Venedig ist klein, aber die Biennale immer zu groß. Hier unsere ausgewählten Highlights der Schau und Special Tipps zum Rahmenprogramm.
Kalter, künstlicher Nebel bauscht sich über dem Dach des kalkweißen Hauptgebäudes auf. Langsam windet er sich in Schlangen über die regennassen Sandwege der Giardini, kriecht unter lackbeschichtete Balenciaga-Parkas und umhüllt die kreischend bunten Sommerkleider. Verfrorene Blicke, hochgezogene Schultern und überkreuzte Arme in der Warteschlange. Unsichere Zeiten stehen uns bevor. Viel schlimmer noch: Wir stecken mittendrin, inmitten von Fake News, Klimakatastrophen und sozialer Krise. „May you live in interesting times“ hat Kurator Ralph Rugoff die diesjährige Biennale betitelt.
Er greift damit einen Spruch auf, der lange Jahre als chinesischer Fluch verkauft wurde. Klingt nach Verwirrung, nach Moralkeule und erhobenem Zeigefinger. Genau darum aber geht es Rugoff nicht: Politische Handlungsanweisungen, das sei nicht die Aufgabe der Kunst, vielmehr multiple Perspektiven aufzeigen und bestehende Konzepte hinterfragen. Soviel zur Theorie. Aber nun zur Praxis. Bei allem Lamentieren über die „schlechte Kunst“, die es mit Sicherheit auf jeder Biennale zu sehen gibt, sind dieses Jahr mindestens genauso viele berührende und bewegende Positionen mit durchaus auch positiven Ausblicken zu sehen. Und die sind definitiv eine Reise wert.
HAUPTAUSSTELLUNG
Von jedem der 79 ausgestellten Künstlerinnen und Künstler sind sowohl im Arsenale als auch in den Giardini Werke zu sehen. Bemerkenswert sind dieses Jahr die zahlreichen Video- und Soundarbeiten. In Erinnerung bleibt vor allem Haris Epaminondas „Chimera“ (2019). In ihrem 30-minütigen Film kombiniert sie Found-Footage-Aufnahmen mit einem Soundscape von Kelly Jayne Jones und schafft meditative Bilder verlassener Orte und Landschaften, die zwischen Erinnerung und gedanklicher Konstruktion schweben. Dafür hat sie nun auch verdienter Weise den Silbernen Löwen „for a promising young position“ erhalten.
In seinem Film „Walled Unwalled“ ist Lawrence Abu Hamdan selbst zu sehen. Er berichtet aus einem Tonstudio von Rechtsfällen, bei denen Sound wortwörtlich durch die Mauern gesickert war und so Beweismittel lieferte. Die menschliche Stimme fungiert in seinen so genannten Lecture Peformances häufig als politisches Material, das vor allem Regierungen und Big Data Unternehmen einsetzen. Aufgenommen wurde der Film in den Funkhaus Studios, von wo aus früher die Radioprogramme der DDR ausgestrahlt wurden.
Die raumfüllende Sound Performance von Tarek Atoui im Arsenale sollte man unbedingt gesehen haben. In seinen kollaborativen Projekten verschmelzen Musik und zeitgenössische Kunst, und die Wahrnehmung von Sound geschieht auf mehreren Ebenen gleichzeitig: visuell, akustisch und physisch. So auch in „The GROUND“ (2019), das aus Atouis fünfjährigem Aufenthalt im Pearl River Delta in China heraus entstanden ist. Die kulturellen, architektonischen und musischen Praktiken der Region hielt er in einem Booklet fest, das er anschließend Handwerkern und Instrumentenbauern vorlegte. Stundenlang könnte man den Klängen der von Atoui angeordneten Instrumente zuhören und ihren rhythmisch abgestimmten Bewegungen folgen.
Großer Aufmerksamkeit durfte sich Cyprien Gaillards „L’Ange du Foyer (Vierte Fassung)“ (2019) erfreuen: Ein Hologramm eines Drachen, nach dem Vorbild von Max Ernsts Werk mit selbigem Titel, der sich wie vom Teufel besessen unaufhörlich aufbäumt und um sein Leben zu kämpfen scheint. Mindestens genauso viele Handys wurden auf Ian Chengs „BOB (Bag of Beliefs)“ (2018-19) gehalten, eine Kreatur Künstlicher Intelligenz, die gleich einer roten Koralle auf dem Meeresboden immer weiter mutiert und sich dabei fast tänzerisch bewegt.
Unter den ausgestellten Gemälden und Fotografien, brennen sich vor allem die Fotos von Zanele Muholi ins Gedächtnis. Sie stammen aus ihrem seit 2006 anwachsenden Archiv an Portraits südafrikanischer schwarzer lesbischer Frauen. Muholi engagiert sich nicht nur als Künstlerin, sondern ist auch Mitbegründerin des „Forum for the Empowerment of Women“ sowie von „Inkanyiso“, einer Plattform für queeren Aktivismus. Auch Njideka Akunyili Crosbys großformatige, geschichtsreiche Bilder bleiben in Erinnerung. In ihrem Werk beschäftigt sich die Künstlerin vor allem mit ihren Erfahrungen als Mitglied der Nigerianischen Diaspora und verwebt darin nicht nur unterschiedliche Materialien und Medien zu einer mehrschichtigen Gesamtcollage, sondern schlägt auch Bögen zu bildenden Künstlern und bekannten afrikanischen Literaten.
PAVILLONS
Frankreich
Den größten Ansturm der ersten Tage erhielt der französische Pavillon. Wer Laure Prouvosts überwältigende Arbeit dort sehen wollte, musste rennen. Oder mindestens zwei Stunden Zeit zum Anstehen haben. Über Umwege reiste Prouvost mit einer Gruppe von Akteuren unterschiedlicher Generationen von der Pariser Vorstadt bis in die venezianische Lagune. In ihrem daraus entstandenen Film „Deep See Blue Surrounding You“ explodiert ein Bild nach dem anderen: Kreischende Schreie aus rotleuchtenden Mündern, kullernde Augäpfel und lange Oktopus-Tentakeln zu wummernden Sounds wechseln sich ab mit Magiker-Szenen in einer dörflichen Spelunke, wehenden Haaren im Fahrtwind und kindlich ausgelassenen Tänzen zur Blaskapelle.
Eingebettet in eine Gesamtinstallation der Filmrequisiten, torkelt man am Ende blinzelnd nach draußen und sucht nach Orientierung: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Die im Film gestellte Frage lässt einen nicht los. In Stein gemeißelt findet sich neben dem Ausgang womöglich die Antwort: „Ideally you would go deeper to the back of this building“.
Kanada
Die filmische Arbeit des Kollektivs „Isuma“ im kanadischen Pavillon leistet dieses Jahr den ersten indigenen Beitrag zur Venedig Biennale. Schon 2001 hat es für „Atanarjuat (The Fast Runner)“ in Cannes die Goldene Kamera gewonnen. Die drei auf der Biennale gezeigten Videoarbeiten sind ein erneuter Beweis ihrer künstlerisch ausgezeichneten Leistungen wie auch eindrucksvollen Forschungsarbeit. In Interviews erzählen Inuit von ihrer Umsiedlung und dem schmerzlichen Verlust des bisherigen Lebens.
Ausgewählte Produktionen sind auch auf IsumaTV zu sehen.
Brasilien
Mindestens genauso krachend wie Laure Prouvost schlägt der Film des Künstlerduos Bárbara Wagner und Benjamin de Burca im brasilianischen Pavillon ein. Die ausgelassenen, lebensbejahenden Swingueira-Tänze erscheinen im „Swinguerra“ (!) betitelten Film als der logischste und offensichtlichste aller Befreiungsschläge in einem Land voll politischer und sozialer Anspannung. Hier lassen Transgender-Protagonisten, dünne wie übergewichtige junge Frauen, Beyoncé-Doubles und Testosteron-geladene Teenager mit so viel Stolz und Selbstverständlichkeit ihre Hüften zur Musik kreisen, dass man am liebsten mitmachen würde. Kunst, die politische, kulturelle und soziale Spannungen vor Augen führt, ohne dabei mahnend den Zeigefinger zu heben.
Litauen
Von der Leinwand zurück in die Realität, raus aus den Giardini. Im leicht abgelegenen litauischen Pavillon landet man plötzlich am Strand. Und diesen Kurzurlaub am Arsenale Marinare sollte man sich nicht entgehen lassen. In der Schlange wird einem die Opern-Performance „Sun & Sea (Marina)“ des ausgezeichneten Künstlerinnentrios Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė freudig angepriesen, Gesangsstimmen klingen aus dem Gebäude.
Drinnen offenbart sich aus der Vogelperspektive eine Truman Show ähnliche Strandszenerie: ein Mosaik bunter Handtücher, Sonnenschirme, ein kläffender Hund, Sandburgen bauende Kinder und darin verteilt Opernsängerinnen und -sänger in Badeklamotten, die Lieder von Alltagssorgen und Verlust anstimmen. Das künstliche Sonnenlicht, die Wärmelampen, die Betonmauern drumherum erinnern daran, dass hier nichts echt ist. Und dennoch scheint die Szenerie unheimlich real. Nicht umsonst wurde der litauische Pavillon für diesen einzigartigen Beitrag mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Achtung: Nur bis 31. Oktober 2019
Portugal
Nochmal ganz andere Perspektiven bietet der portugiesische Pavillon. Direkt um die Ecke der Accademia im Palazzo Giustinian Lolin findet sich „a seam, a surface, a hinge, or a knot“ des Künstlers Leonor Antunes. Ihr Interesse an Alltagsmaterialien, Stoffen und Strukturen, insbesondere im venezianischen Kontext, drückt sich in abstrakten Skulpturen aus, die sich fast unmerklich in die Struktur des prunkvollen Palazzos weben. Teile der Ausstellung sind mit Falegnameria Augusto Capovilla hergestellt worden, einer der wenigen noch aktiven Schreinereien in Venedig. Rhythmische Formen aus edlen Hölzern, Stahl und Glaslampen aus Murano verschmelzen mit den Räumen des Palazzo zu einem architektonischen Gesamtkunstwerk.
RAHMENPROGRAMM
Venedig ist klein, aber die Biennale immer zu groß. Nach drei Tagen Hauen und Stechen, Schlangestehen, Pavillon-Sprints und überfüllten Vaporettos kann jeder noch so geübte Kunstmarathonläufer nicht mehr. Aber wer es schafft, sollte den Blick nochmal über den Giardini-Arsenale-Tellerrand werfen und diese zwei Orte ansteuern:
Ocean Space
Im März hat der Ocean Space in der Chiesa di San Lorenzo zum ersten Mal seine Türen geöffnet. Von der TBA21-Academy ins Leben gerufen, widmet er sich den Mythen der Meere genauso wie seinen Lebewesen und Kreaturen, verbindet Forschung, Poesie und Kunst. Mit „Moving Off the Land II“ von Joan Jonas wurde er eingeweiht. Weltweit besuchte die 82-jährige Künstlerin Aquarien, filmte und forschte in den Weiten des Ozeans und schuf ein intermediales Kunstwerk aus Film und Performance, das Sound, Bild und Sprache auf poetische Weise ineinanderfließen lässt. Im Ocean Space sind ihre daraus entstanden Bilder und Filmsequenzen zu sehen, die – ohne dabei belehrend zu wirken – die Sinnlichkeit des Meeres und die Nähe seiner Bewohner zum Menschen vorführen, ebenso wie die tragischen Folgen seiner Verschmutzung.
Bis 29. September 2019
Palazzo Grimani
Mit „Pintura/Panorama“ widmet der Palazzo Grimani Helen Frankenthaler, die lange im Schatten von Künstlern wie Jackson Pollock und Mark Rothko stand, eine vierzig Jahre umspannende Retrospektive. Aufgewachsen in der zweiten Generation der so genannten Abstrakten Expressionisten in Amerika, kreierte sie mit ihrer „soak-stain-technique“ abstrakte, ineinanderfließende Farbfelder und –formen auf großformatigen Leinwänden. In Venedig werden ihre Werke zum ersten Mal seit 1966 ausgestellt, als sie auf der 33. Biennale im US-amerikanischen Pavillon zu sehen war. Eine Ausstellung, die Vorfreude auf Lee Krasner im Herbst macht!
Bis 17. November 2019