Die computergenerierte Erweiterung unserer Realität, wie sie unter „Augmented Reality" oder „AR" verstanden wird, hat neben der Gamingwelt längst auch die Kunst erreicht. Doch was macht ihren besonderen Reiz aus? Erste Antworten finden sich in zwei AR-Ausstellungen im öffentlichen Raum Frankfurts.
Der AR-Boom, der durch das Spiel Pokémon Go ausgelöst wurde, hat nicht nur in der Gamingwelt seine Spuren hinterlassen (auf dem Höhepunkt von Pokémon Go im Jahr 2016 spielten über 250 Millionen Menschen pro Monat das Spiel!), sondern auch in der Kunstwelt. AR-Installationen verwickeln uns in eine Art Spiel, indem sie unser gewohntes Umfeld künstlich erweitern. Wie bei der Pokémon-Jagd werden wir eingeladen, zu einem bestimmten, auf einer Karte markierten Punkt zu kommen, um über eine App oder einen QR-Code eine AR-Installation zu finden.
In Frankfurt haben wir aktuell gleich mehrere Möglichkeiten, diese neue Dimension der Kunst zu erleben. Die App-basierte Ausstellungsplattform WAVA bietet mit „The ANLAGE" eine Kunstsuche rund um die Gallusanlage in Frankfurt am Main, während die freitagsküche und Maiken Laackmann unter dem Titel „Augmented Bahnhofsviertel" einen Ausstellungsrundgang durch das Stadtviertel entwickelt haben. Beide Projekte untersuchen, wie wir den öffentlichen Raum anders nutzen können und welche Möglichkeiten Kunst in einer digitalisierten Welt hat.
Die spielerischen Elemente der AR-Installationen ziehen uns in den digitalen Raum und erweitern den Begriff des konventionellen Ausstellungsbesuchs: Hier werden Teilnehmende zu halben Kurator*innen, denn obwohl sie nicht die volle Macht über die Ausstellung haben, können sie doch die Größe von Kunstwerken verändern und sie von einem Ort zum anderen bewegen. Vor dem Frankfurter Hauptbahnhof gibt es zum Beispiel eine Installation von Götz Schramm mit dem Namen „Die kommende Gesellschaft liegt hinter unseren Depressionen", die gedreht, in ihrer Größe verändert und an verschiedenen Orten platziert werden kann. Wer einmal am Frankfurter Hauptbahnhof war, kann sich vorstellen, dass die glamouröse AR-Installation im Hintergrund des Bahnhofs eher grotesk wirkt: Man würde niemals erwarten, dass in diesem Bereich ein riesiger glänzender rosa AR-Kopf auftaucht, der zu innerer Dissonanz und Interesse an der neuen Dimension des städtischen Raums führt.
Neue (Stadt-)Räume der Kritik
„Augmented Bahnhofsviertel“ zeichnet sich durch die Helligkeit und Brillanz der gezeigten AR-Arbeiten aus. Ein riesiger Altkleiderhaufen ragt unter dem Titel „Frankfurt Fashion Movement Kleiderberg" am Rathenauplatz in den Himmel und nimmt praktisch den gesamten Bildschirm des Smartphones ein. Es entsteht der Eindruck einer Pyramide, einer Art Shopping-Kults. Bemerkenswerterweise befindet sich der gigantische Altkleiderberg direkt vor dem Eingang der weltberühmten Designerläden, für die Menschen normalerweise in der Schlange stehen. War die Wahl des Ortes ein Zufall? Würde es einen Unterschied machen, wenn es sich nicht um eine virtuelle, sondern um eine reale Installation handeln würde? Die Antwort auf diese Frage ist höchstwahrscheinlich, dass eine solche Installation außerhalb der Grenzen eines Smartphones nicht existieren könnte. Ein gutes Beispiel dafür ist eine andere monumentale Altkleideransammlung, diesmal jedoch in physischer Form, die dieses Jahr auf der Documenta fünfzehn präsentiert wurde: „Return to Sender" von The Nest Collective. Anders als der virtuelle Altkleiderberg steht „Return to Sender" nicht vor einem Tempel der Konsum- und Wegwerfgesellschaft, den man für den Textilmüll in Teilen verantwortlich machen könnte – und dies führt zu einem der größten Potenziale von AR: Augmented Reality ermöglicht riesige Ausstellungen im öffentlichen Raum und kritische Kommentare zur unmittelbaren Umgebung, wie sie in physischer Form kaum möglich wären, aktuell jedoch in den AR-Installationen in Frankfurt bemerkt werden können.
Die Kunstwerke von WAVA und „Augmented Bahnhofsviertel” verbinden Fragen mit bestimmten Lokalitäten und verhelfen ihnen damit zu mehr Sichtbarkeit. Durch sie zeichnen sich digitale Dilemmas der Zukunft ab: Müssen wir demnächst digitalen Raum kaufen, so wie man jetzt schon Sterne kauft? Wir sind zwar noch weit von diesem Thema entfernt, doch andererseits sitzt uns die Zukunft im Nacken und der Kommerz duldet eine Vergesellschaftung des Raums nur bedingt, auch wenn wir von „ephemeren" digitalen Räumen sprechen. Achim Lengerers Installation „Wann ist das Sprechen über Gefühle ein politischer Akt?" geht diesen Fragen der Privatisierung des öffentlichen Stadtraums nach und präsentiert riesige rot-grüne Pillen mit Textfragmenten von Mark Fisher, die von einem Soundtrack begleitet werden und lautstark in den öffentlichen Raum des dort gerade stattfindenden Weihnachtsmarktes eindringen.
Nouria Behlouls „Friendly Reminder (Enşöligensi)" in der Neuen Mainzer Str. 24 erobert wiederum die Wolkenkratzer und den Himmel der Stadt. Fliegende Phrasen mit begleitenden Klängen durchziehen via AR den Himmel, fast wie eine Allegorie auf die Zukunft und unsere noch immer kleinbürgerliche Vorstellung von Flugmaschinen. Da Frankfurt ein internationaler Ort ist, an dem Stimmen in verschiedenen Sprachen gehört werden, ist es zugleich ein Ort, an dem falsche Wahrnehmungen und Missverständnisse schnell Verbreitung finden. Worte, die in der Luft zu hängen scheinen, sind via AR zwischen den Menschen im Raum eingefroren: als würde jemand etwas aussprechen, ohne dabei verstanden oder gehört zu werden. Die Sätze und Wörter sind falsch geschrieben und die türkische und deutsche Mischsprache erinnert nicht nur an Flüsterpost, sondern auch daran, dass nur wir dafür verantwortlich sind, wie wir mit Informationen umgehen. Die missverstandenen Sätze bleiben, so scheint es, in der Luft zwischen uns eingefroren und schaffen eine unsichtbare Spannung, die durch AR sichtbar wird.
Und auch am Willy-Brandt-Platz gibt es vor dem Hintergrund der Euro-Skulptur von Ottmar Hörl zwei AR-Installationen von WAVA und „Augmented Bahnhofsviertel". Tina Kohlmanns „Xenoglossy I" erforscht die Interaktion mit bestehenden physischen Skulpturen und AR-Exponaten. Eine riesige bewegliche Zunge bricht immer wieder in den Raum der Euro-Skulptur ein, hinter der sich bis 2014 noch die Europäische Zentralbank befand. Es entsteht eine Synthese zwischen physischer und digitaler Kunst, die zugleich als Kommentar auf die EU und den Kapitalismus gelesen werden kann. Über die WAVA-App kann man den AR-Aufzug „Untitled" von Alex Chalmers sehen, der metaphorisch mit den Finanzinstituten um ihn herum flirtet.
Ein sanfter Wegweiser durch die Welt der Technologie
Die AR-Installationen in Frankfurt erweitern unsere Wahrnehmung des öffentlichen Raums und der Realität im Allgemeinen. Durch WAVA können wir die AR-Installation „Untitled (Nü Sensivity)" von Shaun Motsi sehen, welche ihr Publikum in die mythische Welt des Films „Avatar" eintauchen lässt. Der virtuelle Baum inmitten der realen Bäume im Nizza-Garten schafft eine Gegenüberstellung von Realität und Metaversum, die ein gleichermaßen faszinierendes wie beunruhigendes Licht auf die Zukunft wirft: Werden wir in einer vollständig digitalisierten Welt leben? In dieser Hinsicht können AR-Installationen als sanfte Wegweiser in die Welt der Technologie verstanden werden; sie bieten uns einen Vorgeschmack, ohne uns die Präsenz im realen Leben zu nehmen. Zugleich verändert die Umwandlung des öffentlichen Raums in einen Ausstellungsraum unsere Wahrnehmung von Kunst und Stadtraum grundlegend. Im Rahmen der AR-Projekte werden die Besucher*innen zu aktiven Bestandteilen der Kunstwerke. Indem sie manchmal sogar physisch durch die AR-Applikation in den Installationsraum eindringen, die Größe einer Installation und oft auch ihren Standort bestimmen und so ihre künstlerischen Qualitäten aktiv verändern, modifizieren sie zugleich auch die ästhetischen und politischen Qualitäten des öffentlichen Raums, der so zur Leinwand ortsspezifischer Kritik avancieren kann.
Ebenso wirft AR die Frage nach der Demokratisierung der Kunst auf. Doch das ist ein Thema für einen anderen Artikel, denn neben dem offenen und immer noch freien Zugang zu AR-Installationen, gibt es vielfältige Nachteile – darunter die Notwendigkeit von Smartphone und Internet, die damit verbundene Preisgabe von Daten und der hohe Energieverbrauch. Es liegt an uns, den Prozess der Synthese von Kunst und Technologie, Metaversum und Realität zu beobachten und sein ambigues Potenzial durch die Auseinandersetzung mit AR-Installationen näher zu erforschen. Die beiden Ausstellungen können ein Einstiegspunkt dafür sein.