Entgegen gesellschaftlicher Normen gestaltet die STURM-Künstlerin Gabriele Münter ihr Leben vollkommen unabhängig und wird Mitbegründerin einer der wichtigsten Kunstformen des 20. Jahrhunderts: des Expressionismus.
Du bist hoffnungslos als Schüler – man kann dir nichts beibringen … Du hast alles von Natur.
Gabriele Münters wichtigste Ausdrucksform war die Farbe. Farbe kleidete ihre Figuren, erweckte die Körper ihrer Porträtierten und ihre Blumensträuße zum Leben, (ent-)führte die Betrachter ihrer Bilder in wilde Landschaften, in die Natur und in die Städte. Befreit von den Zwängen des Naturalismus, pendeln Formen und Farben zwischen der Nähe zu ihren weltlichen Vorbildern und der Abstraktion. Aus dem Inneren heraus wird das künstlerische Äußere geschaffen – genau hier entsteht der Expressionismus, zu dessen bedeutender Vertreterin die 1877 in Berlin geborene Gabriele Münter wird. Und noch viel mehr: Münter wird Co-Initiatorin des Blauen Reiters, einer der bekanntesten expressionistischen Künstlervereinigungen, und steht exemplarisch für eine Reihe von Frauen, die sich wider gesellschaftlich-sozialer Repression unabhängig und frei ihr Leben sowie ihre Kunst gestalteten. An der Seite Kandinskys und des Blauen Reiter hat Gabriele Münter in nur wenigen Jahren eine Kunstform geschaffen, die heute als eine der wichtigsten Ausformungen des 20. Jahrhunderts gilt und die sie Jahrzehnte später noch verfeinern sollte.
Kandinsky verliebt sich in seine junge Schülerin
Schon früh wird Gabriele Münters künstlerisches Talent offenbar. Bleiben der 20-Jährigen, die mit ihrer Familie nach ihrer Geburt zunächst nach Herford und dann nach Koblenz gezogen ist, ebenso wie ihren Zeitgenossinnen die Türen der staatlichen Akademien verschlossen (bis 1919 war es Frauen verboten, an den Kunstakademien des Deutschen Kaiserreichs oder anderen staatlichen Hochschulen zu studieren), so kann sie auf die Damenkunstschule in Düsseldorf ausweichen. Dort studiert sie jedoch nur wenige Monate, denn im November 1897 stirbt auch ihre Mutter; ihr Vater, der Zahnarzt Carl Münter, ist bereits 1886 verstorben. Durch das elterliche Erbe finanziell unabhängig, reisen Gabriele und ihre Schwester im darauffolgenden Jahr in die USA. Zwei Jahre lang erkunden sie dort Missouri, Arkansas und Texas.
Ausgestattet mit zahlreichen während der Reisen aufgenommenen Fotografien sowie Erfahrungen und Eindrücken, mit ihrem künstlerischen Talent und ohne finanzielle Abhängigkeiten kehrt Gabriele Münter schließlich nach Deutschland zurück. 1901 setzt sie ihre Ausbildung zunächst an der Malschule des Künstlerinnen-Vereins, später an der „Phalanx“ in München fort, wo der russische Künstler Wassily Kandinsky ihr Lehrer wird. Kandinsky lobt nicht nur ihr Talent, sondern verliebt sich in seine junge Schülerin. Zwei Jahre später – obwohl Kandinsky noch verheiratet ist – verlobt sich das Künstlerpaar heimlich. An der Seite von Kandinsky geht Münter erneut auf Reisen, bis sie sich 1909 in Murnau niederlassen.
Die Neue Künstlervereinigung München
Aus der oberbayerischen Gemeinde heraus verändern die beiden Künstler nicht nur ihre Stile, die bis dato nachimpressionistisch geprägt waren, sondern sollen die Kunst nachhaltig verändern: Hier malen Münter und Kandinsky an der Seite von Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky. Hier entsteht die Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.). Hier entwickelt sich Münter von der „Natur-Abmalerin“ zur expressionistischen Künstlerin, die neben Paula Modersohn-Becker die bekannteste Frau der Strömung werden soll. Hier malt Münter das berühmt gewordene Porträt ihrer Freundin und Mitstreiterin Marianne von Werefkin. Hier empfängt das Paar in ihrem 1909 erworbenen „Russenhaus“ neben Werefkin und Jawlensky viele weitere Besucher, Sammler, Kritiker und Malerfreunde wie Franz Marc, August Macke oder den Komponisten Arnold Schönberg.
Nach Unstimmigkeiten zwischen Kandinsky und der N.K.V.M. initiiert dieser jedoch schließlich die Abspaltung von der Vereinigung sowie die Neugründung des Blauen Reiter. Mehr Beziehungsnetz als eine feste Künstlergruppe organisieren die Künstler um Kandinsky und Franz Marc von 1911 an Ausstellungen und publizieren unter anderem den Almanach. Obwohl sie offiziell nicht zu den Mitbegründerinnen der Künstlervereinigung zählt (sie unterschrieb „aus Bescheidenheit“, wie sie selbst sagte, nicht das Manifest), so ist Gabriele Münter eng in die Arbeit des Blauen Reiters eingebunden. Sie arbeitet an der Konzeption für die Zeitschrift „Almanach“ und organisiert zahlreiche Ausstellungen. Wie so viele andere Künstlergruppen und Paare sollte der Erste Weltkrieg auch diese Synergie beenden. Macke und Marc ziehen als Soldaten in den Krieg und Kandinsky muss aus Deutschland fliehen. Münter wartet in Schweden vergeblich auf ihn. Erst 1920 erfährt sie über Dritte, dass Kandinsky in Moskau erneut geheiratet hat.
Neuanfänge
Nach Ende des Krieges kehrt Münter nach Deutschland zurück, wo sie nacheinander in Köln, München, Murnau und Berlin lebt. In all diesen Jahren lähmen Depressionen ihre künstlerische Tätigkeit. Erst 1929/30, Münter ist mittlerweile mit dem Philosophen und Kunsthistoriker Johannes Eichner liiert, bringt ein Besuch in Paris neue Impulse. Wieder in Murnau, erschafft die Malerin ihre heute so charakteristischen farbintensiven Arbeiten wie ihre Blumenstillleben oder abstrakten Studien. Entgegen der Jahrzehnte mit und vor Kandinsky lebt Münter jedoch zusehends zurückgezogen; unter den Nationalsozialisten soll sie unter einem Ausstellungsverbot gestanden haben. Nicht mehr der äußere Ausdruck des Inneren, für den der Expressionismus steht, sondern der tatsächliche Rückzug in das Private bestimmt das Leben in Murnau. Gabriele Münters Arbeiten hingegen sind seit 1949 wieder in zahlreichen Ausstellungen zu sehen. So aktuell auch in der Gruppenschau „STURM-Frauen“ in der SCHIRN, die Münter als bedeutende, einflussreiche Figur der Kunstgeschichte würdigt.