Wie macht man eine Retrospektive über eine Künstlerin wie Renée Green? Gar nicht, denn die US-Künstlerin ist viel mehr daran interessiert, Gewissheiten einzureißen.
Im Werk von Renée Green werden Gewissheiten unterwandert, Wissensgebäude konstruiert und wieder eingerissen. Damit steht die Künstlerin in der Tradition von Kunst, die immer auch zur Hälfte Theoriearbeit leistet und meistens schwer auf eine Gattung festzulegen ist. Sammeln spielt eine Rolle, Ausstellen selbst wird zum Thema, Materialien, Objekte und Kontexte ohnehin. Manchmal fühlt man sich in Greens Ausstellung „Inevitable Distances“ im Berliner KW – Institute for Contemporary Art, als würde man in einem Kinofilm umherwandern oder in einer Bibliothek. Oder man muss sich kurz umsehen, weil man denken könnte, in der falschen Ausstellung gelandet zu sein, so vielgestaltig sind die labyrinthartigen Räume.
Die Schau ist eine Art Retrospektive der 1959 geborenen Künstlerin, die am Massachusetts Institute of Technology als Professorin lehrt und in New York lebt. Wobei, der Begriff „Retrospektive“ nicht ganz richtig ist, es sei eher, sagt Green, eine Überblicksausstellung. Darin sind Installationen, die so oder so ähnlich vor einigen Jahrzehnten zu sehen waren, an Berliner Gegebenheiten angepasst. „Inevitable Distances“ umfasst beinahe 40 Jahre einer Karriere und so ziemlich jedes künstlerische Medium, das man sich vorstellen kann.
Die Ausstellung umfasst beinahe vier Jahrzehnte
Es gibt in der Ausstellung kein Zentrum, was daran liegt, dass Green am Nachdenken über Diaspora und Netzwerken aus Verstreutem interessiert ist. Eine ihrer bekanntesten Installationen, „Import/Export: Funk Office“, besteht aus Regalen und Archivalien, aus Tonaufnahmen von Hip-Hop und Funk, und sie erinnert an die Musikabteilung einer Stadtbibliothek. Aber eigentlich besteht die Arbeit aus den semantischen Gefügen, die sich im popkulturellen Austausch zwischen Europa und den USA ergeben, fast so, als wären Form und Material zweitrangig.
In den frühen 90ern sind einige Dinge passiert, die kunsthistorisch immer noch nachwirken. Man denke nur an den ganzen Mythos um Berlin als Kunsthauptstadt, an dem das KW in seinen frühen Jahren als Off-Space mitgebastelt hat. Aber auch global und transatlantisch sind um 1992 – ein Jahr, nachdem in der alten Margarinefabrik in Mitte zum ersten Mal Kunst gezeigt wurde – viele Dinge zum ersten Mal passiert, die aus dem Jahr 2021 betrachtet wie eine Generalprobe für kulturpolitische Konflikte im Heute wirken.
Die 1990er wirken wie eine Generalprobe für Heute
Kurator*innen zeigten zum ersten Mal Künstler*innen, von denen man zuvor wenig gesehen hatte: Werke von people of color und queeren Menschen waren in Biennalen und anderen Großausstellungen zu sehen. Die Jahre um 1990 waren auch die Zeit der Kulturkämpfe, in denen Konservative in den USA ein Gespenst namens Political Correctness konstruierten, das stellvertretend für progressive Bestrebungen attackiert wurde. Nachzulesen ist das in dem Buch „Politische Korrekturen“ von Diedrich Diederichsen, dem Kulturtheoretiker und Kritiker, der sich verdient gemacht hat um den Austausch von Pop und Kritischer Theorie, von Politik und Alltagskultur.
In diesem Diskursklima arbeitete Green, als junge Künstlerin Mitte 30, mit Diederichsen zusammen. Gemeinsam brachten sie „Import/Export Funk Office“ nach Köln, damals wohl eine der Pop-Hauptstädte der Bundesrepublik. Dann, 1993, wurde die Installation bei der Whitney-Biennale gezeigt. Mit ihrer Untersuchung von kulturellen Austauschprozessen, mit dem Interesse für (Schwarze) Popkultur stieß die Arbeit auf üble Ressentiments. Zugleich stand Green damit am Anfang von etwas: In den späten 80ern wurde in den USA der Begriff „multicultural“ benutzt, fortan kam es zu einer Repolitisierung von Kunst. Nichts war mehr selbstverständlich: Wie und was Institutionen ausstellen wird seither strenger Kritik unterzogen.
Räume, die das Ambiente einer bestimmten Epoche nachbilden
In ihrer Installation „Mise-En-Scene: Commemorative Toile“, nimmt sich Green einer kulissenhaften Präsentationsform an, sogenannter „period rooms“. Das sind Räume, die in Museen das Ambiente einer bestimmten Epoche nachbilden sollen. Erstmals zeigte sie ihre Variante davon 1992-93: Sessel auf Podesten, Gewebe und Wandteppiche, die sich auf das Kunsthandwerk des 18. Jahrhunderts beziehen, aber schon längst zum Kitschrepertoire nordamerikanischer Möbelhäuser gehören.
„Ich habe über die ‚toile‘ nachgedacht – den gestickten Baumwollstoff. Das ist ein prosaisches Material, das vielfach imitiert wird. Das habe ich als Kind bei Möbeln im französischen Landhausstil beobachtet“, erklärt Green: Textilien, in die pastorale Szenen gestickt sind, die „toiles“, sollen üblicherweise ein altes Europa für den Massenmarkt evozieren. Wenn man bei Greens Variation auf dieser Form näher hinschaut, sieht man die Gewaltszenen, die sie in die idyllischen Landschaften eingefügt hat. Denn die Stoffe tragen eine koloniale Vergangenheit, wie Green in Nantes, Frankreich recherchierte, sie spielten eine Rolle im Transatlantischen Menschenhandel zwischen Europa, Afrika und Nordamerika.
Neben den großen Themen – Institutionen hinterfragen, Formen des Ausstellens kritisieren – spielt bei Green auch das Alltägliche eine Rolle, seine Texturen und Oberflächen. Green: „Mich interessiert, was mit der materiellen Geschichte der Arbeiten zusammenhängt –und mit unserem Zugang dazu.“ Selbst wenn sie nicht immer Bewegtbild benutzt, erinnern Greens Werke an Filme und Kulissen. „Das Kino zieht sich durch einen großen Teil meiner Arbeit. Das ist fast wie Kino im Raum,“ sagt Green, als wäre der Medienwechsel selbstverständlich und folgerichtig.
Mich interessiert, was mit der materiellen Geschichte der Arbeiten zusammenhängt [...]
Ans Kino erinnert vielleicht noch, dass Green in ihren Installationen, aber natürlich auch in den Videoarbeiten Dinge aufeinandertreffen lässt. Am eindrücklichsten lässt sich das in der DAAD-Galerie beobachten, wo der zweite, kleinere Teil der Ausstellung ist. In „Begin Again, Begin Again“ bringt sie Archivmaterial einem Voiceover zusammen, vorgetragen von ihrem Bruder Derrick Green. Der ehemalige Sänger der Metal-Band Sepultura liest hier Auszüge aus Rudolf M. Schindlers Manifest zur modernen Architektur sowie Passagen aus Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Jahreszahlen strukturieren die Erzählung, vom späten 19. Jahrhundert bis 2015, dem Jahr als Green die Videoarbeit zum ersten Mal zeigte.
Wie manifestiert sich Macht?
Es scheint so, als sollte hier die Moderne kartografiert werden, von Schindlers geradlinigem Eigenheimmodernismus zur Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen. Und immer wieder die Achse vom alten Europa nach Nordamerika, Migration und kultureller Austausch. Die Bedeutung bleibt flüchtig. Es geht darum, wie sich Macht in der gebauten Welt manifestiert, vielleicht aber auch um Utopien und ihr Scheitern, möglicherweise aber auch um etwas Anderes, Persönlicheres.
Die Räume des KW in Berlin-Mitte sind so gar nicht museal, aber „Inevitable Distances“ ist ja auch keine chronologisch angelegte Ausstellung. Stattdessen dokumentiert die Schau eine Praxis, die im Zusammenhang mit örtlichen Gegebenheiten entsteht. Green ist mit den mythischen Orten der Berliner Kunstwelt bestens vertraut. 1993 bis 1995 lebte sie in der Stadt, die damals gerade künstlerisch erschlossen wurde. Wie das PS1 einst in New York sei das KW, sagt Green.
1990, als das PS1 noch ein Off-Space in einer verlassenen Schule und noch nicht dem Museum of Modern Art beigeordnet war, hat die Künstlerin dort ihre Installation „Sites of Genealogies“ realisiert. Heute zieht sich diese komplizierte Installation aus Fäden durch das gesamte Gebäude des KW, von der Bar im Keller durch die Treppenhäuser, um Tische und Stühle bis in den dritten Stock der ehemaligen Margarinefabrik. Sie wurde als fortdauernde, wandelbare Arbeit konzipiert, die sich bei der ursprünglichen Ausstellung in ständiger Veränderung befand, wie eine Bestimmung räumlicher Hierarchien: oben, unten, Keller, Dachboden.
Nie vergisst man bei Greens späteren Arbeiten, dass sie in Kollaboration mit anderen Künstler*innen, Filmemacher*innen und Theroetiker*innen entstehen. 2014 war ein einschneidendes Jahr, denn da starb Greens Freund, der Filmemacher Harun Farocki – dem sie das Filmporträt „ED/HF“ widmet – außerdem der Kulturtheoretiker Stuart Hall. Das sei ein Generationswechsel gewesen, sagt die Künstlerin.
Der Titel der Ausstellung ist eine Referenz an Hall. „Inevitable Distances“, unvermeidbare Distanzen, hat gleich eine Reihe möglicher Bedeutungen – räumlich, zeitlich, sozial, und das sind die Parameter, die Greens Arbeiten umreißen, vielleicht. Mit Vielleicht ist auch die Distanz gemeint, die sich zu den Betrachtenden aufbaut. „Man entkommt unbewusst jedem Versuch der Selbsterkenntnis, dem Versuch, mit sich selbst identisch zu werden“, sagte Hall einmal in einem Interview, und: „Denken, das heißt, die unvermeidbare Distanz zwischen dem denkenden Subjekt und dem zu konstruieren, worüber gedacht wird.“ Da ergibt sich die Frage: Ist diese Ausstellung etwa eine Art Autobiografie? Schaut man der Künstlerin beim Nachdenken über sich selbst zu? Das weist sie entschieden von sich: „Ich bin nicht das Äquivalent meiner Arbeit. Sie fließt durch Kontexte, Zeiten. Identität wandelt sich ständig, sie ist zeitgebunden und immer im Fluss.“
Identität wandelt sich ständig, sie ist zeitgebunden und immer im Fluss.
Renée Green. Inevitable Distances
23. Oktober 21 – 9. Januar 22, KW – Institute for Contemporary Art