Leicht hat sie es sich und ihrem Publikum nie gemacht. Mal ganz abgesehen vom expressiven Gesang und diversen bizarren Sperenzchen optischer Art gehört Björk Guðmundsdóttir zu den wenigen Musikern, die sich selbst mit jedem Album herausfordern, auch wenn sie dem Rest der Welt damit gehörig auf die Nerven gehen. Das war bereits beim urbanen Pop ihres ersten Soloalbums „Debut“ (1993) und dem eklektizistischen Stil-Mix von „Post“ (1995) so, stärker noch bei den aggressiven Befindlichkeitsbeats von „Homogenic“ (1997) und der elektronischen Kammermusik auf „Vespertine“ (2001). Danach folgten immer eigensinnigere Werke, die mit ihrem konzeptuellen Übergewicht nicht selten Gefahr liefen, die eigentlichen Songs unter sich zu begraben. Man denke nur an das komplett mundgeblasene Machwerk „Medúlla“ (2004) und den gänzlich zur E-Musik erstarrten Soundtrack zum gemeinsamen Kunstfilm „Drawing Restraint 9″ mit Ehemann Matthew Barney.
Björk und Gabríela Friðriksdóttir
Interessanterweise markiert die Zusammenarbeit Björks mit ihrer Cousine Gabríela Friðriksdóttir (die beiden Großväter waren Brüder) die einzige Zäsur in ihrem bislang so rastlosen Schaffen: Die optische Repräsentation der 2002 erschienenen CD „Greatest Hits“ sowie des Boxsets „Family Tree“ – die mit ihrer Tochter Isadora hochschwangere Musikerin nahm sich eine kreative Auszeit – wurde vertrauenswürdig in die Hände der befreundeten Künstlerin gelegt. Die Gemeinsamkeiten von Friðriksdóttir und Guðmundsdóttir liegen für Björk auf der Hand: „Gabríela also had to struggle with the four branches“, stellt sie auf ihrer Homepage fest, „being an Icelandic artist, having Icelandic roots, which are mostly caught up these sagas and mythology, having to face the fact that there is no such thing as Icelandic modern art, so you can invent it – just like I did with Icelandic pop music.“ So nahm Gabríela Friðriksdóttir mit vorhandenen wie eigens angefertigten Zeichnungen, Gemälden, Skulpturen sowie Fotografien eine eindrückliche Covergestaltung vor – eine absolute Ausnahme, war doch vorher und nachher allein das Antlitz der Künstlerin als Aushängeschild erlaubt.
Björk revanchierte sich mit einem Auftritt im Kurzfilm „North“, der neben drei weiteren Filmen zentraler Bestandteil der Multimedia-Installation „Versations/Tetralogia“ war, mit dem Gabríela Friðriksdóttir 2005 den isländischen Pavillon der Venedig-Biennale bespielte. Von der Künstlerin umgeschnitten wurde das Video wenig später ein Clip zum Björk-Song „Where is the Line“. Die sphärische Ambient-Musik aus „North“, zur Biennale auf CD erschienen und längst vergriffen, hat Björk auf Basis von Piano-Improvisationen von Friðriksdóttir angefertigt.
Björks Album stellt die Zukunft der Musikindustrie in Frage
Und nun, rechtzeitig zum Ehrengastaufritt Islands bei der Frankfurter Buchmesse sowie der Schirn-Ausstellung von Gabríela Friðriksdóttir, veröffentlicht der einzige international renommierte Popstar der nordischen Insel mit „Biophilia“ sein siebtes Studioalbum. Wobei der Begriff Album diesem konzeptuell anspruchsvollsten Projekt von Björks Karriere nur schwerlich gerecht wird, stellt das multimediale Gesamtpaket doch gleich die gesamte Zukunft der Musikindustrie in Frage.
Für die 45-Jährige stellt „Biophilia“ nicht weniger als den Versuch dar, Technologie, Natur und Musik unter einen Hut zu bringen. Die zehn neuen Songs erscheinen nicht nur auf herkömmlichen Tonträgern – in fünffacher Ausfertigung von der bloßen CD bis zur sündhaft teuren Box aus handgeschnitzter Eiche mit je einer Stimmgabel pro Song - jeder einzelne wurde auch auch als iPod/iPad-App veröffentlicht, die die Sängerin mit App-Designern und Wissenschaftlern entwickelt hat. Damit sollen nicht nur Kinder die Möglichkeit haben, auf ihren Tablet-Computern aktiv wie kreativ mit der Musik zu experimentieren.
Solarstrom und zweckentfremdete Spieluhren
Doch auch für Björk ist das Projekt nach vier Jahren Entwicklungszeit noch nicht abgeschlossen. Im Sommer hat sie im Rahmen des Manchester International Festival das Projekt „Biophilia“ erstmals live vorgestellt – mit isländischem Frauenchor, Laptop und einer Armada neu erfundener Instrumente: von einem Leuchttisch, der als Touchscreen dient, werden durch Handauflegen so schräge wie spektakuläre Skulpturen wie an Holzpfählen befestigte Harfensaiten, blitzende Tesla-Spulen oder zweckentfremdete Spieluhren und Grammophone zum Tönen gebracht – freilich von Solarstrom betrieben. Mit diesem ökologischen Gerätepark will Guðmundsdóttir nun drei Jahre auf weltweite Tournee gehen; in acht verschiedenen Städten soll für die Dauer von jeweils sechs Wochen „Biophilia“ zwei Mal pro Woche live aufgeführt und weiterentwickelt werden. Die Shows sollen in eigens dafür ausgesuchten Räumlichkeiten und Museen stattfinden, Vorträge, Seminare und Workshops das Gesamtbild abrunden. Ganz nebenbei schafft die Künstlerin, die in ihrer neuen optischen Inkarnation aussieht wie eine Mischung aus Vivienne Westwood und Madame Curie, auch das klassische Albumformat ab, stellt vielmehr noch die Notwendigkeit der ohnehin krisengebeutelten Musikindustrie in Frage, die an diesem Projekt nur einen kleinen Anteil und somit auch nur eine geringe Gewinnbeteiligung trägt.
Das furchtlose Erforschen der Grenzen
Alle, die ob solch kreativer Ruhelosigkeit und überkandideltem Konzeptwillen schon längst das Handtuch geworfen haben, werden in diesen Tagen und Wochen anlässlich der vielen isländischen Literaten, Theatermacher, Tänzer, Architekten, Designer und eben Künstler wie Gabríela Friðriksdóttir und Erró, die sich zur Frankfurter Buchmesse präsentieren, verdutzt feststellen, dass dieses Phänomen mitnichten nur auf Björk beschränkt ist. Vielmehr scheint das furchtlose Erforschen und ungehemmte Überschreiten jeglicher Genre-, Stil- und Mediengrenzen eine ganz natürliche Haltung der isländischen Kulturnation zu sein, die nach jahrhundertelanger Isolation umso lustvoller mit den mitteleuropäischen Traditionen und Auswüchsen der Moderne spielt. Kaum verwunderlich also, dass auch Gabríela Friðriksdóttir das Björk’sche App-Opus als „magnificent musical laboratory“ gutheißt.