Fünf Fragen an Salma Lahlou von Thin­kArt Casa­blanca

05.09.2024

13 min Lesezeit

Salma Lahlou

Salma Lahlou beschäftigt sich in ihren Ausstellungen und Forschungsprojekten seit vielen Jahren mit der Casablanca Art School. Wir haben mit ihr über ihre erste Begegnung mit der Kunsthochschule und über das bedeutende Vermächtnis und Potenzial gesprochen, das ihre Lehre für das heutige Marokko besitzt.

1.
Salma Lahlou, Sie sind unab­hän­gige Kura­to­rin und Direk­to­rin von Thin­kArt Casa­blanca. Bis Mitte Januar diesen Jahres war die Ausstel­lung „School of Casa­blanca“ in der ifa-Gale­rie in Berlin zu sehen, die Sie und Thin­kArt in Zusam­men­ar­beit mit dem KW Insti­tute of Contem­porary Art (Kunst-Werke Berlin), der Shar­jah Art Foun­da­tion, der ifa-Gale­rie, dem Goethe-Insti­tut Marokko und Zamân Books & Cura­ting orga­ni­siert haben. Wann sind Sie der Casa­blanca Art School zum ersten Mal begeg­net und was hat Sie dazu inspi­riert, dieses umfang­rei­che Forschungs- und Ausstel­lungs­pro­jekt zu reali­sie­ren?

Salma Lahlou

Meine erste Begeg­nung mit der Casa­blanca Art School fand 2015 statt. Anläss­lich der Marra­kesch Bien­nale 6 mit dem Titel „Not New Now?“ (Februar – Juni 2016) wurden Fatima-Zahra Lakrissa und ich von Reem Fadda einge­la­den, eine Ausstel­lung über die Hoch­schule und die Menschen zu kura­tie­ren, die ihren neuen Lehr­an­satz präg­ten.

Die in den 1920er-Jahren von den fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­be­hör­den gegrün­dete und 1951 offi­zi­ell einge­weihte École muni­ci­pale des beaux-arts de Casa­blanca (Kunst­hoch­schule von Casa­blanca) spielte eine entschei­dende Rolle für eine inno­va­tive neue Epis­te­mo­lo­gie kultu­rel­ler Diszi­pli­nen, voran­ge­trie­ben von einer ganzen Gene­ra­tion von Künst­ler*innen, Dich­ter*innen, Filme­ma­cher*innen, Archi­tekt*innen, Drama­ti­ker*innen und Musi­ker*innen. In den 1960er-Jahren erlebte die Schule eine Phase der Erneue­rung, ausge­löst durch Künst­ler wie Farid Belkahia (1934-2014), Moham­med Chabâa (1935-2013) und Moha­med Melehi (1936-2020), die Kunst­his­to­ri­ke­rin und Anthro­po­lo­gin Toni Maraini und den Lingu­is­ten Bert Flint (1931-2022), der über die Kunst der Afro-Berber forschte und ein leiden­schaft­li­cher Experte für Volks­kunst und rurale Tradi­tio­nen war. Später kamen drei weitere Künst­ler und Unter­stüt­zer hinzu, Moha­med Ataal­lah (1939-2014), Musta­pha Hafid und Moha­med Hamidi, die künst­le­risch-ästhe­ti­sche Vorstel­lun­gen mit Ideen für soziale Refor­men und Eman­zi­pa­tion verei­nig­ten, um ein gemein­sa­mes kultu­rel­les Projekt zu reali­sie­ren. Was damals als Casa­blanca Art School bezeich­net wurde, meint sowohl die Insti­tu­tion zu ihrer Blüte­zeit (1964-1969) als auch die ästhe­ti­sche Revo­lu­tion, wie sie die Arbei­ten dieser Künst­ler*innen und Dozent*innen verkör­per­ten.

Die Durch­füh­rung und Auswer­tung dieser Forschun­gen und die Ausstel­lung der daraus folgen­den Ergeb­nisse gingen irgend­wann weit über ein einfa­ches Studi­en­pro­jekt hinaus. Es machte mir das große Problem bewusst, dass ganze Berei­che unse­rer Iden­ti­tät nicht über­lie­fert werden. Und da uns nur wenig über­mit­telt wurde, müssen wir uns das Wissen, die Gesten und Narra­tive aneig­nen, die unser kollek­ti­ves Gedächt­nis ausma­chen. Ich erin­nere mich, dass ich ziem­lich aufge­bracht war, als ich Abdel­la­tif Laâbis Arti­kel „Le gâchis“ über bildende Kunst in Marokko las, der 1967 in der Sonder­aus­gabe der avant­gar­dis­ti­schen Kultur­zeit­schrift „Souf­fles“ veröf­fent­licht wurde. Ich konnte nicht verste­hen, warum diese Zeit­schrift nicht in der Hoch­schule studiert wurde. Können Sie sich vorstel­len, dass diese Aufbau­pe­ri­ode unse­rer gesell­schaft­li­chen, kultu­rel­len und poli­ti­schen Iden­ti­tät den Studie­ren­den an der Kunst­hoch­schule von Casa­blanca nicht näher­ge­bracht wird?

Und genau wegen dieser „fehlen­den Vermitt­lung“ haben wir das Projekt „School of Casa­blanca“ ins Leben geru­fen.

School of Casablanca (16.02.–12.05.2024), IFA-Galerie Berlin
Image via ifa.de
Mohammed Chabâa, Composition, 1975, Zellulosefarbe auf Holz, 2,5 x 3,6 m, Courtesy: Marrakech Biennale
Foto: © Jens Martin, Image via frieze.com

2.
Zur Teil­nahme an der Ausstel­lung waren nicht nur Künst­ler*innen, Desi­gner*innen und Kura­tor*innen, sondern auch unab­hän­gige Akade­mi­ker*innen einge­la­den. Sie alle haben im Rahmen eines Resi­dency-Programms in Casa­blanca geforscht und Feld­stu­dien betrie­ben. Gab es Ergeb­nisse, die für Sie beson­ders hervor­sta­chen, und können Sie uns etwas darüber und über das Resi­dency-Programm im Allge­mei­nen erzäh­len?

Salma Lahlou

Das Resi­dency-Programm und die öffent­li­chen Programme fanden zwischen Septem­ber 2020 und Dezem­ber 2022 statt.

Die Betei­lig­ten nahmen jeweils eines der Themen, die inner­halb der Hoch­schule zur Spra­che gebracht wurden und ihre eigene Praxis wider­spie­gel­ten, kritisch unter die Lupe. Es soll­ten Fragen zum Vermächt­nis der Kunst­hoch­schule von Casa­blanca inner­halb des herr­schen­den sozi­o­po­li­ti­schen Klimas in Casa­blanca und Marokko formu­liert werden.

Bevor ich auf die Forschungs­vor­schläge der Teil­neh­mer*innen eingehe, lassen Sie mich kurz die Berei­che skiz­zie­ren, die den Anteil der Hoch­schule ausma­chen. Die Künst­ler*innen und Theo­re­ti­ker*innen der Hoch­schule forder­ten eine Stär­kung der zentra­len Verbin­dung zwischen moder­ner künst­le­ri­scher Produk­tion und plas­ti­schen Tradi­tio­nen; eine Ästhe­tik orna­men­ta­ler Abstrak­tion; eine Verfla­chung der Hier­ar­chie zwischen den schö­nen Küns­ten und tradi­tio­nel­ler Kunst, wie sie die Fran­zo­sen etabliert hatten; die Abschaf­fung der Tren­nung von Kunst und Leben; einen über­grei­fen­den Zugang zur Kunst; den Status von Kunst als Raum für geteil­tes Wissen und Erfah­rung; die Stär­kung der Rolle der Kunst­schaf­fen­den als Produ­zent*innen eines sozia­len und kultu­rel­len Projekts; und die Öffent­lich­ma­chung von Kunst durch die Verflech­tung künst­le­ri­scher Arbei­ten mit dem Gewebe der Stadt und der Gesell­schaft allge­mein.

Die weit­aus meis­ten Vorschläge – um nicht zu sagen alle – gefie­len mir ausge­spro­chen gut. Beson­ders begeis­ter­ten mich die Kanal­de­ckel und Stra­ßen­mö­bel von Manuel Raeder, sein Spiel mit der Nutzung und den Projek­tio­nen durch die Öffent­lich­keit, in dem nichts statisch ist. Die Fiktion-Reali­tät, die Fatima-Zahra Lakrissa in dem epis­te­mo­lo­gi­schen Bruch zwischen Bert Flint und Toni Maraini erdachte, trug dazu bei, eine Lücke im Zusam­men­hang mit Fragen von Gültig­keit und Hier­ar­chien zwischen Akade­mis­mus und Heuris­tik zu füllen. Céline Condo­relli schrieb die visu­elle Spra­che der Abstrak­tion als Frau­en­ar­beit in eine monu­men­tale Instal­la­tion ein; dafür verwen­dete sie in Boujaad gesam­melte Teppi­che und errich­tete gleich­zei­tig ein Förde­rungs­netz­werk für Weber*innen, in Zusam­men­ar­beit mit dem gelehr­ten Teppich­änd­ler und -samm­ler Rabii Bibi Alouani. Abdes­lam Ziou Ziou tat sich mit Künst­ler*innen zusam­men und schuf einen Ort für die Darstel­lung, Rezep­tion und Diskus­sion der Fragen rund um Kunst und Psych­ia­trie. Zu diesem Zweck beschäf­tigte er sich mit der Arbeit seines Vaters, einem Psych­ia­ter, der 1981 mit den Künst­ler*innen der Kunst­hoch­schule von Casa­blanca in der psych­ia­tri­schen Einrich­tung in Berre­chid arbei­tete. Amina Belg­hiti befasste sich mit den Klang­bil­dern der Zeit, den Zwischen­räu­men, Absen­zen und der Stille in und um die Hoch­schule. Peter Spill­mann ermög­lichte in einem modu­la­ren Contai­ner den Zugang zu Marion von Ostens Archiv über Casa­blanca, und zwar mit einer wegwei­sen­den Arbeit: Sie trug den Titel „la bibi­lothèque de passage“ und war bei Thin­kArt zu sehen. Und das sind nur einige Beispiele.

3.
Die Video-Reihe „School of Walking“ des Künst­ler*innen­duos Bik van der Pol entstand im Rahmen des Resi­dency-Programms und zeigt Stadt­füh­run­gen mit verschie­de­nen loka­len Kultur­schaf­fen­den, die Casa­blanca als moderne Stadt und krea­ti­ves Zentrum präsen­tie­ren, in dem Künst­ler*innen der 1960er- und 1970er-Jahre ihre Träume von einer gemein­sa­men Zukunft entwi­ckel­ten. Ein Teil dieser Reihe ist derzeit in der öffent­lich zugäng­li­chen Rotunde der SCHIRN zu sehen. Was hat Sie an den Videos faszi­niert?

Salma Lahlou

Lies­beth Bik und Jos van der Pol gehör­ten zu den ersten Artists in Resi­dence. Spazier­gänge durch eine Stadt gehö­ren zu ihrem natür­li­chen „modus operandi“, denn sie bilden einen festen Bestand­teil ihres Lebens­stils. Ich habe mich in ihre Praxis vertieft, indem ich ihre Arbei­ten studierte; durch sie konnte ich wirk­lich begrei­fen, was Kunst als soziale Praxis bedeu­tet. Und das war ein Glück, denn dank ihnen konnte ich auch Ruan­gru­pas Docu­menta besser verste­hen!

Im Zuge unse­rer vielen Gesprä­che lud Lies­beth mich ein, ein weite­res Prisma zu akti­vie­ren und Objekte als Modelle des Mögli­chen oder „Werk­zeuge der Möglich­kei­ten“ zu sehen und die Nuan­cen einzu­be­zie­hen, die den Unter­schied ausma­chen zwischen dem, was Objekte tun und wie sie ausse­hen.

Spazier­gänge ermög­li­chen uns, auf unter­schied­li­che Art mitein­an­der in Verbin­dung zu treten, unsere Perspek­tive zu erwei­tern und uns das urbane Umfeld bewusst zu machen, das von Anfang an von Künst­ler*innen akti­viert wurde. Mir war es beson­ders wich­tig, Hassan Darsi einzu­la­den, der für mich zu den bedeu­tends­ten sozial enga­gier­ten Künst­ler*innen Marok­kos gehört. Seine Arbeit zum Parc de l’Hermi­tage stellte einen Meilen­stein für meine Gene­ra­tion dar, weil sie die admi­nis­tra­tive Apathie durch­brach und den Bewoh­ner*innen der Stadt ermög­lichte, einen öffent­li­chen Park, den man völlig sich selbst über­las­sen hatte, wieder in Besitz zu nehmen. Fatima Mazmouz verkör­perte unse­ren poli­ti­schen Wider­stand in einem akti­ven Marsch zu Stra­ßen, die nach weni­ger bekann­ten histo­ri­schen Figu­ren benannt waren und deren Geschichte jünge­ren Gene­ra­tio­nen kaum vermit­telt wird. Moha­med Fariji zeigte mit seinem Projekt für ein kollek­ti­ves Museum in Casa­blanca, wie die Stadt ihr archi­tek­to­ni­sches Erbe vernach­läs­sigt und verfal­len lässt, während uns gleich­zei­tig Orte der Begeg­nung für Diskus­sio­nen, Ausstel­lun­gen und ande­res fehlen.

Spazier­gänge akti­vie­ren dazu auch eine andere Art der Aufmerk­sam­keit, weil sie den Körper einbe­zie­hen und dadurch sowohl die Sinne als auch den Geist anspre­chen. Sie umge­hen das Format der Vorle­sung, bei dem die*der Dozent*in im Mittel­punkt steht, und führen statt­des­sen zu zahl­rei­chen infor­mel­len Gesprä­chen. Die Stadt wird einfach anders erlebt als bei tradi­tio­nel­len Stadt­füh­run­gen. Casa­blanca ist nicht einspu­rig. Es gibt viele Routen und Stadt­vier­tel, die es uns erlau­ben, neue Verbin­dun­gen herzu­stel­len und uner­war­tete Diskus­sio­nen unter den Spazier­gän­ger*innen herbei­zu­füh­ren, wodurch sich neue Perspek­ti­ven eröff­nen.

Wir haben diese Spazier­gänge während der Ausstel­lung in Casa­blanca fort­ge­führt, und ich hoffe, sie auch in Zukunft weiter­hin orga­ni­sie­ren zu können.

Ausstellungsansicht in der Schirn
Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962-1987, Installationsansicht Bik Van der Pol „School of Walking“ in der Rotunde, 2024
@ Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz
Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962-1987, Installationsansicht Bik Van der Pol „School of Walking“ in der Rotunde, 2024
@ Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024, Foto: Norbert Miguletz

4.
Worin besteht Ihrer Meinung nach das große Vermächt­nis der Casa­blanca Art School, und welche Spuren findet man heute noch in der Stadt selbst und in ganz Marokko?

Salma Lahlou

Ich würde sagen, es geht darum, den sozio­kul­tu­rel­len Kontext der Zeit zu berück­sich­ti­gen und darauf mit Aktio­nen zu reagie­ren, die sowohl formal als auch für den Raum rele­vant sind, in dem sie exis­tie­ren. Initia­ti­ven wie „La Source du lion“, „L’Atelier de l’obser­va­toire“, „Darjaa“ und, in jünge­rer Zeit, „Malhoun“, „Siniya“ und „CARC­DAM“ sind Beispiele für dieses Bewusst­sein.

5.
Lassen Sie uns zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen: Welche Stra­te­gien und Metho­den der Hoch­schule haben für Sie das größte Poten­zial im derzeit herr­schen­den sozi­o­po­li­ti­schen Klima Marok­kos?

Salma Lahlou

Hier sind Zusam­men­ar­beit, Forschung, Feld­ar­beit, Expe­ri­men­tie­ren, Sorg­falt und Umbrü­che von entschei­den­der Bedeu­tung.

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