Sind Künstler*innen besonders kreativ, wenn es ums Kochen geht? Ein Blick in die Küchen der Kunstwelt. Diesmal mit Carsten Höller und seiner Liebe für brutal simple Gerichte.
Wer den „Champignon Carsten“ bestellt, bekommt einen geviertelten Pilz serviert, dessen Einzelteile jeweils fermentiert, geräuchert, gedämpft und schonend gegart worden sind. Das Ergebnis ist eine kulinarische Pirouette, bei der aus einer einzelnen Zutat eine überraschende Geschmacksvielfalt herausgelockt wird. Das Gericht findet man auf der Karte des kürzlich eröffneten Restaurants „Brutalisten“ in Stockholm, dessen Eigentümer auch der Namensgeber für die Pilzspeise ist: Carsten Höller.
Der 1961 in Brüssel geborene deutsche Künstler beschäftigt sich schon seit mehreren Jahrzehnten mit Pilzen – weniger als Delikatesse, sondern eher als künstlerisches Sujet –, und doch steckt im Namen „Champignon Carsten“ eine Prise Selbstironie. Als Höller im Jahr 2000 in der Fondazione Prada in Mailand den „Upside Down Mushroom Room“ installierte, eine Reihe überdimensionierter, rotierender Fliegenpilze, die von der Decke herunterhängen, ahnte der Künstler wohl kaum, wie stark die Installation sein öffentliches Image prägen würde. Über zwanzig Jahre später fotografieren und teilen die Besucher*innen der Fondazione den äußerst fotogenen Raum weiterhin fleißig und zementieren so das Bild von „Fliegenpilz-Carsten“, obwohl sich Höller im Laufe seiner Karriere bewusst nie auf ein konkretes Thema oder eine spezifische Formensprache festgelegt hat.
Höller studierte zunächst Agrarwissenschaften, promovierte zur Geruchskommunikation zwischen Insekten und kam erst spät zur Kunst. Seine Arbeiten haben weniger formale Aspekte gemein als die Intention, Experimente zur menschlichen Wahrnehmung durchzuführen, bei denen die Reaktionen der Besucher*innen zum zentralen Teil des Kunstwerks werden: ob in Form eines Karussells, das sich nur im Schneckentempo fortbewegt, einer Brille, die die Welt auf den Kopf stellt, einer schwindelerregenden Röhrenrutschbahn oder einem Restaurant, in dem die Gerichte nur aus einer einzelnen Zutat bestehen, die lediglich mit Wasser und Salz in Berührung gekommen ist.
Hinter diesem restriktiven kulinarischen Konzept steckt eine Idee Höllers aus dem Jahr 2018, nämlich das „Brutalist Kitchen Manifesto“. Er konzipierte damals den Leitfaden für eine ultra-puristische Art zu kochen und über Lebensmittel nachzudenken: Statt wie üblich durch das Kombinieren mehrerer Zutaten und der Beigabe von Kräutern, Gewürzen und Ähnlichem eine neue Speise zu kreieren, plädiert er dafür, den natürlich vorhandenen Geschmack einer einzelnen Zutat zu potenzieren.
Und hinter dieser Idee steckt wiederum Höllers eigene kulinarische Biografie: Als Kind verbrachte er die Sommer am nördlichen Teil der belgischen Küste, wo er mit einem kleinen Kescher graue Garnelen fing, die er in Meerwasser kochte und verspeiste – ein Gericht, was in seiner Einfachheit und Qualität die Quintessenz der brutalistischen Küche verkörpert.
Lange vor der Genese seines Manifests entwickelte Höller ein Faible dafür, hochwertige und teils seltene Zutaten zu suchen und sie möglichst simpel zuzubereiten. Neben selbst gesammelten Pilzen, frisch gefangenen Meerestieren und Wildgeflügel findet man im Kühlschrank seiner Stockholmer Wohnung auch mal geräucherte Neunaugen, mexikanische Ameisen und Knochenmark. Tiefgefrorene Insekten hat der Künstler praktisch immer vorrätig – diese sind allerdings nicht für seinen eigenen Gaumen bestimmt, sondern für die zwei Dutzend seltener Singvögel, die er als Haustiere hält.
Hemmungen, die Tiere zu essen, verspürt Höller trotzdem keine – Wildvögel zählen zu seinen Lieblingsspeisen. Um in den Genuss des unter Artenschutz stehenden Ortolans zu kommen – ein Singvogel, der in Frankreich als Delikatesse gilt, wo er erst gemästet, dann in Armagnac ertränkt und anschließend mit einer Stoffserviette über dem Kopf verspeist wird, um möglichst alle Aromen einzufangen – beschloss der Künstler, die seltene Vogelart zu Hause zu züchten. Doch als die Küken schließlich geboren wurden, brachte er es nicht übers Herz, sie zu essen. Zu seinem Gaumenschmaus kam er erst, als ein Weibchen einem Männchen zum Opfer fiel.
Die zündende Idee für das brutalistische Manifest kam Höller passenderweise beim Essen einer Vogelspeise in Ferran Adriàs legendärem Restaurant „El Bulli“. Dort bekam er das Gehirn einer Waldschnepfe serviert, eingebettet in deren eigenem Schädel. Ein simples und perfekt ausgeführtes Gericht, in dem auch Teile des Vogels verwendet wurden, die für gewöhnlich im Müll landen. Dieses Erlebnis floss maßgeblich in das Konzept der brutalistischen Küche ein, die dafür plädiert, möglichst alle Komponenten einer Zutat, ob Tier oder Gemüse, auf den Teller zu bringen.
Wie die praktische Umsetzung dieser Theorie auf dem Teller aussieht, kann man in Höllers Restaurant zum Beispiel anhand des „Perlhuhn à la Brutalisten“ beobachten: Keule samt Kralle des Vogels werden confiert, Brust und Herz gegrillt und aus Ei, Leber, Fleisch und Haut eine Mousse zubereitet. Durch das sorgfältige Zerlegen in Einzelteile erscheint die Grundzutat in einem neuen Licht, das (neue) Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Gleiches gilt für „Champignon Carsten“ und seine vielen Facetten als Künstler, Wissenschaftler, Ornithologe und Gourmand.