Sind Künstler*innen besonders kreativ, wenn es ums Kochen geht? Ein Blick in die Küchen der Kunstwelt. Dieses Mal mit Tracey Emin, Expertin für Kaviar und Hühnersuppe.
Alice Waters, Köchin und Mitgründerin des berühmten kalifornischen Slow-Food-Restaurants Chez Panisse, hat die enge Verbindung zwischen Kunst und Kochen auf den Punkt gebracht: „…sie sind beide reaktiv und kreativ, sie imitieren sich gegenseitig und passen sich einander an.“ Existiert demnach eine Verbindung zwischen dem, was in den Ateliers von Künstler*innen passiert, und dem, was in ihren jeweiligen Küchen vor sich geht? Finden sich Bezüge zu ihrem Werk und ihrer Persönlichkeit wieder? Sind Künstler*innen besonders kreativ, wenn es um den alltäglichen Akt des Kochens geht? Anhand von Anekdoten und Fotos rund um ihre Küchen und Essgewohnheiten geben wir Einblicke in die kulinarischen Lebenswelten bekannter Künstler*innen.
Wenn „Mad Tracey from Margate“, wie sie sich in den Neunzigerjahren selbst nannte, sehen könnte, wie die heutige Tracey Emin ihren Tag beginnt – um sieben Uhr früh, mit einer Kanne frisch gebrühtem grünen Tee – und wie sie ihn beendet – oft schon um acht Uhr abends, in ihrem eigenen Bett –, würde sie sich selbst wohl kaum wiedererkennen. Die 1963 in London geborene Künstlerin war lange bekannt für ihren Hang zum exzessiven Feiern, Trinken und Sozialisieren, in der Öffentlichkeit galt sie als „unangepasste Skandalkünstlerin“. Mit radikaler Offenheit thematisierte sie in Form von Textilarbeiten, Essays, Performances, Installationen und Videoarbeiten ihre Erfahrungen mit Abtreibung, Sex, Liebe, Selbstzweifel und dem Tod. Die Nominierung ihres mittlerweile ikonischen Werks „My Bed“ – eine Nachbildung des Bettes, in dem sie nach einer Trennung tagelang depressiv gelegen hatte – für den renommierten Turner-Preis von 1999 löste mediale Entrüstung aus, und aus Kunstkreisen erfuhr Emin jahrelang Kritik und Ablehnung.
Mittlerweile ist Tracey Emin Mitglied der Londoner Academy of Arts und eine der bekanntesten zeitgenössischen Künstlerinnen überhaupt. Ihre Formensprache hat sich in den letzten Jahren weg von der Konzeptkunst und hin zur Malerei und Skulptur entwickelt, doch die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Erleben steht noch immer im Zentrum ihrer Praxis. Während London lange Jahre das Gravitationszentrum ihres Lebens war, wohnt Emin heute zwischen dem britischen Küstenort Margate, wo sie aufgewachsen ist, und der Côte d'Azur – einAusdruck der grundlegenden Neuorientierung ihres Lebensstils. Die Objekte in ihrer berühmten Installation – Wodkaflaschen, Kondome, Zigarettenkippen – wirken heute wie Relikte einer anderen Zeit, denn das Rauchen und Trinken hat sie längst aufgegeben und ihre Nächte verbringt sie am liebsten alleine.
Ihre Beziehung zum Kulinarischen hat eine ähnliche Verwandlung durchlaufen: Nach einer von Armut und Essensknappheit geprägten Kindheit und Jugend, jahrelangen Essstörungen und einem generellen Desinteresse am Thema – noch in ihren Vierzigern fastete sie wohl tagelang, weil sie meinte, keinen Hunger zu verspüren – ist Essen heute eines der wichtigsten Dinge in ihrem Leben geworden.
Der Weg dahin liest sich wie eine kulinarische Heldenreise: Mit dem ersten richtigen Geld, das Emin als Künstlerin verdiente, kaufte sie sich eine Handvoll Austern. Sie war damals Anfang dreißig und hatte noch nie eine Auster probiert, und plötzlich konnte sie sich so viele davon leisten, wie sie wollte – zeitweise sollen es wohl bis zu hundert pro Woche gewesen sein. Ihre Leidenschaft für Kaviar entwickelte ähnliche Ausmaße, und noch heute bittet sie ihre Hausgäste darum, statt Schnittblumen ein Döschen Kaviar als Gastgeschenk mitzubringen. Mit wachsender Bekanntheit und steigendem Einkommen eröffnete sich der Künstlerin auch die Welt der hochpreisigen Restaurants, wobei die Qualität des Essens nur eine untergeordnete Rolle spielte. Bei Scott's in Mayfair, eines ihrer Favoriten, oder im notorisch ausgebuchten The Ivy durch die Tür zu gehen, vom Oberkellner erkannt zu werden und sofort einen Tisch zu bekommen, bedeutete für Emin vor allen Dingen, dass sie es endgültig geschafft hatte, die prekären Lebensumstände ihrer Kindheit hinter sich zu lassen.
Tracey Emins komplexe Familiengeschichte – ihr Vater Enver verließ ihre Mutter, als Emin sieben Jahre alt war –, zwei traumatische Abtreibungen, mehrere gescheiterte Beziehungen, Kinderlosigkeit und die daraus folgende Angst, alleine zu sterben, beeinflussten in vielerlei Hinsicht ihre Beziehung zum Essen. 2005 schrieb sie in ihrer Autobiografie "Strangeland", dass Essen nicht ihre Stärke sei, weil es nichts Deprimierendes gäbe, als durch den Supermarkt zu laufen und den Korb mit Mahlzeiten für eine Person zu füllen. Aus dem gleichen Grund weigerte sich Emin lange, Kochen zu lernen. Das einzige Gericht, das sie regelmäßig zubereitete, war als Grundlage für lange, wodkagetränkte Nächte gedacht: eine Scheibe Toastbrot, mit Butter und Tomatensauce bestrichen und mit vier gegrillten und zerdrückten Fischstäbchen belegt. Dazu gab es einen halben Liter Nesquik mit Erdbeergeschmack.
Der Krebstod ihrer Mutter 2016 fiel mit einem Wendepunkt im Leben der Künstlerin zusammen. Sie nahm sich eine einjährige Auszeit, zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und begann eine neue Phase der Introspektion, in der sie ihren Frieden damit schloss, alleine zu sein und sich gänzlich der Kunst zu widmen. Die Emin der Gegenwart ernährt sich weitestgehend gesund, baut im Garten ihrer Villa in Südfrankreich Gemüse an und kocht sogar – ein bisschen.
Ein enger Freund, der britische Koch und Kunstsammler Mark Hix, soll mit mäßigem Erfolg versucht haben, ihr die Zubereitung von Paella und Risotto beizubringen, doch Emin kocht am liebsten improvisierte Hühnersuppe. So hat sie es von ihrer Großmutter gelernt, mit der sie als Kind stundenlang in der Küche stand und plauderte, während diese einen Haufen scheinbar willkürlicher Zutaten zurechtschnitt, in einen großen Topf warf und daraus Suppe kochte. Als Hix Tracey Emin 2008 für einen Zeitungsartikel darum bat, ein Gericht zu zeichnen, das für sie Entspannung symbolisierte, malte die Künstlerin sich selbst beim Suppeessen mit einem Huhn auf dem auf dem Tisch. Die heilende und kräftigende Wirkung von Hühnersuppe ist allbekannt, und vielleicht identifiziert sich Emin auch ein bisschen mit dem magischen Prozess des Suppekochens, bei dem man mit etwas Zeit und Geduld die bescheidensten Zutaten in etwas wunderbar Komplexes verwandeln kann.