Vor der Preisverleihung im September eröffnet jetzt die Shortlist-Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Berlin. Zwei der nominierten Künstlerinnen waren bereits in der SCHIRN zu sehen.
Bildende*r Künstler*in, U40, lebt und arbeitet in Deutschland. Diese Kriterien müssen erfüllt werden, um für den Preis der Nationalgalerie nominiert zu werden. Alle zwei Jahre wird die Auszeichnung vergeben, 2019 bereits zum zehnten Mal. Auf der diesjährigen Shortlist stehen vier medien- und disziplinübergreifend arbeitende Künstlerinnen und Künstler internationaler Herkunft. Pauline Curnier Jardin (geb. 1980 in Marseille), Simon Fujiwara (geb. 1982 in London), Flaka Haliti (geb. 1982 in Pristina) und Katja Novitskova (geb. 1984 in Tallinn).
Zwei von ihnen, Curnier Jardin und Novitskova, waren mit ihren Arbeiten bereits in der Schirn zu Gast. Am 16. August eröffnet die Gruppenausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin, in der die nominierten Künstler ausgewählte Arbeiten präsentieren. Ob diese bereits bestehen oder für die Ausstellung neu produziert werden, ist den vieren selbst überlassen. Was genau es zu sehen gibt, erfährt man also erst zur Ausstellungseröffnung.
Dass die Schau einen Einblick in vier ganz unterschiedliche und bemerkenswerte künstlerische Praktiken bekommen werden, das steht allerdings jetzt schon fest. Als einen „post-menopausalen Rachefilm“ bezeichnet Pauline Curnier Jardin ihre neueste Produktion „Un Chant d’Amour Encore“, die lose auf dem Kurzfilm „Un Chant d’Amour“ des französischen Autors Jean Genets von 1950 basiert. Dieser wurde wegen seiner expliziten Darstellung von Homosexualität – männliche Gefangene werden von einem voyeuristischen Gefängniswärter in ihren Zellen beobachtet – lange Zeit zensiert. Statt muskulöser Männerkörper zeigt uns Curnier Jardins Film weibliche Körper jenseits der Menopause.
In einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur sind diese Frauen unsichtbar oder vielmehr „unbrauchbar“, zumindest als Objekte des Begehrens. In ihrem Film imaginiert Curnier Jardin ein feministisch-utopisches Szenario, in dem ein Heer aus Frauen noch einmal gemeinsam Menstruationsblut vergießt und dabei ein regelrechtes Blutbad anrichtet. Curnier Jardins Praxis umspannt Performance, bildende Kunst, Film und installative Arbeiten, die von einem Interesse an – oder vielmehr einer Sensibilität für – Exzess, Theatralität, dem Grotesken und Fantastischen geprägt ist.
Babyschreie, Gesänge und Feuerwerk fügen sich zu einer fieberhaften Assemblage
So auch die Multimedia Installation „Explosion Ma Baby“ von 2016, die ebenfalls im Hamburger Bahnhof zu sehen sein wird. Mit einer Super 8 Kamera hielt Curnier Jardin über Jahre hinweg ihre Eindrücke von einer katholischen Prozession fest, in der sich Gesänge, die Schreie nackter Babys, flatternde Geldscheine, Feuerwerk und Konfetti zu einer fieberhaften Assemblage fügen.
Simon Fujiwara schafft Portraits des 21. Jahrhunderts. Die Performances, Malereien, Videos und raumgreifende, kulissenartige Installationen des britisch-japanischen Künstlers können als fragmentarische und vor allem generationsspezifische Erkundungen gelesen werden – und zwar in die Welt der Massen- und sozialen Medien, in eine Welt, die individuelle Erlebnisse fetischisiert, in eine Welt, in der sich die Interessen des globalen Unternehmenskapitalismus in jede noch so kleinste Nische des privaten Lebens einnisten.
Die Arbeit fragt nach dem körperlichen und mentalen Empfinden von Empathie
Seine 2018 für die Einzelausstellung „Empathy I“ bei der Berliner Galerie Esther Schipper realisierte gleichnamige Arbeit fragt nach dem körperlichen und mentalen Empfinden von Empathie. Besucher der Ausstellung ziehen ein Ticket und nehmen in einem Wartebereich Platz, dessen karge Ausstattung (Reihen schwarzer Ledersessel stehen sich gegenüber, in der Mitte ein großer flacher Tisch, daneben ein Wasserspender) eher an die sterilen Wartezimmer in Arztpraxen oder Bürgerämtern erinnert – nur, dass statt in Tageszeitungen oder Klatschmagazinen in der Taschenbuchausgabe von „Fifty Shades of Grey“ geblättert werden kann. Sobald die gezogene Ziffer auf der digitalen Anzeige erscheint, wird man in einen geschlossenen Raum geführt, wo ein Bewegungssimulator zur Fahrt einlädt.
Der Körper wird angeschnallt und im Rhythmus der gezeigten Bilder durchgeschüttelt. Auf dem riesigen Bildschirm flimmern in schneller Abfolge Filmfragmente aus dem täglichen Leben: mit der Handkamera gefilmte private, lustige, aufregende, kurzweilige, ergreifende, langweilige Momente – geteilt, gefunden und geklickt auf YouTube. Mitfühlen als Achterbahnfahrt im globalen Freizeitpark des Internets. Ist das Empathie? Im Hamburger Bahnhof wird Fujiwara sowohl bestehende als auch neue Arbeiten zeigen, die sich mit eben solchen Verquickungen von wirtschaftlicher Logik, soziopolitischen Fragestellungen und zeitgenössischen Massenphänomenen auseinandersetzen.
Humor und Tragik sind untrennbar verknüpft in Flaka Halitis Werk, in dem das Thema und Motiv der Grenze immer wieder auftaucht. Implizit oder ganz explizit befragt die in München lebende Künstlerin die Grenzziehungen zwischen Geschlechtern, zwischen Jung und Alt, zwischen dem Selbst und dem Anderen sowie jene politische Grenzen, durch die sich eine Nation oder eine politische Gemeinschaft wie die EU definiert. Haliti wird zwei skulpturale Installationen in der Berliner Gruppenausstellung zeigen, die sich der jüngeren Geschichte ihres Heimatlandes widmen.
Außerdem führt sie ihre Werkserie „Is it you, Joe?“ fort. Als die Künstlerin in einem Interview gefragt wurde, wer zur Hölle eigentlich „Joe“ sei, antwortete sie: „Gute Frage…Joe ist das Gegenstück in meiner künstlerischen Produktion. Er schließt die Produktionslücken und die Geschwindigkeit der professionellen Anfragen, die ich bekomme…Er ist mehr als mein Freund. Manchmal denke ich: Wie würde Joe diese Fragen beantworten?“ Joe ist also Alter Ego der Künstlerin und gleichzeitig ein fiktiver, geschlechtsloser, autonomer Charakter.
Er ist mehr als mein Freund. Manchmal denke ich: Wie würde Joe diese Fragen beantworten?
Als solcher taucht Joe in Halitis Werk genauso schnell auf, wie er verschwindet, er nimmt verschiedene Formen, Farben und Materialitäten an, ist mal Stahlskulptur, mal ein Schwamm mit Wackelaugen. „Is it you, Joe?“ ist ein andauerndes Fang- oder vielmehr Versteckspiel, das Haliti und Joe mittlerweile seit 2015 führen und in dem die Grenzen zwischen beiden immer wieder verschwimmen. Genauso ungewiss verläuft die Grenzziehung zwischen den einzelnen Elementen, die bei Katja Novitskova in ihren immersiven „environments“ zusammenfinden. Darum geht es aber auch nicht, ganz im Gegenteil.
Metallwürmer schlängeln sich am Boden und Babywippen führen ein Eigenleben
Denn ein installatives Arrangement wie „Invasion Curves“, das sie im letzten Jahr für ihre Soloausstellung in der Londoner Whitechapel entwarf, verschluckt die Besucher regelrecht. Bilder, die das bloße Auge normalerweise nicht erfassen kann, wie etwa Mikroorganismen, bevölkern hier als Skulpturen den Raum oder werden als geisterhafte Schatten an die Wand projiziert. Metallene Würmer schlängeln sich am Boden und digital steuerbare Babywippen scheinen ein unheimliches Eigenleben zu führen.
Visualisierte Algorithmen, Röntgenaufnahmen, Diagramme, Aufnahmen von Nachtsicht- oder Wärmekameras zeigen uns: hier geht es (auch) um Technologien des Sehens und der Sichtbarmachung. Und diese agieren, egal ob im Kontext der Wissenschaft oder Wirtschaft, immer im Zeichen des Wachstums und Fortschritts.
Auch in der im Hamburger Bahnhof ausgestellten Arbeit fragt Novitskova nach der Nutzbarmachung und Verwertbarkeit von menschlichem und nichtmenschlichem Leben in zukünftigen technologischen Entwicklungen. Die diesjährige Ausstellung zum Preis der Nationalgalerie gibt also nicht nur Einblicke in die aktuelle Kunstproduktion von vier internationalen, in Deutschland lebenden Künstlern. Was wir auch erwarten können, sind scharfsinnige Perspektiven auf einige der Ängste, Begehren und Wünsche, die uns umtreiben.