Die Arbeiten der ukrainischen Künstlerin Vlada Ralko gehen unter die Haut – im wahrsten Sinne des Wortes. Im Mittelpunkt ihrer Zeichnungen und monumentalen Gemälde steht der Mensch, dessen Innerstes sie malerisch seziert und zum Vorschein bringt.
Durch die bodentiefe Fensterfront der 91 Galerie in der Frankfurter Innenstadt bieten sich bereits erste Einblicke in das Werk von Vlada Ralko. Der neue Ausstellungsraum, der im Dezember 2023 eröffnet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, zeitgenössische ukrainische Kunst und Kultur zu fördern und den Dialog zwischen der ukrainischen und deutschen Kunstszene zu unterstützen.
Mit ausdrucksstarken Gesten und in einer von Symbolen durchzogenen Bildsprache erforscht Ralko die Auswirkungen globaler Konflikte auf Körper und Geist. Schicht für Schicht entwickelt sie ihre Analyse, in der sich anatomische Studien des menschlichen Körpers mit wiederkehrenden Symbolen, abstrahierten Formen und Schriftzügen überlagern. Diese Ebenen müssen sorgsam seziert, die Schichten abgetragen und durchdrungen werden, um zum Kern vorzudringen.
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Das geht unter die Haut!
Der Titel der Ausstellung verweist bereits auf den medizinischen, beinahe chirurgischen Ansatz, den man auf den ersten Blick in den Arbeiten der Künstlerin zu erkennen glaubt. Die Kuratorin der Ausstellung Maryna Shcherbenko stellt fest, dass Ralko diese anatomische Perspektive als Metapher nutzt, um soziale sowie politische Prozesse zu beleuchten: „In diesem Zusammenhang dient die Anatomie nicht nur als Darstellung des physischen Körpers, sondern auch als Mittel zur Visualisierung der inneren, oft verborgenen Mechanismen, die die menschliche Gesellschaft und ihre politische Struktur formen.”
Der menschliche Körper – teils skizziert, teils fragmentiert und häufig verwundet – ist dabei elementarer Bestandteil und wiederkehrendes Motiv in Ralkos Werk. Statt mit dem Skalpell, seziert sie ihn mit dem Pinsel. Denn auch das persönliche Erleben steht für die Künstlerin in Relation zu politischen und sozialen Zusammenhängen, die unser Leben prägen und sich in unseren Körpern manifestieren. Das Eindringen in diese Körper ist somit auch ein kritisches Hinterfragen von politischen Systemen, von Macht, Verletzlichkeit und Widerstand. „In seiner politischen Identität ist der Mensch nicht nur ein Mechanismus, der sich aus funktionellen Organen zusammensetzt,”, erläutert Shcherbenko, „sondern auch eine symbolische Figur, deren innere Mechanismen nicht nur durch die Biologie bestimmt werden, sondern auch politische Realitäten widerspiegeln.”
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Eine Politik der Körper
Vlada Ralko arbeitet gemeinsam mit dem Künstler Volodymyr Budnikov an dem Projekt „Politische Anatomie”. Eine erste Ausstellung fand im Frühjahr 2023 in der städtischen Galerie Arsenał in Poznań, Polen statt. Auch Vorträge und eine geplante Publikation ergänzen das Projekt, das nun in Frankfurt zu sehen ist. Der Katalysator für das Projekt war der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. „In meinen früheren Arbeiten war der fragmentierte Körper eher eine Metapher, ein künstlerisches Stilmittel”, sagt Vlada Ralko im Rückblick. „Doch seit dem Beginn der Maidan-Proteste und der russischen Militäraggression in der Ukraine hat sich die unvollständige menschliche Figur für mich von einer Metapher in eine Art Dokumentation eines vom Krieg verwundeten und entstellten Körpers verwandelt.”
Diese Veränderung in ihrer Bildsprache wird anhand der Serie „Lviv’s Diary” deutlich, die in zwei Nischen der 91 Galerie gezeigt wird. Seit 2022 arbeitet die Künstlerin an dem Tagebuch, zu diesem Zeitpunkt fand sie Zuflucht in Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine. Das Tagebuch umfasst bereits mehr als 1000 Seiten, Ralko setzt die Arbeit daran fast täglich fort. Die Zeichnungen auf Papier zeigen Körperteile, Schädel oder offene Wunden. Auch christliche Symbole wie die Friedenstaube oder Jesus am Kreuz finden Eingang in das Tagebuch. Dabei spielt die Künstlerin mit formalen Parallelen: Das Kreuz verweist ebenso auf den christlichen Glauben wie auf den medizinischen Dienst des Roten Kreuzes. Bei Ralko steht das Kreuz aber auch für ein bestimmtes Modell russischer Bomben, deren Form der eines Kreuzes ähnelt.
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„Diese Symbole sind gleichzeitig entleert und zu Objekten der Manipulation geworden”, gibt Ralko zu bedenken. „Ein Teil meines Lebens fiel in die Zeit der Sowjetunion, in der rituelle Manipulationen mit Symbolen, die auf die guten Seiten der Menschheit hinweisen und Hoffnung geben sollten, eine gängige ideologische Praxis waren. Deshalb verwende ich jetzt diese allzu vertrauten Zeichen, die aufgrund des veränderten politischen Kontextes völlig aus ihrer Bedeutung gerissen wurden.”
Kunst in der Gemeinschaft
Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt, das viele ukrainische Initiativen und Personen aus dem In- und Ausland mit der Frankfurter Kulturszene zusammenbringt. Der Verein Perspektive Ukraine hat die 91 Galerie ins Leben gerufen. „Die Galerie hat zum Ziel, die ukrainische Gegenwartskunst, die künstlerische Vielfalt und das kulturelle Erbe der Ukraine hervorzuheben und die Verbindung zwischen ukrainischen Galerien, Künstler*innen, Kurator*innen und der deutschen Kunstszene zu fördern”, erläutern Katia Garan, Maryna Korak und Oksana Pavliuk, die Initiatorinnen der Galerie. „Kunst dient als Sprache, die einen unvergleichlichen Zugang zu Verständnis, Empathie und kulturellem Austausch bieten kann.” Die Räumlichkeiten werden von der Projektgesellschaft Massif Central zur Verfügung gestellt.
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