Die bildende Kunst und der Comic hatten es noch nie einfach miteinander. Das liegt auch an der Tatsache, dass das Medium Comic als Hybrid aus Kunst- und Erzählform immer wieder stark mit der Literatur flirtet. Dieser Hang zum Narrativen verhinderte die Wahrnehmung als Einzelkunstwerk. Zudem war der Comic auch im zwanzigsten Jahrhundert ein Kind der Massenmedien – er begann als Strip in der Zeitung und erschien in Fortsetzungen dann im Heft, dem comic book, oder in Kinder- und Jugendzeitschriften. Von daher fehlt in kaum einer kunsthistorischen Darstellung der Verweis auf high und low culture. Wohin der Comic gehört, ist offensichtlich.
Die Ausstellung „Funny Cuts“, die 2004/05 in der Staatsgalerie Stuttgart gezeigt wurde, versuchte den Einfluss von „Cartoons and Comics in Contemporary Art“ aufzuzeigen. Dabei ging es in erster Linie um Bilder, die aus den Comics gelöst werden, um auf der Leinwand neue Sinnzusammenhänge zu bilden. Nicht selten wurden dabei die Bilder zur Kritik einer Massenkultur umgedeutet. Interessant ist, dass zumeist in der Darstellung von Comic-Elementen das wichtigste Merkmal der Comics wegfällt: Das Erzählen mit Einzelbildern, den Panels, in denen sich Text und Bild vereinen. Aus diesem Grunde wurde mit der Vereinahmung von Comic-Bildern durch die Pop-Art hauptsächlich das Plakative der Einzelbilder hervorgehoben und deren Charakter überhöht.
Erró nähert sich dem Comic auf zweierlei Weise
In der Stuttgarter Ausstellung wurden Bilder des Isländers Guðmundur Guðmundsson alias Erró gezeigt, dem nun auch die Ausstellung „Erró. Porträt und Landschaft“ in der SCHIRN Kunsthalle Frankfurt gewidmet ist. Auch Erró nähert sich dem Comic, er tut es aber auf zweierlei Weise. Einerseits sind bei ihm die Figuren selbst schon mit Bedeutung aufgeladen, mit der Darstellung dieser in anderen Kontexten erzeugt er neue Bedeutungen. So paart er nackte verfremdete Frauenkörper aus der Serie „Little Annie Fanny“ von Harvey Kurtzman mit Tierillustrationen und Zeichnungen Picassos in „Lovescape“ (1973/74), oder er lässt in „Fishscape“ (1974) martialisch wirkende Fallschirmspringer aus militärischen Marvel-Comics landen und schießen. Ähnlich verfährt er mit der Figur des „Ghost Rider“, einem motorradfahrendem Superhelden mit brennendem Totenschädel, der in „Reaganscape“ (1986) über gezeichneten Karikaturen von Ronald Reagan Feuerbälle auf die Freiheitsstatue abschießt. So nutzt Erró amerikanische Comics als kommentierendes Element in seinem Werk.
Auf der anderen Seite gibt es riesige Comic-Panoramen, bevölkert mit Comicfiguren, mit denen Erró die Welt der Comics abzubilden versucht. Bei diesen Werken geht es allein um den Comic und es wäre eine Freude für alle Comic-Fans hier ein Namedropping zu betreiben und die Vielzahl der dargestellten Figuren aufzuzählen. In dem Werk „Comicscape“ (1972) geht es um nicht weniger als um die Darstellung einer Comic-Kultur. Erró schöpft aus verschiedenen Epochen und stellt Figuren von den frühen Zeitungscomics neben Cartoonfiguren, die im Zeichentrick das Licht der Welt erblickten, um dann auch zu Funny-Comics zu werden, daneben streift er noch vereinzelt die Superheldencomics und die Undergroundcomix der Gegenkultur. Damit umreißt er einmal grob das Repertoire des populären Comics zu Beginn der 1970er-Jahre in Amerika. Dass er dabei vereinzelt auf Figuren aus der franko-belgischen Comic-Tradition zurückgreift (etwa rechts unten Asterix) zeichnet ihn als Liebhaber aus, der zudem auch die verschiedenen Comic-Kulturen im Blick hat.
Erró kartographiert den Comic
Im Gegensatz zu den erzählenden Panels im Comic wählt Erró das Einzelbild, das er in „Comicscape“ wie eine Landschaft bis zum Horizont hin ausbreitet. Die im Kopf des Bildes dargestellten kosmischen Panels bilden sozusagen den Himmel über der Comiclandschaft, ein Himmel mit Explosionen und Raumschiffen, denn im Comic ist das Universum nicht unbelebt, es zeichnet sich vielmehr durch ständige Bewegung aus.
Indem Erró die Comics von der Sequentialität befreit und sie wie ein Mosaik nebeneinander ausbreitet, kartographiert er auch den Comic und weist ihm eine eigene Welt zu. Über dieser Welt fliegen vereinzelte Flugobjekte und landen rechts unten, und was eignet sich besser um auf die Besonderheit des Comics hinzuweisen, als Popeye, mit seinem Adoptivsohn auf dem Rücken, fliegend, die Pfeife im Mund wie ein Propeller bewegend. Im Comic, so zeigt uns dieses Bild, ist scheinbar alles möglich.
Die Darstellung von Comics als Mosaik lässt den Künstler nicht los, und in „French Comicscape“ (1985) nimmt er sich die franko-belgische Comic-Kultur vor, die er ebenfalls in einer Vielzahl von Vignetten abbildet. Doch hier entsteht keine Landschaft, es ist vielmehr ein Labyrinth aus Würfeln. Auf diese Würfel sind wiederum die einzelnen Facetten des französischen und belgischen Comics gemalt. Links oben der Ahnvater dieser Tradition, der Belgier Hergé mit einer der wenigen sequentiellen Bildfolgen die Erró abbildet. Darunter dann die ganze Vielfalt aus den berühmten Schulen des franko-belgischen Comics: Der Brüsseler Schule, die um den Zeichner Hergé entstanden ist, der für das Prinzip der Ligne Claire, der klaren Linie, verantwortlich war. Daneben die Zeichner der École de Marcinelle, die allesamt im Magazin „Spirou“ veröffentlichten, und deren Strich dynamischer und karikierender war. Zu diesen Zeichnern gehören Franquin („Gaston“) oder Peyo („Die Schlümpfe“).
Das Labyrinth ist geradezu übervölkert von Figuren
„French Comicscape“ besticht durch eine beinahe intime Kenntnis der Figuren und in diesem Bild zeigt sich erneut der große Enthusiasmus des Künstlers gegenüber den Comics. Auch hier werden wieder verschiedene Epochen nebeneinander gestellt. So gibt es nicht nur den Comic für Jugendliche, sondern auch den seit den 1960er-Jahren verstärkt aufkommenden Erwachsenencomic, exemplarisch dafür stehen die Künstler Jacques Tardi, Moebius oder J.C. Forest, der mit „Barbarella“ den Startschuss gab. Das Labyrinth, das Erró darstellt, ist geradezu übervölkert von Figuren, deshalb drängeln sie sich auch am unteren Bildrand und drohen aus dem Bild herauszufallen. Die Vielfalt des franko-belgischen Comics lässt sich nur schwer auf einem Bild einfangen.
Was füe den Laien wie ein scheinbar wahlloses Nebeneinander von Figuren wirkt, bietet aber dem Kenner dieser Bilder und Vignetten interessante Zusammenhänge. Erró zeigt dem Betrachter Ähnlichkeitsbeziehungen der Figuren auf, etwa, indem er Frauentypen aus den Comics von Goscinny/Uderzo und Tardi nebeneinander stellt. Es wird deutlich, dass die draufgängerische „Adele“ dieselben Wurzeln hat wie die Häuptlingsfrau „Gutemine“ – sie sind Comicfiguren. Der babyfütternde Asterix in der Mitte des Bildes steht demnach für den einzigartigen Erfolg dieser Serie, die mitverantwortlich für den anhaltenden Boom der Comics im französischen Sprachraum ist.
Zu Beginn der 1990er-Jahre scheint sich aber das Interesse an Comic-Elementen von Erró zu verlagern. Durch die weltpolitische Situation geprägt, werden seine Bilder wieder kritischer – und düsterer. „Darkdreamscape“ (1992) spielt mit einzelnen Comic-Elementen, allerdings werden hier die Figuren so verdichtet, als würde es sich um ein Schlachtengemälde handeln. Mit panelartigen Einschüben bildet Erró hauptsächlich Krieger aus amerikanischen Comics ab, etwa „Conan, der Barbar“. Von der idealistischen Übersicht kehrt der Künstler ab und nutzt die Figuren wieder in kommentierender Funktion.
Fremdartige Wesen bevölkern das Bild
Auch als Bildnis des absoluten Overkills dienen die Comicbilder, das zeigt das überdimensionale „Sciencefictionscape“ (1992). Hier zeigt sich zwar eine Vorliebe für Science-Fiction-Comics der 1980er-Jahre – wobei natürlich auch Figuren von Jack Kirby aus den 1960ern nicht fehlen dürfen –, aber im Gegensatz zu seinen früheren Scapes montiert Erró ganze Bildsequenzen zusammen. Er stellt die Zukunftsvisionen des amerikanischen Superheldencomics gegeneinander, wobei er aber weniger auf Vignetten von Figuren zurückgreift, sondern gleich ganze Panels oder Titelbilder verwendet, deshalb ist das Werk auch mit einer großen Dynamik erfüllt. Fremdartige Wesen bevölkern das Bild, und es wirkt wie eine einzige Invasion. Erró verabschiedet sich von der enzyklopädischen Herangehensweise und auch vom Idealismus den Comics gegenüber. Die Bildkultur der Comics ist nur dazu geeignet, denn Irrsinn der Moderne festzuhalten. Und wo ist dieser Irrsinn besser dargestellt, als in den Superheldencomics?
Erró hat mit seinen Comicscapes tatsächlich einen „weltumfassenden Bildkatalog“ geschaffen, wie der Schriftsteller Alain Jouffroy schrieb. Doch als hätte er gewusst, dass diese Welt niemals endet, hat er sich anderen Themen zugewandt. So stehen die Scapes einzigartig in der Kunstwelt da, weil sie das Wesen des Comics in seiner Gänze erfassen wollten und weil sie zu ihrer Zeit Gegenwartsbeschreibungen des Comics waren. Mittlerweile erobert der Comic selbst auch Museen, die große Ausstellung über Robert Crumb („Yeah, but is it Art?“) 2004 in Köln ist nur ein Indiz dafür. Künstlern wie Erró ist dabei zu danken, denn seine Scapes sorgten dafür, dass der Comic innerhalb der bildenden Kunst mehr Aufmerksamkeit erhielt. Und auch, weil Erró die Spielerei mit Comic-Elementen schlicht und ergreifend aus Zuneigung zu diesem Medium tat.
Über den Autor
Klaus Schikowski (Jahrgang 1966) veröffentlicht regelmäßig Beiträge über Comics in Magazinen, Anthologien, Lexika und Tageszeitungen. Zudem hält er auch Vorträge über Comics und konzipiert Ausstellungen zum Thema. 2009 erschien sein erstes Buch „Die großen Künstler des Comics“ (edel) und 2011 eine Einführung für Kinder: „Pixi Wissen: Comic & Manga“. Klaus Schikowski lebt als Comic-Publizist und freier Redakteur in Köln.