Bis zum 21. Juli zeigt die Städelschule Werke ihrer Abschlussklassen in einem leerstehenden Bürogebäude am Schaumainkai. Unterschiedliche künstlerische Ansätze füllen die Räume und eröffnen hinter jeder (Büro-)Tür, in jedem Flur und Konferenzraum neue Perspektiven.
Der Beginn eines Gesprächs und das Warten auf eine Antwort – daran soll der Titel „The Call" (dt. „der Anruf”) der diesjährigen Graduiertenausstellung der Städelschule erinnern. Im Ausstellungskatalog von Johanna Laub, Koordinatorin und Kuratorin der Ausstellung, heißt es, dass die Arbeiten der 26 Absolvent*innen letztlich das Ergebnis genau eines solch intensiven und dialogischen Austauschs zwischen Studierenden, Professor*innen und Lehrenden seien. Ein Blick auf einzelne Positionen offenbart die künstlerische Vielfalt der Absolvent*innen.
Bereits im Foyer des umfunktionierten Gebäudes werden Arbeiten von Benjamin Tiberius Adler und Eric Powell präsentiert. Adler, der vor seinem Studium der Bildenden Kunst Jura studierte, hat eine achtförmige Skulptur aus Gesetzbüchern installiert, durch die ein Wasserkreislauf fließt. Damit verweist seine Arbeit „Down the drain“ auf die ständige Unbeständigkeit von solchen Abhandlungen, die in jeder Legislaturperiode und Rechtsänderungen aktualisiert werden müssen.
Einige Meter weiter in einem Durchgangsraum kommen wir an der Arbeit „Following the Protocol” von Dmitry Teselkin vorbei. Seine Installation besteht aus einer Schicht Pappkartons, die in spielerischer Anordnung die gesamten Wände des Flurs sowie die Türen der Toiletten bedeckt. Kann diese Schicht als eine Art Schutzvorrichtung für die steinerne, dahinterliegende Wand verstanden werden? Ist sie eine Metapher, die nach unserer eigenen, menschlichen Schutzbedürftigkeit fragt?
Noch einen Raum später treffen wir auf eine Rolltür, deren Form einer Guillotine nachempfunden wurde. Mit „White Lie”, so der Titel des Werks, verbindet Jiyoon Chung häusliche, alltägliche und gewaltvolle Elemente, bis sich vielschichtige Fragen aufdrängen: Traue ich mich, durch den scharfen Spalt und damit unter die Klinge der Guillotine zu treten? Und welche Emotionen und Gefühle werden bei diesen Gedanken ausgelöst?
Zwischen Gewalt, Autorität und Disziplin
Die Künstlerin Emilie Estrid Kjær verkleidet in „Prop 1.a” wiederum requisitenartige Rednerpulte mit pastellfarbenen Stoffen, die mit feinen Blumenstickereien verziert sind. Sie erinnern an Muster, die sich auf typischen Haushaltsutensilien wie Toilettenpapier, Küchenrollen oder Geschirrtüchern befinden. Die patriarchale und autoritäre Macht, die von Rednerpulten etwa im politischen Kontext ausgeht, wird so durch eine häusliche Ästhetik durchkreuzt.
Im gleichen Raum befindet sich auch die Installation „About the weight of a tragic eyelid” von Thuy Tien Nguyen. Die Oberfläche der plattformähnlichen Struktur ist mit einer schwarz-violetten Flüssigkeit bedeckt, die von stählernen, senkrecht stehenden Metallskulpturen berührt wird. Die Arbeit greift Elemente des vietnamesischen Bildungssystems auf und reflektiert rigide, disziplinierende Momente in der schulischen Erziehung. Eine solche Plattform dient den Lehrenden als eine Art Bühne, von der aus sie den Unterricht gestalten und markiert somit die Hierarchie zwischen Schüler*innen und Lehrbeauftragten. Die Metallskulpturen sehen wie überdimensionale Füllfederhalter aus, die durch ihr Material die Kälte und Härte des Schulsystems erahnen lassen.
Aus manch einer geschlossenen Bürotür dringen indes Töne und Geräusche hervor, die die Neugierde der Besuchenden wecken. Beim Betreten einer dieser Räume stoßen wir auf die Soundinstallation „Binary Composition for Two Cellos” von Donghoon Gang. Aus zwei kleinen Lautsprecher erklingen die Töne zweier Celli. Die Melodien der Streichinstrumente wechseln von schnell und rhythmisch zu langsam und träge, von fröhlich und harmonisch zu schwermütig und disharmonisch. Die Partitur zu diesem mehrstimmigen Instrumentalstück ist an einer Wand angebracht und in einem kreisförmigen Liniensystem strukturiert, das eine endlose Musikschleife suggeriert. Im Gespräch mit dem Künstler, der vor seinem Studium der Bildenden Kunst Musik und Philosophie studierte, erfahren wir, dass ihn die Form eines Cellos an eine menschliche Silhouette erinnert und ihre Töne an eine menschliche Stimme. „Allegro, Vivace, Largo” – diese musikalischen Bezeichnungen wurden vom Künstler mit Gefühlsregung wie „anxiety”, „sorrow” oder „love” ersetzt. Nicht nur Tempo und Rhythmus, sondern auch die dissonanten oder harmonischen Intervalle der Melodien erzeugen verschiedene Gefühle und Emotionen. Die Celli werden so zu Repräsentanten menschlicher Individuen, die durch ihre Stimmen aufeinander reagieren und sich in einem immer wiederkehrenden Kreislauf unterstützen, streiten und versöhnen.
Sound, Sound, Sound
Am Ende des Gangs, in einem völlig abgedunkelten Raum, befindet sich eine weitere Soundinstallation, diesmal jedoch von Mahya Ketabchis. Wir hören undefinierte Töne, die von metallischen, industriellen und instrumentellen Klängen bis hin zu naturähnlichen Geräuschen reichen und unterschiedlichste Assoziationen auslösen. In „Study of a search” stehen die emotionalen und sensuellen Erfahrungen im Vordergrund, die durch die Töne der Soundinstallation bei den Zuhörer*innen ausgelöst werden.
Stimmen und Gespräche, die hingegen von anderen künstlerischen Arbeiten ausgehen, lassen private und persönliche Geschichten hinter einzelnen Bürotüren erahnen. In Sopo Kashakashvilis Installation „Other-Hood (Act II)” deckt ein roter Samtstoff den gesamten Boden der Bürofläche ab. In der Mitte befindet sich eine Holzbox, an deren Seiten jeweils ein Lautsprecher angebracht ist. Unterschiedliche Erzählungen von scheinbar computergenerierten, weiblich-gelesenen Stimmen erklingen – es handelt sich um Interviews mit migrantischen Müttern der ersten Generation. Sie erzählen von ihren Erfahrungen und Geschichten, auch seit sie in Deutschland leben. Die Box ist mit Aufnahmen von Protestbewegungen aus den jeweiligen Ländern der interviewten Personen bedruckt. Die Decke des Raumes zieren rote figurenartige Arbeiten, auf denen die Worte „De-Heimatize Belonging“ zu lesen sind – ein Begriff, der von der Soziologin Bilgin Ayata geprägt wurde. Sie eröffnet damit einen feministischen, antirassistischen Zugehörigkeitsdiskurs und fragt nach der Bedeutung von „Heimat” und „Zugehörigkeit” in einem migrantischen Kontext, wobei sie diese Begriffe auch in einer kolonialen und rassistischen (Begriffs-)Geschichte verortet.
Ausrangierte Duschgläser sind in modularen Steinblöcken angeordnet und füllen einen Teil des Raumes aus. Auf den Gläsern ist das Logo des Leonardo-Hotels in Frankfurt am Main zu sehen. Bei Umbauarbeiten wurden sie vor dem Hotel zurückgelassen und von der Künstlerin Nina Nadig mitgenommen. Ihre Arbeit „Leonardo” reflektiert damit die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Eigentum und hinterfragt private Besitzverhältnisse. Die rasterartige Anordnung der Gläser im Ausstellungsraum verweist auf die starre und sich wiederholende Architektur des Hotels, während durch die modulare Installation, die beliebig angeordnet und verschoben werden kann, ein spielerischer Moment entsteht. Das Logo des Hotels – der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci – symbolisiert das Bild des perfekten männlichen Körpers und wirft somit nicht nur Fragen nach Körpernormen auf, sondern auch nach der eigenen Präsenz als Künstler*in. Das perfekt geformte Individuum, gemalt vom Meister der Renaissance, stellt das eigene künstlerische Können in Frage und rückt die fortwährende und von Unsicherheit geprägte Selbstoptimierung als Mensch und Künstler*in in den Fokus.
Schaumainkai 69, 60596 Frankfurt am Main
The Call
29. Juni – 21. Juli 2024. Freier Eintritt