Wie kann Fotografie ihr Potenzial im Kampf gegen gesellschaftliche Ungleichheiten und Machtstrukturen entfalten? Aufschluss bietet bis zum 22. September eine Ausstellung der Deutschen Börse Photography Foundation, die die Finalist*innen ihres renommierten Fotografie-Preises zeigt – darunter auch Gauri Gill und Rajesh Vangad.
Anlässlich des Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2024 werden noch bis zum 22. September 2024 die vier Finalist*innen in den Räumlichkeiten der Deutschen Börse in Eschborn präsentiert. Neben Künstler*innen wie VALIE EXPORT, die seit den 1970er-Jahren eine bekannte Größe in der internationalen Performance-Szene ist, oder Gauri Gill, die 2022/2023 eine Einzelausstellung in der SCHIRN hatte, sind die Arbeiten von Hrair Sarkissian und der diesjährigen Preisträgerin Lebohang Kganye vertreten. Die Gemeinsamkeit dieser Künstler*innen liegt in der Nutzung der Fotografie als widerständiges Medium, das gesellschaftliche Machtstrukturen offenlegt und unterschiedliche Erinnerungen verschiedener Generationen aufbewahrt.
Widerstand dokumentieren
Die Fotografie „Körperkonfigurationen“ von VALIE EXPORT zeigt die Künstlerin auf einem Bürgersteig in Wien sitzend. Ihre Beine nach vorne gestreckt und eng aneinandergepresst, umklammert sie mit ihrer ganzen Armlänge eine Ecke der steinernen Architektur. Diese Szene veranschaulicht, wie sehr der menschliche Körper von den Normierungen, den Strukturen und der Architektur von öffentlichen Räumen beeinflusst wird – täglich reagieren wir mit unserem Körper auf die Einflüsse und Beschaffenheit einer menschengemachten Umgebung. Mit dem Wiener Stadtgebäude assoziieren wir ein starres, nicht zerstörbares Gefüge: „Körperkonfigurationen“ formuliert damit auch eine deutliche Kritik an patriarchalen und festgefahrenen Machtstrukturen, die den weiblichen Körper in normierte und fremdbestimmte Verhältnisse zwängen. Ihre Fotografien, mit denen sie Szenen ihrer Performances dokumentarisch festhält, sind Teil eines multimedialen Ansatzes ihrer künstlerischen Praxis.
Auch die Preisträgerin Lebohang Kganye integriert fotografisches Material in Skulpturen, Performances oder szenografische Installationen. Die südafrikanische Künstlerin wuchs nach dem Ende der Apartheid auf. Um ihre eigene Biografie in diesem Kontext zu rekonstruieren, durchforstet sie die Bilder aus ihrem Familienarchiv. In „Mohlokomedi wa Tora“ werden lebensgroße Fotografien von Personen und Gegenständen aus den Familienalben im Ausstellungsraum platziert. Die linke Hälfte der Installation zeigt die Küche von Kganyes Großmutter. Auf der rechten Seite sitzt ihr Großvater auf einem Klappstuhl vor den Häuserfassaden sogenannter Townships – hierbei handelt es sich um Wohnsiedlungen, in die die Schwarze Bevölkerung im Zuge der Apartheidpolitik unter prekären Lebensbedingungen hineingezwungen wurde.
Familienarchive als Orte der Erinnerung
Als Kganyes Arbeit in der Photographers’ Gallery (London) ausgestellt wurde, befanden sich im Zentrum der Installation sogenannte „Apollo Lights“, die in den Townships als Flutlichter verwendet werden. In der Deutschen Börse strahlt in Anlehnung dessen das grelle Ausstellungslicht auf die Arbeit – diese permanente Zurschaustellung privater Lebenssituationen soll dem Ausstellungskatalog zufolge „an die ständige Möglichkeit der Überwachung durch die Apartheidsregierung“ erinnern. Die lebensgroßen Fotografien werden dadurch zu mehr als nur Archivalien aus dem privaten Umfeld. Denn indem die Szenerie die Erinnerungen Schwarzer Personen im realen Handlungsraum der Besucher*innen repräsentiert, wird die rassistische Apartheidpolitik unmittelbar in unsere Gegenwart überführt und verdeutlicht, wie die daraus resultierenden Strukturen heute noch die Lebensrealitäten vieler Schwarzer Bürger*innen Südafrikas bestimmen.
Von welchen Hoffnungen, Kämpfen und Erfahrungen erzählen die Orte, die einen wichtigen Platz in den Erinnerungen unserer Familienangehörigen einnehmen? Diese Frage steht nicht nur bei Kganye im Zentrum. Als Angehöriger der Warli, einer indigenen Bevölkerung Indiens, führte Rajesh Vangad die Künstlerin Gauri Gill durch sein Heimatdorf, um die Orte zu dokumentieren, die von den Widerständen und der Lebensweise der Warli erzählen. Dabei spielten Vangads Familienerinnerungen eine wichtige Rolle: Durch diese lernte Gill die Geschichten jener Orte besser kennen und stellte fest, dass ihre Fotografien die Vielschichtigkeit der Erzählungen nicht wiedergeben können. In diesem Kontext entstand zwischen Gill und Vangad, der selbst Künstler ist, ein Austausch, bei dem Gills Schwarz-Weiß-Fotografien mit Vangads narrativen Warli-Malereien kombiniert wurden.
Die Arbeit „Harvest“ zeigt eine ruhige Szenerie, in der ein Mann vor einem riesigen Haufen der erbeuteten Reisernte sitzt. Vangads Malereien fügen dieser fotografischen Szene die Darstellung einer kollektiven Anstrengung hinzu – zahlreiche gezeichnete Figuren sind in der oberen Bildhälfte aufgereiht und deuten eine voranschreitende Bewegung an, während sie Werkzeuge in den Händen halten und die Ernte sammeln. Zu den Arbeiten von Vangad und Gill liegen im Ausstellungsraum Begleittexte aus. Darin sind die Erzählungen und Erinnerungen von Vangad und seiner Familie nachzulesen, die im Kontext von „Harvest“ einen Einblick in die mühsamen Arbeitsschritte dieser kollektiven Anstrengung geben.
Durch Vangads und Gills Kollaboration werden Erzählungen indigener Bevölkerungen sichtbar, die bis heute systematisch unterdrückt werden. Die abgebildeten Erinnerungen zeigen ihre Lebensweisen, die die Vertrautheit und den engen Austausch mit den Rhythmen der Natur in den Vordergrund stellen und sich extraktiven und kapitalistischen Logiken widersetzen. Das Medium Fotografie wird durch diesen Austausch erweitert, indem es marginalisierte Bevölkerungsgruppen nicht nur abbildet, sondern ihr sonst unterdrücktes Wissen und ihre Erinnerungen in die künstlerische Produktion mit einbezieht.
Erinnern als künstlerische und politische Praxis
Ähnlich verhält es sich mit den konzeptuellen Fotografien von Hrair Sarkissian, in denen Erinnerungen von Individuen im Zentrum stehen, die der Künstler in gesellschaftliche und historische Kontexte einordnet. 50 Fotografien aus der Serie „Last Seen“ zeigen Innenräume, Korridore, Häuserfronten und Gärten. Es handelt sich um private Rückzugsorte im Kosovo, Libanon, in Bosnien, Syrien oder Armenien, an denen Menschen zuletzt von ihren Angehörigen gesehen wurden, bevor sie aufgrund der dortigen kriegerischen und politischen Auseinandersetzungen als vermisst erklärt wurden. Sarkissian besuchte diese Orte, um sich mit den Familienmitgliedern der vermissten Personen auszutauschen. In der unteren Bildhälfte jeder Fotografie ist ein feiner Reliefdruck zu erkennen, dessen Inhalt sich aus der Ferne nicht erschließt. Erst bei genauerer Betrachtung und nur unter einem bestimmten Lichteinfall sind die Namen der Vermissten und das Jahr ihres Verschwindens zu bemerken. Die subtile, beinahe unsichtbare Schrift verweist auf die Gleichzeitigkeit ihrer Ab- und Anwesenheit und nimmt zugleich Bezug auf die Hoffnung der Familienmitglieder, ihre Angehörigen jemals wiederzusehen.
Im Vordergrund fast all dieser künstlerischen Positionen steht damit nicht zuletzt, dass den Erzählungen verschiedener Generationen aktiv Gehör geschenkt wurde. Die Einbeziehung dieser Erinnerungen in den fotografischen Prozess richtet sich gegen das Vergessen ehemaliger und anhaltender Ungerechtigkeiten und schafft ein Bewusstsein für die Verflechtung vergangenen Unrechts mit gegenwärtigen Machtdynamiken. Die Arbeiten der ausgewählten Künstler*innen lassen trotz ihrer formalen und konzeptuellen Unterschiede Querbezüge zueinander zu und bilden einen roten Faden durch die gesamte Ausstellung, der die Rolle der Fotografie als widerständiges Medium zementiert – und das Erinnern sonst unterdrückter und vergessener Perspektiven zur künstlerisch-politischen Praxis erklärt.