Es ist wieder soweit: Die Frankfurter Nippon Connection ist das weltweit größte Festival für japanischen Film außerhalb des Landes. Wir haben vorab schon mal einen Blick auf das Programm geworfen.
Ainu Neno An Nainu (Laura Liverani, Neo Sora)
Die Ainu teilen das Schicksal vieler Indigener Bevölkerungsgruppen: Mit wachsenden Expansionsansprüchen der Herrschenden und mit zunehmender Verbreitung des Ackerbaus wuchsen die Begehrlichkeiten auf das von ihnen bewohnte Land im Norden Japans – etliche Zwangsmaßnahmen folgten. Nach vielen Jahrhunderten der sogenannten „Japanisierung“ war es ausgerechnet eine von der Regierung ausgelobte Tourismusförderung, die in den 1970er Jahren zu einer Reaktivierung der Ainu-Traditionen führte.
Was bleibt, wenn die Wurzeln gekappt sind – und das, was man gemeinhin als Kultur begreift, zur Touristenattraktion wird oder als fröhlicher Beitrag im Lokalfernsehen existiert? Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten oder handelt es sich auch hier letztlich wieder um eine Zuschreibung von außen? Die Fragen, die sich aus ihrer persönlichen Lebenssituation ergeben, stellen und verhandeln die Protagonist*innen in „Ainu Neno An Nainu“ selbst. Die Antworten fallen dabei durchaus unterschiedlich aus. So finden beispielsweise immer wieder auch Menschen ohne Indigene Wurzeln in die Gemeinschaft der Ainu, die allen Widrigkeiten zum Trotz für ihren Platz im Japan des 21. Jahrhunderts kämpft.
Project TANUKI (Yu Hsin Chiueh)
Vollständige Integration oder gleich Assimilation, um nicht weiter aufzufallen? Abhilfe verschafft in Yu Hsins Chiuehs gut 40-minütigen Kurzfilm „Project TANUKI“ die titelgebende Droge, die der nach Tokyo ausgewanderten Vietnamesin Tanya nicht nur perfekte Sprachkenntnisse verschafft, sondern auch ihr Äußeres nebst Namen vollständig an das der japanischen Mehrheitsgesellschaft anpasst. Ohne Droge, das zeigen symptomatisch kurze Rückblenden, lässt es sich dem Film nach vor Ort offenbar nur schwer leben: Eine ältere Dame lässt im Restaurant, in dem Tanya noch als „alte Tanya“ arbeitet, empört ihre Bestellung zurückgehen, da sie kein von „Fremden“ zubereitetes Essen will. Tanyas japanischer Lebensalltag gerät aus den Fugen, als sie sich mit einer Arbeitskollegin anfreundet, während ihr Tanuki-Vorrat immer knapper wird. So gekonnt und pointiert wie Yu Hsin Chiueh in ihrer Groteske auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus innerhalb der japanischen Gesellschaft eingeht, wünscht man sich beinahe, sie hätte einen Langspielfilm aus dem Material gemacht.
Red Post On Escher Street (Sion Sono)
Und jetzt Jede gegen Jede! Indie Film-Star Kobayashi sucht neue Besetzungen für seine weiblichen Hauptrollen – und fast jede junge Frau, die in Sion Sonos „Red Post On Escher Street“ die Szenerie betritt, möchte unbedingt dabei sein. Also werden fleißig Bewerbungsbögen in einen der namengebenden, roten Briefkästen gesteckt. Mit seinem neuesten Film nimmt der japanische Tausendsassa, der schon in allen Genres Regie geführt hat, die oft aberwitzigen Casting-Elegien seiner Branche aufs Korn.
Dabei bringt er bringt wunderbare und manchmal wundersame, schüchterne wie laute Frauen auf die Leinwand (die Männer spielen hier vornehmlich die Nebenrolle), führt in einer fulminanten Beinahe-Schlussszene alle zusammen und schreibt nebenbei vielleicht auch so etwas wie eine Parabel für die Individualisierungsprozesse der japanischen Gesellschaft. Seinen Charakter als ein Film-über-Film-Film, der gleichwohl so einiges über das Leben zu erzählen hat, bekräftigt „Red Post On Escher Street“ erneut zum Schluss, wenn programmatisch die ultimative Losung ausgegeben wird, als ob immer noch überall ganz selbstverständlich auf physischem Filmmaterial gedreht würde: „Let’s keep rolling til‘ we reach the horizon!“
Sumodo ~The Successors of Samurai~ (Eiji Sakata)
Nur durch lange, zähe Verhandlungen und das Fürsprechen eines Sumō-Veteranen gelang dem japanischen Dokumentarfilmer Eiji Sakata das, was zuvor fast unvorstellbar schien: ein exklusiver Filmdreh innerhalb der Ryogoku Kokugikan Sumō-Arena. In „Sumodo ~The Successors of Samurai~“ zeigt Sakata dann auch ausgiebig und bombastisch in Szene gesetzt jene Sumō-Kämpfe, die dort unter den Begeisterungsschreien der Zuschauer*innen ausgetragen werden. Im Laufe des Films legt Sakata den Fokus dann aber immer mehr auf die Rikishi, die Kämpfer, selbst und lässt diese ausführlich aus ihrem (Trainings-)Alltag, von ihren persönlichen Beweggründen und ihrer nicht selten langen Verletzungshistorie berichten. An den zwei Ausbildungsschmieden der japanischen Sumō-Liga Rikishi Goeido und Ryuden zeigt Sakata exemplarisch unterschiedliche Philosophien und Mentalitäten auf und gewährt so einen seltenen Einblick in das Leben jener Menschen, die die Jahrtausende alte Kampfkultur heute für ein Massenpublikum vorführen.
I quit, being ‘friends’ (Ayako Imamura)
Es ist nicht immer leicht, alle sozialen Normen und Codes einer Gesellschaft zu durchschauen und sich auch entsprechend zu verhalten. Personen innerhalb des autistischen Spektrums stellt diese Aufgabe vor handfeste, alltägliche Probleme. Wie man in Ayako Imamuras Dokumentarfilm „I quit, being ‚friends‘“ sehen kann, wohl umso mehr in einem Land wie Japan. Nach ihrem letzten Film wurde die Regisseurin, die von Geburt an gehörlos ist, von Ma-chan kontaktiert, die ihrerseits vom Asperger-Syndrom betroffen ist. Ma-chan hatte bereits an der Universität Gebärdensprache erlernt und bedient sich dieser fast ausschließlich in ihrem Alltag, da sie hier nicht die etlichen in Japan geltenden Höflichkeitsformen und Etiketten kommunizieren muss, wie sie gleich zu Beginn erklärt.
Imamuras neuer Film nun ist eine persönliche Dokumentation der sich entwickelnden Freundschaft, insbesondere auch in Bezug auf die eigenen Kommunikationsprobleme der Filmemacherin. Immer wieder ist sie durch das Verhalten Ma-chans verstört, sieht sich aber ihrerseits außerstande, dies zu kommunizieren. So gibt „I quit, being ‚friends‘“ nicht allein Einblick in das Leben Ma-chans, mehr noch erzählt der Film über die sozialen Codes innerhalb der japanischen Gesellschaft, die einigen den Zugang am Alltagsleben zu verunmöglichen scheinen.
Extraneous Matter – Complete Edition (Kenichi Ugana)
Das Sujet der Tentakel-Erotika ist ein kulturelles Phänomen in Japan. Schon Hokusai, Schöpfer der berühmten „Welle vor Kanagawa“, zeigte 1814 den erotischen Traum einer Fischersfrau vom Sex mit zwei oktopusähnlichen Wesen. Inzwischen ist „Tentakel-Sex“ synonym für einen irgendwie skurrilen Spleen, der über die japanischen Grenzen hinaus gern persifliert wird – wenngleich es durchaus nach wie vor Anhänger*innen entsprechender Erotika, die oft zwischen Gewaltakt und Lust changieren, gibt.
Kenichi Ugana dient ein alienartiges Oktopuswesen mit sexuellen Superkräften nun als Aufhänger für seine Kurzfilmreihe, die hier erstmalig als gemeinsame Edition gezeigt wird: Ein wilder Ritt durch diverse Genre-Klischees in schönem Schwarz-Weiß, in dem sich das lustbringende Tentakelwesen zunehmend über die Stadt mit ihren bis dato noch so verschlafenen Bewohner*innen ausbreitet. David Cronenbergs organische „Biopunk“-Ästhetik lässt stellenweise grüßen. Der Film ist übrigens während des Festivals nicht nur einzeln, sondern außerdem im Kombipack mit vier weiteren, eher im Fantastischen liegenden Filmen unter dem Titel „Weird & Wonderful“ zu sehen.
His (Rikiya Imaizumi)
Recht unvermittelt und flott handelt Rikiyi Imaizumi in seinem neuen Spielfilm „His“ die Ausgangsgeschichte zwischen dem schwulen Liebespaar Shun und Nagisa ab, vor deren Hintergrund sich das Kommende entfalten soll: ein paar alberne Zärtlichkeiten tauschen die beiden im Bett miteinander aus, und dann spricht Nagisa schon die desaströsen Worte ganz beiläufig aus: „Shun, let‘s break up“. Jahre vergehen, Shun hat es mittlerweile in ein kleines, idyllisches Bergdorf und in die innere Migration gezogen. Zu belastend war die latente Homophobie in der Großstadt.
So unvermittelt wie er einst aus seinem Leben verschwunden ist, taucht dann aber wieder Nagisa auf, mitsamt seiner kleinen Tochter. Geheiratet hatte er trotz seiner Homosexualität, aufgrund der Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben und um die Eltern nicht zu enttäuschen. Während sich Shun und Nagisa langsam wieder einander nähern und die neugierige Dorfgemeinschaft über die beiden jungen Männer mit dem kleinen Mädchen wundert, spitzt sich unterdessen der Sorgerechtsstreit zwischen Nagisa und seiner Ex-Frau zu. Behutsam und charmant verhandelt Imaizumis erstaunlich versöhnlicher Film Geschlechter- und Eltern-Rollenbilder, ohne dabei die Augen vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Ungleichbehandlung zu schließen.
& außerdem
Über 80 Filme in insgesamt fünf Kategorien vom Spielfilm über Animation bis zur Dokumentation präsentiert die Nippon Connection in diesem Jahr. Etliche zeigen fast schon tagespolitische Aktualität: In „Ushiku“ lässt Thomas Ash, der schon mehrmals als Filmemacher zu Gast in Frankfurt war, Geflüchtete vor versteckter Kamera aus Japans größtem Abschiebegefängnis berichten. „Company Retreat“ sowie „Kamata Prelude“ verstehen sich (auch) als japanische Antwort auf die weltweiten #MeToo-Diskussionen, während „Day of Destruction“ einen amüsant-dystopischen Beitrag zur Debatte um die immer unbeliebter werdende Olympiade im Land unter Pandemiebedingungen liefert.
Auffallend sind die vielen, für japanische Verhältnisse vielleicht fast schon klassisch erzählten Geschichten. Fantastischer geht es zum Beispiel in der Low-Budget-Zeitreisenkomödie „Beyond The Infinite Two Minutes“ und in dem anarchischen, lustigen wie brutalen Vergnügen „Wonderful Paradise“ zu. Zahlreiche Filmtalks, Online-Konzerte, Vorträge und Workshops runden das Programm ab.