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AUF ZEITREISE ZWISCHEN FAKT UND FIKTION

19.08.2011

3 min Lesezeit

Die britische Künstlerin Suzanne Treister knüpft mit ihren Werken in der Ausstellung „Geheimgesellschaften“ ein gigantisches narratives Netz.

”While I was planning my trip to the Russian Revolution I tried a test run and mistakenly ended up on the set of Doctor Zhivago in 1965. I enjoyed the night life in Madrid, where the film was shot, and returned the following week for a party.“ Was sich anhört wie eine Passage aus einem Science-Fiction-Roman ist ein Eintrag im Online-Tagebuch von Rosalind Brodsky, Suzanne Treisters fiktionalem Alter-Ego. Im Auftrag des ebenso fiktiven „Institute of Militronics and Advanced Time Interventionality“ unternimmt sie Zeitreisen in die Vergangenheit – manchmal landet sie mit ihrem „Electronic Time Travelling Costume“ auch in der Gegenwart. Treisters ungewöhnliches Kunstprojekt heißt “Hexen2039. New military-occult technologies for psychological warfare. A Rosalind Brodsky research programme.“ Es ist eine fingierte, in der Zukunft durchgeführte Studie und so komplex wie der Titel ahnen lässt.

Brodsky alias Treister erforscht Querverbindungen zwischen okkulten Riten, Militär-Technologien, historischen Persönlichkeiten, Politik, Philosophie und Psychoanalyse. Unter ihren Rechercheergebnissen finden sich auch Referenzen zur Filmindustrie. Dass solche Kontextualisierungen nicht so abwegig sind, wie es auf den ersten Blick scheint, zeigt die Künstlerin mit Information zu Techniken psychologischer Kriegsführung, die zum Bespiel im Irak, in Abu Ghraib und Guantanamo eingesetzt wurden. Ihre Themen und Motive präsentiert Treister in einem vielfältigen Werkkomplex. Dazu zählen Fotografien, Performances, Installationen, ein Buch, ein Film, bei Ebay ersteigerte okkulte Objekte, Webseiten und großformatige Tuschezeichnungen. Zwei davon sind in der Ausstellung „Geheimgesellschaften“ zu sehen. Darin knüpft sie ein vielschichtiges Netz aus Porträtzeichnungen von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Grigori Rasputin, Johann Wolfgang von Goethe oder Queen Elisabeth I und handgeschriebenen Daten und Codes aus Geheimlehren wie der jüdischen Kabbala. Die Künstlerin visualisiert eine Parallelwelt neben der medial vermittelten und manipulierten Wirklichkeit. Fakt und Fiktion verschwimmen. Dafür steht auch die Protagonistin Rosalind Brodsky: Sie trägt den Namen von Treisters jüdischer Großmutter, die dem Holocaust zum Opfer fiel.

Der Werkkomplex sprengt tradierte inhaltliche und formale Grenzen. Treister nutzt historische Fakten wie Marcel Duchamp einst seine Readymades – das bekannteste dieser zum Kunstwerk erhobenen alltäglichen Gegenstände ist sein Porzellan-Urinal. Er stellte damit die Vorstellung dessen, wie und was ein Kunstwerk ist, vor fast 100 Jahren grundlegend in Frage und bereitete den Weg für ein neues Verständnis von bildender Kunst. „Hexen2039″ stellt mit Genreexperimenten und der schier erschlagenden Informationstiefe eine ähnliche Frage. Treister hat mit den Erlebnissen der zeitreisenden Rosalind Brodsky ein verzweigtes narratives Konstrukt geschaffen, das auch mit Mitteln der Literatur arbeitet. Ihr Werk verlangt ein gehöriges Maß an „Willing Suspension of Disbelief“. Der englische Dichter und Literaturkritiker Samuel Taylor Coleridge führte die berühmte Formel für den Zustand ein, in dem ein ­­Leser die Bedingungen der Wirklichkeit hinter sich lässt und fantastische Vorgaben akzeptiert, um ganz in die imaginierte Welt eines Romans einzusteigen. Genau das ist auch bei Treister der Fall: Man muss sich auf ihre Welt einlassen, um ihre Kunst erfassen zu können.

Zu sehen sind die Werke „Hexen2039/Diagram/Dr John Dee“ und „Hexen2039/Diagram“ in der Ausstellung „Geheimgesellschaften“ in der SCHIRN Kunsthalle noch bis zum 25. September 2011.

Das umfangreiche Projekt HEXEN2039 von Suzanne Treister finden Sie hier: www.hexen2039.net