Wie kann im Zeitalter von alternativen Fakten und Fake News ein Kunstwerk womöglich überzeugender sein als ein wissenschaftlicher Bericht? Diese 10 Kunstwerke stellen das Thema des Jahres in den Mittelpunkt: das Impfen.
1. Alexia Sinclair, Edward Jenner’s Smallpox Discovery, 2014
Alles begann 1796, als der britische Arzt Edward Jenner feststellte, dass Milchmädchen, die an einer Krankheit namens Kuhpocken erkrankten, nie die gefährlichen Menschenpocken entwickelten – ein „geflecktes Monster“, das damals jedes Jahr hunderttausende Menschen hinraffte. Jenner infizierte den Jungen James Phipps mit den milderen Kuhpocken und testete damit, ob sie ihn immun gegen die tödlichere Variante machen würde: Es funktionierte! Diese bemerkenswerte Geschichte hält Alexia Sinclair in ihrer bühnenbildartig inszenierten Fotoserie fest. Neben Phipps und Jenner erinnert eine Aristokratin mit weißer Perücke die Betrachtenden daran, dass Krankheiten keine Klassenunterschiede machten und alle Menschen gleichermaßen trafen. Die in der Innenraumszene surreal anmutenden Wildblumen sind eine Anspielung auf die chinesische Bezeichnung der Krankheit: „Himmlische Blumen“, da die Hautläsionen Blüten ähnelten und die Krankheit oft zum Tod führte.
Vik Muniz, Flower – the Beauty of Vaccines, 2015
Die Assoziation von Pocken mit Blumen greift auch der brasilianische Künstler Vik Muniz auf. Sein Werk „Flower – the Beauty of Vaccines“ sieht aus wie ein riesiger Blumendruck, wie eine Tapete aus Rosen, Hibiskus oder Veilchen. Doch die einzigartigen floralen Formen stammen von Leberzellen, die mit einem Pockenimpfstoff behandelt wurden. Gemeinsam mit einem Biologen und einer MIT-Professorin entwarf Muniz zunächst ein Blumenmuster, aus dem sie einen Gummistempel machten, der mit einem biologischen Kollagensubstrat behandelt und in eine Petrischale übertragen wurde. Anschließend wurden die lebenden Zellen hinzugegeben, die sich schnell entwickelten und auf dem Kollagen gediehen. Diese Synthese hielt Muniz fotografisch fest, nachdem die Zellen auf Kunststoff übertragen wurden. Das faszinierende Ergebnis verblüfft umso mehr, wenn den Betrachtenden bewusst wird, dass die Zellen hinter dem Foto lebendig sind, sich bewegen und fluoreszieren.
Diego Rivera, Vaccination, 1932
Seltsam vertraut und doch irritierend ist dieses Fresko von Diego Rivera, das Teil der Detroit Industry Murals ist, in denen der mexikanische Künstler das Leben und Arbeiten in der US-amerikanischen Stadt verhandelt. Die Tafel zeigt die Impfung eines Kindes in einem medizinischen Labor, umgeben von den Tieren, die das Serum liefern. Rivera adaptierte die Komposition aus christlichen Krippenszenen, in denen das Jesuskind von Maria und Josef sowie den Heiligen Drei Königen umgeben ist. Medizinische Themen werden in dem großen Wandbild präzise dargestellt. Auslöser und Antrieb waren Riveras Sorge um das kollektive Wohlergehen und sein unbedingter Glaube an Fortschritt durch wissenschaftliche Entwicklungen. Auf die Impfszene bezogen würde dies bedeuten, dass für Rivera die Medizintechnik der neue „Retter der Menschheit“ ist. Dass die Enthüllung der Wandbilder in den 1930er Jahren eine große Kontroverse auslöste, ist angesichts dieser Analogie kaum verwunderlich.
Mauro Perucchetti, Vaccines as Love Serum, 2015
Mit seinen knallbunten pigmentierten Harzskulpturen möchte Mauro Perucchetti dazu beitragen, Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und ihnen die Angst vor Spritzen und Nadeln zu nehmen. Seine Arbeit „Vaccines as Love Serum“ ist Teil des Projekts „The Art of Saving a Life“, das aufzeigt, wie Impfstoffe den Lauf der Geschichte positiv verändert haben. Für dieses verspielte Werk kombiniert er zwei seiner bekanntesten Skulpturen miteinander: Die „Jelly Baby Family“, die für Familienzusammenhalt und Multikulturalismus steht, und das „Love Serum“, eine gigantische Spritze mit positiven Vibes für alle. Perucchetti verwendet leuchtende Farben, klar erkennbare Formen und glatte, glänzende Oberflächen, um den Zugang zu seinen Arbeiten so niedrigschwellig wie möglich zu halten und um die Betrachtenden zu verführen – dabei bezieht er sich lose auf seine Vorbilder Andy Warhol, Jeff Koons oder Piero Manzoni.
Brendan McCann, Met Gala-Robe, 2021
Seit 1948 zieht die Met Gala als großes Fundraising-Event zugunsten des Costume Institutes die Größen aus Kultur und Showbiz an die Fifth Avenue. Doch wie im letzten Jahr, blieb auch am ersten Montag im Mai 2021 das große Schaulaufen vor dem Metropolitan Museum in New York aus. Dies hielt den New Yorker Künstler Brendan McCann jedoch nicht davon ab, sich sein eigenes Gala-Thema auszudenken: Wissenschaft. Er entwarf ein Ensemble, das sowohl auf die Pandemie als auch auf die Einführung des heiß ersehnten Impfstoffes anspielt. In seinem aus Alltagsmaterialen gefertigten Outfit finden sich alle „Must-Haves“ der Corona-Impfung: Impfpässe, eine Spritze als extravaganter Fascinator, Heftpflaster und eine mit Krispy-Kreeme-Donuts gefüllte Handtasche, mit der McCann auf die Gratis-Donut-Aktion für Geimpfte anspielt. Während die Bilder seines Shootings auf den Treppen des Mets um die Welt gehen, denkt McCann bereits über sein Outfit für die verschobene Met Gala im Herbst nach. Diese steht dann unter dem Motto „In America: A Lexicon of Fashion“.
Sean Caulfield, The Anatomy Table, 2017
Der Verlust des öffentlichen Vertrauens in die Wissenschaft und die Verbreitung von Fehlinformationen sind Phänomene, die nicht erst mit der Corona-Pandemie aufgetreten sind. Schon 2017 setzte sich Sean Caulfield mit diesen heiklen Themen künstlerisch auseinander. Für „Anatomy Table“ übernahm er Zeichnungen, die vom Vater der modernen Anatomie Andreas Vesalius im 16. Jahrhundert in dessen Hauptwerk „De humani corporis fabrica libri septem“ veröffentlicht wurden und kombiniert sie mit zeitgenössischen Grafiken, die zwar lose auf Bildern von Viren basieren, aber frei erfunden sind. Das Konglomerat aus historischen und zeitgenössischen Bezügen sowie die Vermischung von empirisch exakten und imaginierten Körperbildern, illustriert die Komplexität zwischen empirisch-wissenschaftlichen Darstellungen und emotionalen, kulturell aufgeladenen Ausdrucksformen des Körpers.
Suckertom, All boys do cry, oh wait.... „Get vaccinated“, 2021
Über 60.000 Follower*innen erfreuen sich an den kreativen und satirischen Posts der Instagram-Seite @suckertom. Mit spielerischen Fotomontagen, die oft an die Grenzen des guten Geschmacks gehen, wird das Zeitgeschehen genauso kommentiert wie Klassiker der Popkultur. Im Post „All boys do cry, oh wait…Get vaccinated“ wird vermeintlich starken Männern eine Impfung verabreicht. Während der eine die Zähne zusammenbeißt (Sylvester Stallone als Rocky), der andere keine Miene verzieht (Chuck Norris), gipfelt die Reaktion auf den kleinen Stich in den Oberarm schließlich in einem hysterischen Zusammenbruch (Leonardo di Caprio als Romeo). Taschentuch?
Mary Ellen Mark, Rubella's Lasting Impact on Adult Lives, 2014
Für ihre bewegende Serie „Rubella’s Lasting Impact on Adult Lives“ portraitiert Mary Ellen Mark Menschen, die mit dem kongenitalen Rötelnsynrom (CRS) geboren wurden. Während die Symptome bei Kindern, die sich mit dem Virus angesteckt haben, oft mild sind, haben sie auf ungeborene Kinder tragische Auswirkungen, die von Blindheit, Taubheit, Herzproblemen bis zu kognitiven Einschränkungen reichen. Die Zahl der Rötelnerkrankungen ging dank des 1969 erfundenen Impfstoffs zwar stark zurück, doch werden jährlich immer noch rund 100.000 Kinder mit CRS geboren. Mit den eindrücklichen Fotografien von Jimmie Carey und Damali Ashman weist Mark auf die Wichtigkeit von Impfungen hin, mit denen man vor Krankheiten wie den Röteln gefeit ist.
Anna Ancher, Eine Impfung, 1899
Die dänische Impressionistin Anna Ancher ist vor allem für ihre kleinformatigen Interieurs und die Darstellung von Frauen und Kindern bekannt, die alltäglichen Handlungen nachgehen. 1899 entstand eine große Komposition mit vielen Figuren, die sie auf der Kopenhagener Frühjahrsausstellung in Charlottenborg ausstellte. Zu sehen sind Mütter mit ihren Kindern, die darauf warten, von einem Kinderarzt gegen Pocken geimpft zu werden, oder bereits geimpft wurden. In Dänemark führte man 1810 die verpflichtende Impfung aller unter Siebenjährigen gegen die Pocken ein. 1980 wurde die Krankheit für ausgerottet erklärt.
Kaisu Koski, Syringe Sequence #1-2, 2015-2016
Wie visualisiert man eigentlich die Ängste und Vorstellungen impfkritischer Eltern? Dieser Frage geht Kaisu Koski in seiner multidisziplinären Werkreihe nach. Er begann sein Projekt mit der Befragung impfkritischer und impfängstlicher Eltern und wertete die Daten danach künstlerisch aus – stets mit dem Ziel, diese Vorurteile respektvoll zu kommunizieren und den Dialog zu fördern. Die Fotoserie Syringe Sequence #1-2 zeigt Spritzen, in denen Heilpflanzen gezüchtet werden. Damit geht Koski auf seine Umfrage ein, die gezeigt hat, dass viele Eltern natürlichen Wirkstoffen viel positiver gegenüberstehen als chemischen. Die Serie ist als Antwort auf diese Wertschätzung des Natürlichen zu verstehen und präsentiert fiktive Arten von Impfstoffen, die möglicherweise auf größeres Vertrauen und Verständnis treffen würden.
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