Um eine Ausstellung in der Größenordnung der Berlin Biennale auszurichten, braucht es von allem viel: Zeit, Personal, Ressourcen, Geld. Ist das noch angemessen angesichts der globalen Klimakrise? Sollten wir die Energie nicht lieber dafür einsetzen, unseren Planeten zu retten? Es sind selbstkritische Worte, die Kurator Kader Attia bei der Pressekonferenz zur Eröffnung 12. Ausgabe an sich selbst richtet.
Für einen Moment stehen sie im Widerspruch zu den insgesamt 70 Künstler*innen und Künstlerkollektiven, von denen ein Großteil aus nicht-europäischen Ländern kommt und deren Werke eine dementsprechend lange Anreise hatten. Es sind schwergewichtige Themen, die in den beiden Häusern der Akademie der Künste, den Kunstwerken, dem Hamburger Bahnhof und dem Stasi-Museum unter dem Titel „Still present!“ im Mittelpunkt stehen; darunter Kolonialismus, Exil, feministischer Kampf und Faschismus. Und eben die exzessive Verschwendung von Ressourcen, mit der die unumkehrbare Umweltzerstörung einhergeht und die tiefgreifende Spuren aus Armut, Hungersnöten und Pandemien hinterlässt.
Kapitalismus und Kolonialismus als Zerstörer
Hauptangeklagter in vielen Fällen ist bei dieser Biennale der Mensch der westlichen Industrienationen. Als fortschrittsgetriebener Kapitalist zerstört er Lebensräume; in Form des machthungrigen Kolonialisten drückte er den als „primitiv“ deklarierten Kulturen seinen Stempel auf, der sich nur schwer abwaschen lässt. Die Welt sei von Wunden gezeichnet, die im Laufe der westlichen Moderne entstanden seien, so Kader Attia. „Werden sie nicht repariert, suchen sie unsere Gesellschaften weiterhin heim.“
Zum Beispiel im US-amerikanischen Bundesstaat Louisiana. Imani Jacqueline Brown bereiste für ihre Video- und Soundinstallation „Was bleibt am Ende der Welt?“ (2002) zu Fuß die Küstenregion. Die Gegend wird als „German Coast“ bezeichnet, weil deutsche Siedler*innen gemeinsam mit Franzosen und Spaniern das Land einnahmen und unter sich aufteilten. Es trägt auch den Namen „Cancer Coast“: Mineral- und Erdgaskonzerne haben über 90.000 Gas- und Ölquellen aufgetan und 80.000 Kilometer Pipelines verlegt, die sich wie Adern durch die Marschlandschaft Louisianas ziehen; die Luft ist hier besonders giftig und schädigend, die Krankheitsrate hoch.
Mein Körper gehört mir
Die indische Künstlerin Mayuri Chari hat sich einen weiteren kapitalistischen Kampfplatz vorgenommen: den weiblichen Körper. Für ihre extra für die Biennale entstandene Arbeit „Ich wurde nicht zum Vergnügen erschaffen“ (2022) führte sie Gespräche mit ihrem nackten Körper und hielt diese in Stickereien auf Leinen fest. Es ist eine direkte Antwort auf die in vielen Kulturen herrschende Doppelmoral: Frauenkörper werden in öffentlicher Werbung häufig als sexualisierte Objekte dargestellt, das Zeigen von Nacktheit abseits der Hochglanzmagazine ist – vor allem in Indien – aber tabuisiert.
Noch immer unterliegen Körper der Kontrolle, Kritik und Gewalt, dies sei laut Chari ein Überbleibsel des britischen Kolonialismus. Thematisch passt dies zu Ariella Aisha Azoulay, die in „The Natural History of Rape“ versucht, die Massenvergewaltigungen in Berlin nach Ende des Zweiten Weltkriegs mittels Texten von damals zu rekonstruieren, weil in den fotografischen Archiven nichts auf die Gräueltaten der alliierten Soldaten hinweist. Es ist auch Thema in den schwarz-weiß Fotografien nigerianischer Frauen, denen Etinosa Yvonne schriftliche Protokolle jener Frauen über erschreckend brutale häusliche Gewalt gegenüberstellt.
Die Berlin Biennale ist für ihren politischen Schwerpunkt bekannt, der in diesem Jahr allerdings noch deutlicher als in den vorherigen Ausgaben zutage tritt. Kunst um der Kunst willen findet sich hier kaum, wer sich in die vier Ausstellungshäuser begibt, wird mit gesellschaftlichen Diskursen konfrontiert, die weit außerhalb der eigenen Komfortzone liegen – und genau deswegen von hoher Relevanz sind.