Die litauische Hauptstadt Vilnius zeichnet sich nicht nur als Filmlocation von „Stranger Things“ aus, sie besticht auch durch ihre vibrierende Kunst- und Kreativszene: Ein Ortsbesuch in dem westlichsten baltischen Land – mit Klangcollagen aus den Sounds der Stadt.
Eine kurze Zeitlang wollte jede*r in Vilnius den Lindy Hop tanzen. So erzählt es die Medizinstudentin Aurelia, die gerade zum Training ins „What a Jazz“ gekommen ist. An den dunkel gestrichenen Wänden Poster von Fats Waller, Billie Holiday und Thelonious Monk. Der Tanz, der in New York zur Zeit der amerikanischen Depression seinen Anfang fand, wurde zum Sinnbild – fürs Durchhalten, für den Aufbruch, wohl auch für die Identifikation mit einer unterdrückten Bevölkerung. So empfand man sich in Vilnius nach dem Ende der Sowjetrepublik. Inzwischen reisen Lindy Hop-Fans von weither in die litauische Hauptstadt, um zum großen Festival durch die Flure des ehemaligen Lukiškės-Gefängnisses zu tanzen.
Das „What a Jazz“ ist eines von rund 450 Ateliers und Studios, die in dem gigantischen Areal untergebracht sind. Malerinnen und Bildhauer, Medienkünstler*innen, Bands, Musiker*innen und eben Tänzer*innen arbeiten hier Tür an Tür. Im Sommer gibt es Filmabende und Konzerte, im Winter eine Schlittschuhlaufbahn. „Wer auftreten will, findet hier neben dem Proberaum direkt eine Bühne,“ sagt Martyna, die durch das Lukiškės führt. Es ist das größte Projekt seiner Art in einem Land, in dem Improvisationen ohnehin üblicher sind. Auch ehemalige Schulen oder Fabrikgebäude werden zu Ateliers, Kulturräumen, Soundstudios und Treffpunkten umfunktioniert.
Im Schnelldurchlauf durch die litauische Geschichte
Ein Rundgang durch den Gefängniskomplex ist auch ein Schnelldurchlauf durch die komplexe litauische Geschichte. Gegründet wurde das Lukiškės seinerzeit als durchaus modernes Unterfangen im russischen Zarenreich. So gab es nicht nur gemeinsame Sakralräume für die damals orthodoxen Insass*innen, sondern auch bereits Zentralheizung und Einzelzellen. Kurzzeitig wurde Litauen (wie schon Jahrhunderte zuvor einmal) unabhängig, später zwischen Stalin und Hitler „zugeteilt“ respektive zerrieben. Unter Sowjetherrschaft fanden Enteignungen und Ermordungen der örtlichen Bevölkerung statt. 1941 erreichten die Truppen der deutschen Wehrmacht die Stadt. Und tatsächlich fand ein Großteil der nationalsozialistischen Verbrechen außerhalb der heutigen Bundesrepublik statt. „Jerusalem des Ostens“ nannte man Vilnius, damals Wilna, ein Drittel der Stadtbevölkerung war jüdisch. Etliche Jüdinnen, Juden und andere Menschen, die das Regime als Gegner*innen ausgemacht hatte, waren an diesem Ort versammelt, bevor sie vor den Toren der Stadt ermordet wurden.
Deutlich präsenter als der Nationalsozialismus und seine Verstrickungen erscheint im kollektiven Gedächtnis heute die Zeit der Sowjetherrschaft. In dieser Zeit waren Oppositionelle und Kritiker*innen im Lukiškės inhaftiert, etliche von ihnen wurden von hier aus in die Gulags in Sibirien transportiert. Litauen war das erste Land, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig erklärte. Später nutzte der junge Staat das Gefängnis noch zwei Jahrzehnte lang – auch hier lässt sich der gesellschaftliche Wandel bis in die zunehmend menschenfreundlichere Nutzung der Gefängniszellen ablesen. Heute findet sich, neben künstlerischen Interventionen wie Pokémon-Skeletten, nurmehr ein Gefangener im Lukiškės – es ist ein Pappaufsteller von Wladimir Putin, den die örtliche Tourismusagentur hier gern fotografieren lässt.
Zu Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine wurde die litauische Hauptstadt kurz in allen Nachrichten gezeigt: Das großflächige Anti-Putin-Graffiti ziert bis heute das Rathaus der Stadt. Vielleicht ist es also ein bisschen Understatement, wenn selbst die Touristeninformation Kampagnen mit Slogans herausgibt wie „Nobody knows where Vilnius is…[und dann, in schwarzer Schrift auf schwarzem Grund:] Because it hides very well.“ Aber es stimmt, das Land liegt auch aufmerksamkeitsökonomisch ein wenig eingeklemmt zwischen Polen und dem, was als Baltikum bekannt ist – dem deutlich selbstbewusster auftretenden Estland beispielsweise. Zugleich ist man unmittelbar betroffen von der Außenpolitik, die 1000, 2000 Kilometer Luftlinie entfernt beschlossen wird. Litauen grenzt an Belarus und an die russische Enklave Kaliningrad. Etliche Dissident*innen haben Zuflucht im Land gefunden, manche versuchen von hier aus, ihre journalistische oder politische Arbeit fortzuführen. Und die ukrainischen Landesfarben sieht man aktuell beinahe öfter im Stadtbild als die litauischen selbst. An jedem Kiosk wird zur Unterstützung aufgerufen; niemand spendet so viel privat an das Beinahe-Nachbarland wie die Litauer*innen.
Vilnius als Filmlocation
Ironischerweise ist nun gerade dort, wo man mit dem Sowjet-Erbe nur noch ungern zu tun hat, genau dieses als architektonische Kulisse sehr gefragt – die HBO-Serie „Chernobyl“ wurde in den Plattenbausiedlungen vor den Toren der Stadt gedreht, die Russland-Szenen im Netflix-Hit „Stranger Things“ direkt hier, im Lukiškės-Gefängnis. Das Interesse für die Filmlocations kommt den Betreiber*innen zu Gute – durch die Touren hoffen Martyna und ihre Kolleg*innen, den Betrieb des ungewöhnlichen Ortes mittelfristig sichern zu können.
An Probleme ist man in Litauen gewöhnt. Und womöglich deshalb derzeit auch resilienter als andernorts. „Wie wir heute leben: Das ist doch großartig!“ Ganz unzweideutig ist dieser Satz gemeint. Fast undenkbar, ähnliches derzeit in Deutschland, Frankreich, Großbritannien zu hören. Wer den Westen sucht und die Begeisterung, die sein Versprechen einmal entfachen konnte, der muss derzeit wohl in den geografischen Osten reisen. Wobei das Verhältnis der Litauer*innen zu den politischen Systemen so pragmatisch ist wie zur Religion (die enorme Kirchendichte im Stadtkern sollte nicht darüber hinwegtäuschen).
Natürlich verbindet auch der wirtschaftliche Aufschwung: Vor gerade zehn Jahren, erzählt Martyna, habe es in der Stadt nicht mal eine Handvoll Bars gegeben. Heute ist die Altstadt zwar noch immer weit entfernt von den Tourismusmassen, die sich wochenends in anderen osteuropäischen Hauptstädten drängen. In diesem Jahr hat jedoch erstmals der Guide Michelin vorbeigeschaut und gleich mehrere Sterne vergeben. Ohne Auszeichnung, aber auf der Empfehlungsliste steht zum Beispiel das hervorragende Augustin, in dem primär Gemüse zubereitet wird. Andere Lokale greifen auf das großfürstliche Erbe des Landes zurück und servieren Wild, Rote Bete-Suppe oder zeppelinförmige Teigtaschen im Mittelalter-Dekor. Nun liegt das litauische Durchschnittsgehalt weit unter dem in Westeuropa, und trotzdem wird es ja überall gerade teurer, erzählt die junge Litauerin. Nur eben nicht unbedingt kongruent: Bei ihrem Italienurlaub habe sie jedenfalls weniger für Essen und Trinken bezahlt als derzeit in Vilnius.
Skepsis und Galgenhumor scheinen Grundeigenschaften zu sein, mit denen man im Baltikum durch die Zeiten kommt. Man meint, sie auch in der Kunst zu entdecken, die hier so unbesehen, geradezu aufregend neu erscheint. Naiv sind junge Litauer*innen nicht. Natürlich weiß man um die Gefahr, für die Kunst und Kultur manchmal Katalysator, manchmal Indikator ist, und die global auf denselben Namen hört: Real Estate. Ein anderes Kulturzentrum ähnlichen Zuschnitts, so erzählt es Martyna, sei bereits verkauft worden. Heute befindet sich auf dem Grundstück ein Luxus-Wohnturm. Unter anderem dagegen versucht man, die Bedeutung des geschichtsträchtigen Ortes für die Gegenwart zu reaktivieren.
Vilnius als Hotspot der Kunst
Dass der Kunstkanon ohne den Osten unvollständig wäre, zeigt sich immer wieder beim Besuch der örtlichen Kunstmuseen – in Vilnius untergebracht zum Beispiel in der National Gallery of Art. Allerdings gibt es bisher keine staatliche Sammlung, die es mit der von Danguole und Viktoras Butkus aufnehmen könnte: das Unternehmerpaar kritisiert, gerade „die mutigste und auch kontroverseste“ litauische Kunst komme im offiziellen Kanon des Landes bisher kaum vor. Weshalb sie mit dem MO Museum of Modern Art jene moderne und zeitgenössische Kunst nun selbst ausstellen. Ihr privat finanziertes Museum ist in einem offen konzipierten Bau von Daniel Libeskind untergebracht. Auch die liegende Ausstellungsarchitektur ist bemerkenswert, läuft man hier doch in diverse Ecken oder auf schiefe Ebenen halb bergauf. Aus der über 4000 Werke umfassenden Sammlung werden wechselnde Ausstellungen kuratiert, außerdem gibt es Sonderpräsentationen mit jungen Künstler*innen. Aktuell zu sehen: Die großartige Schau „We Don’t Do This. Intimacy, Norms and Fantasies in Baltic Art“ (bis 08. September 2024) und das amüsante „Down The Rabbit Hole“ (bis 03. November 2024).
Arbeiten und Leben des Künstlers Samuel Bak sind heute im Samuel Bak Museum zu sehen, das als Dauerausstellung zum Vilna Gaon Museum of Jewish History gehört. „Meine Bilder wissen, dass sie ihre Existenz dem Wunder meines Überlebens verdanken,“ schreibt der Künstler anlässlich einer Jubiläumsausstellung zu seinem 90. Geburtstag. Bak wird 1933 in Vilnius geboren. Unter dem Nationalsozialismus wurden mit örtlichen Freiwilligen-Milizen ein Großteil aller litauischen Jüdinnen und Juden, Tausende Pol*innen, Russ*innen, Rom*nja und Kommunist*innen vor den Toren der Stadt in Ponary (litauisch: Paneriai) ermordet, darunter auch Samuel Baks Vater. Das Massaker von Ponary gilt als erster Massenmord dieses Ausmaßes. Die Gedenkstätte auf dem dortigen Waldstück zeugt heute von den wechselnden ideologischen Vereinnahmungen der Geschichte.
Bak überlebte mit seiner Mutter versteckt in einem örtlichen Kloster. Nach der Niederlage der Nationalsozialisten kehrte er seiner Heimatstadt den Rücken und lebte zeitweilig in Tel Aviv, später in den USA. Die Frage, welche Bilder nach der Shoah noch möglich sind, beschäftigt ihn sein Leben lang. Für Samuel Bak lautete die künstlerische Lösung weder Abstraktion noch konkrete Figuration, sondern Symbolismus: Der ikonisch gewordene Junge mit den erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto taucht immer wieder auf seinen oft im Surrealen verorteten Gemälden auf. In einer Sonderausstellung werden derzeit außerdem frühe Zeichnungen und Aquarelle präsentiert – seltene Zeugnisse eines Schreckens, der sich in Echtzeit vor den Augen des damals kindlichen Malers entfaltete.
Wie das Leben und die Kunst, die gesammelten und die selbst produzierten Bilder zusammengehen, lässt sich wiederum an diesem ungewöhnlichen Ort nachvollziehen: Das Kazys Varnelis Museum ist im ehemaligen Wohnhaus des gleichnamigen Künstlers (1917–2010) untergebracht, der 1998 nach Jahrzehnten in den USA nach Vilnius zurückkehrte. Auf ganze 40 Räume erstreckt sich die Dauerschau, gut ein Dutzend davon sind ohne Führung zugänglich: Historische Karten, Skulpturen, Gemälde und Möbel aus der Sammlung des Künstlers – und daneben die flirrende Op-Art-Malerei von Kazys Varnelis selbst. Illusionistische Bildräume auf pinker, türkisfarbener oder grau gefärbter Leinwand inmitten real historischer Räume, die man in einer solchen Fülle wohl kaum je zu sehen bekommt. Die oberste Etage wird mit wechselnden Sonderausstellungen bespielt. Aktuell gibt die Malerin Monika Radžiūnaitė einen Einblick in die zeitgenössische litauische Kunstproduktion (bis 2. Oktober 2024).
WEITERE ORTE
Mehrere Museen und Touren widmen sich dem Leben unter sowjetischer Besatzung mitsamt ihres Geheimdienstes, dem KGB. Neben zahlreichen Museen gibt es inoffizielle Off-Spaces und selbstverwaltete Kulturzentren oder Atelierhäuser, Öffnungszeiten und Adressen können sich immer wieder ändern. Das aktuelle Veranstaltungsprogramm sowie Führungen im Lukiškės-Gefängnis sind unter www.lukiskiukalejimas.lt zu finden. Nebenbei beherbergt die Stadt eine der größten FLUXUS-Sammlungen der Welt – im von außen unscheinbaren Jonas Mekas Visual Arts Centre, begründet vom gleichnamigen Wahl-New Yorker, der vor Ort wie ein Nationalheiliger der Kunst verehrt wird.