diskurs über den weib­li­chen Körper und Geschlech­ter­rol­len an Bedeu­tung gewann und Rama bereits fünf Mal auf der Bien­nale ausge­stellt hatte.

Carol Rama, Senza titolo (Maternità) (Ohne Titel [Mutterschaft]), 1966, Emaillefarbe, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand, 90 x 70 cm
Privatsammlung, Turin, © Archivio Carol Rama, Torino, Foto: Gabriele Gaidano

9

Eine Impulsgeberin für nachfolgende Künstler*innen

Carol Ramas Kunst dreht sich seit jeher um univer­selle Themen wie Sexua­li­tät, Lust, Krank­heit und Tod. Mit ihrem radi­ka­len, oft scho­nungs­lo­sen Blick auf diese Aspekte des Lebens stellte sie gesell­schaft­li­che Normen infrage und schuf Werke, die ihrer Zeit voraus waren. Ramas Ausein­an­der­set­zung mit diesen Themen wurde zu einem wich­ti­gen Impuls für jüngere Künst­le­rin­nenge­ne­ra­tio­nen, die ähnli­che Fragen aus einem dezi­diert femi­nis­ti­schen Blick­win­kel aufgrif­fen.

CAROL RAMA, FOTO: PINO DELL’AQUILA, IMAGE VIA ARTSLIFE.COM

10

Ihr Atelier, ein Gesamtkunstwerk in der Vogue

Über 70 Jahre lang lebte und arbei­tete Carol Rama in ihrer Dach­ge­schoss­woh­nung in der Via Napione 15 in Turin. Ihr Zuhause war Atelier und Schatz­kam­mer zugleich, voller alltäg­li­cher Objekte, die sie in ihre Kunst inte­grierte. Mehr noch, die Wohnung wurde gewis­ser­ma­ßen selbst zum Kunst­werk, in dem sich ihr krea­ti­ver Geist frei entfal­ten konnte: Eine Tren­nung zwischen Kunst und Leben schien es auch hier nicht zu geben. Das Studio, das von der italie­ni­schen Vogue als Gesamt­kunst­werk gefea­tured wurde, avan­cierte zum touris­ti­schen Geheim­tipp, nach­dem es der brei­ten Öffent­lich­keit 2019 erst­mals zugäng­lich gemacht wurde.