Der Blick auf die Leinwand kann den eigenen Blick nachhaltig verändern: Unsere Lieblingsfilme der diesjährigen Berlinale.
Endlich wieder Filmkunst schauen! Nach der coronabedingten Pause erschienen etliche Filme in einer ganz neuen Dringlichkeit. Selten war die Wahl so schwierig, wie in diesem Jahr. Von anarchistischen Uhrmacher*innen, österreichisch-kurdischen Teenagern & tröstenden Landschaften: Ein Dutzend Lieblingsfilme der aktuellen Berlinale 2022 in der Nachlese – immerhin drei Kinostarts sind schon angekündigt.
„Unrueh“ von Cyril Schäublin
In den 1870er Jahren reiste der russische Geograf Pjotr Alexejewitsch Kropotkin für kartografische Zwecke ins Schweizer Jura-Gebirge und kehrte einige Zeit später als überzeugter Anarchist zurück nach Russland. Was war geschehen? Kropotkin war vor Ort im intensiven Kontakt mit anarchistisch organisierten Uhrenmacher*innen gekommen – Begegnungen, die einen tiefbleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hatten.
In „Unrueh“ spürt Cyril Schäublin jener Zeit nach und inszeniert das Ringen um eine zukünftige gesellschaftspolitische Ausrichtung im Rahmen der kapitalistischen Industrialisierung. Arbeitspausen werden sekundengenau gestoppt, Uhren abgeglichen, Zeiten umgerechnet. In eindrucksvollen Makroaufnahmen zeigt Schäublin immer wieder die sorgfältige Tätigkeit der Uhrenmacher*innen, speziell bei der Herstellung der titelgebenden „Unrueh“ – dem Schwingsystem mechanischer Uhren. Deren stete Oszillation zwischen zwei Polen, die Uhren erst zum Ticken bringt und so in gewisser Weise Zeit überhaupt ermöglicht, wird hier zum Sinnbild der Dialektik der Geschichte: dem Widerstreit zwischen politischen Polaritäten auf der Suche nach einer vernünftigeren Welt.
„Sonne“ von Kurdwin Ayub
Es ist eine Szene, wie man sie bis dato wohl noch nie im Kino zu sehen bekam: Drei Freundinnen (Yesmin, Bella und Nati) im elterlichen Schlafzimmer, Burka tragend und shit-talkend, am Singen, Twerken und sich dabei gegenseitig filmend. Spontan entsteht ein albernes Musikvideo zu REMs „Losing My Religion“. Die Ereignisse überschlagen sich im Spielfilmdebüt der kurdisch-österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub, als das Video dann auf YouTube landet: Yesmins Mutter (deren Kleidung sich die Freundinnen im Video überstülpen) will im Musik-Clip Blasphemie erkennen, während der Vater die drei jungen Frauen, nachdem das Video besonders in der kurdischen Community viral geht, stolz von Auftritt zu Auftritt fährt. Während Nati und Bella sich zunehmend von den kulturellen Eigenheiten der muslimisch-kurdischen Gemeinschaft angezogen fühlen, erwächst in Yesmin der Wunsch nach Abgrenzung. Vielschichtig, gewitzt und umsichtig erzählt Ayub in „Sonne“ vom Minenfeld Adoleszenz zwischen kulturellen Identitäten, Social Media-Wahnsinn und individueller Persönlichkeitsentwicklung, inklusive wohlmeinender Bevormundung und Doppelmoral von allen Seiten.
Der Kinostart ist für den September 2022 vorgesehen.
„Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ von Andreas Dresen
2002 wurde der Bremer Murat Kurnaz auf seiner Reise nach Pakistan aufgegriffen und ohne Anklage ins damals neue CIA-Gefängnis Guantanamo verfrachtet. Andreas Dresen interessiert, wie es Kurnaz‘ Mutter in dieser Zeit erging, und macht eine moderne David-gegen-Goliath-Erzählung draus. „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ ist vielleicht nicht der beste Dresen-Film, den es je gab. Aber er macht große Freude, ganz ohne Politdrama-Kitsch. Und auch die Frage, ob Murat Kurnaz nun tatsächlich schuldig war oder nicht, spart dieser Film aus. Dresens Interesse an den sogenannten kleinen Leuten, denen sich der Filmemacher immer schon mit uneingeschränkter Empathie ohne jegliche Sentimentalität widmete, stößt hier auf die ganz große Weltpolitik.
Meltem Kaplan, die als Comedian arbeitet, kann ihren Hauptberuf auch in ihrer Rolle als Rabiye Kurnaz kaum verleugnen. Ihrem manchmal etwas übereifrigen Spiel schaut man dank ihrer fantastischen Präsenz auf der Leinwand trotzdem gern zu. Nicht zuletzt handelt dieser Film auch von einer ungewöhnlichen Annäherung: der zwischen Rabiye Kurnaz und ihrem Rechtsanwalt Bernhard Docke (Schauspieler Alex Scheer verschwindet ganz in dieser Rolle). Ihre Lebenswelten könnten kaum weiter auseinanderliegen. In der größten Hilflosigkeit aber treffen beide Facetten bundesdeutscher Realität unverhofft aufeinander und schließen so etwas wie eine Freundschaft.
Der Kinostart ist für den 16. April vorgesehen.
„A Love Song“ von Max Walker-Silverman
Auf einem abgelegenen Campingplatz irgendwo im Nordwesten der USA an einem großen See steht in Slot Nummer 7 ein einsamer Wohnwagen. Hier verbringt Faye ihren wohlverdienten Lebensabend – so könnte man jedenfalls meinen. Ihre Tage bestehen aus Angeln, Essen, Radio hören und Sternenbetrachtung. Und warten. Denn tatsächlich ist Faye mit ihrer Jugendliebe Lito verabredet, den sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat und mit dem sie ein trauriges Schicksal teilt: beide sind seit einigen Jahren verwitwet. Was allzu leicht eine seichte Indie-Komödie hätte werden können, gerät in den Händen des Regisseurs und Drehbuchautors Max Walker-Silverman zu einer einfühlsamen Kontemplation über Liebe und Trauer. Hier sei noch zu erwähnen, dass es durchweg die Frauen sind, die die Dinge in die Hand nehmen (emotional, technisch, handwerklich). Voller Empathie erforscht die Kamera in ruhigen Einstellungen die Gesichter der wortkargen Protagonist*innen, die von Wehmut, Zuneigung und Einsamkeit künden. Die majestätische Landschaft, der Walker-Silverman ebenfalls viel Raum lässt, wird indes zum geduldigen Zeugen und vielleicht einzigem Trost dieser irgendwo aus der Zeit gefallenen Figuren.
„Rewind & Play (‘It’s not nice?’)“ von Alain Gomis
Das Videotape spult vor. Zurück. Spielt’s nochmal. Wer ist zu sehen? Der US-Amerikaner Thelonious Monk (1917–1982), einer der größten Jazzmusiker der Welt und einer ihrer ersten Hipster. Exzentrisch, kongenial als Komponist, einsilbig als Befragter bei Interviews, die er ausgesprochen ungern gab. Und trotzdem stand er dem französischen Fernsehen im Dezember 1969 geduldig Rede und Antwort. Die Bänder jener Aufnahmen sind jetzt erst aufgetaucht. „Rewind & Play“ collagiert aus dem Archivmaterial, in dem doch immer wieder dasselbe Szenario zu sehen ist, eine experimentelle Dokumentation. Gemeinsam mit der Kamera wandern die Augen des Publikums in Nahaufnahme über das schweißnasse Gesicht des Musikers, über seinen krausen Bart, Lippen, Nase und Augen.
Schauen zu, wie er dem Moderator ein ums andere Mal dieselbe Frage beantworten soll, weil der Take wieder nicht gefiel. Werden Zeuge, wie das Filmteam unverblümt erklärt, Monks kritischen Einwand, er sei bei einem Auftritt schlechter bezahlt worden als seine französischen Musikerkollegen, rauszuschneiden. Aber welchem Blick folgen wir hier überhaupt? Woher das bizarre Interesse der Kamera an der Haut des Protagonisten, die fast einer physiognomischen Studie gleicht? Wieso gibt es niemanden, der dem TV-Gast die Schweißperlen von der Stirn wischt, den Scheinwerfer verstellt? Ahnungen rühren sich, ohne jemals bestätigt oder überprüft werden zu können. Wäre ein weißer Musikstar ähnlich behandelt worden? Ein irritierendes Werk, das seine Kraft allein aus der Montage aussortierter Archivaufnahmen schöpft.
„The United States of America“ von James Benning / „Journal d’Amérique“ von Arnaud des Pallières
In der Sektion Forum präsentierte die Berlinale mit „The United States of America“ dieses Jahr das neue Werk des Avantgarde-Filmemachers James Benning. Unter dem gleichen Titel hatte Benning bereits 1975 einen Film veröffentlicht, der heute als ein zentrales Werk des strukturalistischen Films gilt. Während damals noch Landschaftsaufnahmen – gefilmt aus einem fahrenden Auto – ineinander verwebt wurden, dominieren im neuen Film statische Aufnahmen. Jedem Bundesstaat widmet der Künstler ein knapp zweiminütiges Standbild: Bahnunterführungen, einsame Highways, Industrieanlagen, mannigfaltige Landschaften von der Wüste bis zum Bergwald. Ein kleiner, aber bedeutsamer Twist am Schluss nimmt die Eindeutigkeit der Bilder selbst in den Fokus (und erinnert an John Skoog, der 2017 im Double Feature zu sehen war). Dass die USA Fantasien beflügelt und Legenden auf den Weg gebracht haben, davon handelt auch Arnaud des Pallières Film-Essay „Journal d’Amérique“, der ebenfalls im Forum-Programm zu sehen war. Eine filmische Auseinandersetzung mit den Mythen und Geschichten der Vereinigten Staaten, mit eingelösten und gebrochenen Versprechen.
„Rimini“ von Ulrich Seidl
Mutterseelenallein läuft ein bulliger, überkandidelt wirkender Mann im schweren Mantel entlang trostloser, verregneter Straßen, bis er schließlich sein Ziel erreicht: ein unscheinbares Vorort-Einfamilienhaus, wo er von seinem Bruder schon erwartet wird. Die Mutter ist verstorben und die Söhne kümmern sich um letzte Formalitäten. Am nächsten Tag geht es für den Mann zurück in seine Wahlheimat Rimini. Es ist der abgehalfterte Schlager-Star Richie Bravo, der hier Quartier bezogen hat und Ulrich Seidl zeigt die kärglichen Überreste seiner Existenz, in der jeder Tag dem nächsten gleicht – bis zum Bersten gefüllt mit Lebenslügen, Alkoholsucht und Geldsorgen. Selbst durch allabendliche Konzerte vor Rentnergruppen, die an glückliche, längst vergangene Tage erinnern sollen, kann der Schlagersänger sich kaum über Wasser halten und greift so zu immer drastischeren Maßnahmen der Selbsterhaltung, von Prostitution bis hin zu Erpressung.
An Richie Bravo dekliniert Seidl schonungs-, aber nie empathielos einen tristen Abgesang auf die Generation der Wohlstandskinder der Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahre samt ihrer unbeschwerten, weltfremden Sorglosigkeit bis zum bitteren Ende durch. Unbarmherzig, trostlos und entrückt erscheint so auch der italienische Badeort – wie die Geschichte, die sich aus vielen Fragmenten nie ganz zusammenfügen will und sich mitsamt seinem Protagonisten in fast totaler Sinn- und Bedeutungslosigkeit aufzulösen droht.
Der Kinostart ist für den 19. Mai vorgesehen.
„Camuflaje“ von Jonathan Perel
Am Anfang ist da nur das Rennen. Minutenlang konzentriert sich die Kamera auf die nackten Füße eines Läufers auf unebener Straße. Läuft da jemand vor etwas davon oder vielmehr etwas entgegen? Die Füße gehören dem argentinischen Schriftsteller Félix Bruzzone, der sich in seinen Werken immer wieder mit der Zeit der argentinischen Militärdiktatur auseinandersetzt. Jenem Regime, das in seinem sogenannten „schmutzigen Krieg“ gegen die eigene Bevölkerung Unzählige – darunter auch Bruzzones Mutter – verschleppt, gefoltert und ermordet hat.
In „Camuflaje“ dreht sich alles um die Militärbasis Campo de Mayo, dessen Funktion als Internierungslager erst nach Ende des Regimes bekannt wurde. Ganz in der Nähe wuchs Bruzzone bei seiner Oma auf und eben dort wurde auch seine Mutter interniert und vermutlich ermordet. Jonathan Perel ignoriert konsequent die Narrative klassischer Dokumentarfilme – die Familiengeschichte des Schriftstellers taucht zum Beispiel nur beiläufig in dessen Gesprächen mit anderen auf. Der Schrecken ist offenbar allen noch so präsent, dass er gar nicht näher benannt werden muss. Oder kann? „Camuflaje“ versucht der titelgebenden Verschleierung durch die Militärdiktatur mittels einer soziokulturellen Kartografie des Unorts Campo de Mayo auf die Spur zu kommen. Am Ende rennt der Schriftsteller wieder: dieses Mal weg, weit weg vom Ort des Grauens.
„Eine deutsche Partei“ von Simon Brückner
Um eines geht es in dieser Dokumentation gefühlt in jeder zweiten Einstellung: Wie man endlich die gewünschte Außenwirkung hinbekommt. PR und Marketing werden in diesen anderthalb Stunden sehr viel leidenschaftlicher diskutiert als politische Inhalte. Es überrascht, wie offenherzig die „Alternative für Deutschland“ Dokumentarfilmer Simon Brückner Einblick in ihre täglichen Abläufe gibt. Brückners Aufnahmen bleiben völlig unkommentiert, nicht einmal Einblendungen für die Namen der jeweils Handelnden gibt es. Unspektakuläre Parteisitzungen wechseln sich ab mit Besuchen beim kroatischen Nationalisten-Altvater, der dem sanftmütigen Jungmitglied erklärt, man solle als moderne Rechte doch nicht mehr auf „Hollywood-Nazis“ setzen.
Auch wenn sich der ein oder andere hier vor der Kamera zurückgehalten haben mag, bietet „Eine deutsche Partei“ interessante Einblicke in ein Fegefeuer der Eitelkeiten, in dem sich Arbeiter und Akademiker ebenso verständnisarm gegenüberstehen wie Ost und West, Lokal- und Bundespolitik, selbsterklärte Nationalbolschewisten, Rechte und Neolibertäre. Der Kitt scheint – mit personellen Ausnahmen – nicht zuletzt im anti-westlichen Ressentiment zu liegen. Diese Verachtung des Gleichheitsversprechens, das die bürgerliche Gesellschaft historisch eint, steht der gewünschten Außenwahrnehmung dann doch massiv entgegen. Und weist erhellender Weise gerade hierin Parallelen auf zu aktuellen Diskursen auch jenseits der politischen Rechten.
„Baqyt (Happiness)“ von Askar Uzabayev
Wenn eine Mitarbeiterin der kasachischen Botschaft zur Premiere im Publikum auftaucht und sich bemüßigt sieht, jede politische Dimension der im Film dargestellten, brutalen Gewalt gegen Frauen zu relativieren, dann muss hier schon ein Nerv getroffen sein. Denn jene Gewalt ist in Kasachstan bis dato rechtlich kaum zu belangen, wie „Baqyt“-Drehbuchautorin Assem Zhapisheva zu berichten weiß. Und genau um jene Behauptung, jede sei doch ihres eigenen Glückes Schmiedin, geht es ziemlich treffend auch in diesem Film. Gemeinsam mit dem Regisseur Askar Uzabayev entwirft Zhapisheva das Bild einer misogynen Gesellschaft, in der sich folgerichtig auch die Frauen untereinander wenig gönnen.
Das anzuschauen kann bisweilen eine Zumutung sein: Der Familienvater ist sentimental, weil seine geliebte Tochter heiratet. Kurz darauf prügelt er seine Ehefrau grün und blau. Als die ausbrechen möchte, eskaliert die Gewalt vollends. All dies erzählt „Baqyt“ nuanciert – auch die gequälte Protagonistin ist eine glaubwürdige Handelnde, keineswegs reine Sympathieträgerin. Großartig besetzt ist dieses Drama, in dem das titelgebende Glück nur als mattes Selbstoptimierungsversprechen am grauen Himmel aufblitzt, obendrein.
„Ta farda (Until Tomorrow)“ von Ali Asgari
Zwei Menschen ziehen durch die kalte Stadt und suchen verzweifelt Zuflucht für sich und ein Baby. Fast könnte man „Ta farda“ für eine moderne Weihnachtsgeschichte halten – freilich ohne Happy End und mit zwei Freundinnen statt Vater und Mutter: Die alleinerziehende Fereshteh braucht dringend eine Betreuung für ihre junge Tochter. Nur bis zum nächsten Tag, denn die Eltern haben ihren Besuch angekündigt. Sie dürfen nichts vom Kind wissen. Das Private ist im Iran zwangsläufig politisch und so werden auch Nachbarinnen, Krankenhauspersonal und die Pförtnerin im Studentenwohnheim von Feresthehs bester Freundin Atefeh schnell misstrauisch ob der jungen Frau ohne Ehemann. Folgerichtig helfen sich beide Protagonistinnen in dieser Odyssee, die in ihrer Lakonie an Filme wie Jafar Panahis „Ayneh“ erinnert, ausschließlich selbst. „Ta farda“ sei ein Stimmungsbild des aktuellen Iran, sagt Regisseur Asgari, in dem sich gerade junge Frauen nicht mehr um die rigiden religiösen Sittenwächter scheren möchten – und zugleich wenig Hoffnung haben, der bleiernen Schwere im Land absehbar zu entkommen.
„A Little Love Package“ von Gastón Solnicki
Am Ende bleibt immer noch unklar, was für einen Film man da gerade überhaupt gesehen hat. Ganz sicher jedoch keine „klassische Komödie“, wie das Programmheft der Berlinale resümiert. Die Synopsis lässt sich so simpel wie nur denkbar zusammenfassen: die griechische Lehrerin Angeliki sucht mit Hilfe der Innenarchitektin Carmen eine geeignete Wohnung in Wien, wird jedoch nicht fündig. „A Little Love Package“ ist zunächst einmal wunderschöne Kinematographie und erhabener Schnitt. Außerdem kondensierte Gegenwart, geschmiedet aus aneinandergereihten Episoden, unterteilt in lose Kapitel und Sequenzen, die im Moment ihres Ablaufs undurchdringlich konkret und zwingend notwendig erscheinen.
Mag es auch keine klassische Handlung geben, so scheint doch so etwas wie der Geist der Weltgeschichte die Bilder zu durchdringen und mittels der Bildgewalt des Kinos kurz einzufangen. Von atomisierten Expats über Zeitenwende und Wiener Raucherkneipen bis hin zum Existenziellsten: Leben und Tod, Alles und Nichts. Am Ende erklingt Gustav Mahlers Vertonung von Friedrich Rückerts Gedicht: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Und auch als Betrachter*in braucht man nach „A Little Love Package“ einen Augenblick, um wieder in der Realität anzukommen.
Von der Macht des Kinos: Drei weitere Empfehlungen
Der Blick auf die Leinwand kann den eigenen Blick nachhaltig verändern. Davon handelte bei dieser Berlinale stellvertretend für Hunderte andere Filme nicht zuletzt die Dokumentation „Komm‘ mit mir in das Cinema – Die Gregors“. Erika und Ulrich Gregor sind Urgesteine des deutschen Kinos, haben Filmemacher*innen aus aller Welt ins Berliner „Arsenal“ und auf die Filmfestspiele geholt, künstlerische und experimentelle Formate gefördert, ohne Rücksicht auf den aktuellen ideologischen Zeitgeist. Zweieinhalb Stunden lässt Alice Agneskirchner das Paar hier seine eigene Geschichte erzählen. Danach wünscht man sich, nur weitere Filme zu entdecken – beispielsweise Cem Kayas „Aşk, Mark ve Ölüm (Liebe, D-Mark und Tod)“ über eine ganze Subkultur türkischer Gastarbeitermusik in Deutschland, die sich seit den 1960er Jahren quasi unbemerkt von der Mehrheitsgesellschaft entwickelte. Oder „West Indies ou les nègres marrons de la Liberté“ des mauretanischen Filmemachers Med Hondo von 1979: Gedreht auf einem einzigen Holzschiff, das zur Bühne für eine Groteske über die französische Kolonialgeschichte wird. (Der Meilenstein des afrikanischen Kinos ist Bestandteil der Med Hondo Collection des Harvard Film Archives).