Eine Hand wächst aus einer Muschel und ein Gürteltier in Nahaufnahme. In London sind die surrealistischen Werke der französischen Künstlerin zu sehen. Der perfekte Vorgeschmack auf die „Fantastische Frauen“.
Ab dem 13. Februar 2020 zeigt die Schirn in der großen Überblicksausstellung „Fantastische Frauen“ Werke von 34 internationalen surrealistischen Künstlerinnen. Deren umfassender Beitrag zur Gruppe der Surrealisten um André Breton kommt hier erstmals in seiner künstlerischen Vielfalt zur Geltung und zeigt inwiefern sich ihre Kunst von der ihrer männlichen Kollegen abhebt. Eine dieser Künstlerinnen kann man schon vorab im Detail kennen lernen. Bis zum 15. März 2020 zeigt die Londoner Tate Modern die Werke Dora Maars.
Sie zählen heute zu den Ikonen der surrealistischen Fotografie: das unbetitelte Bild einer Muschel, aus der eine Hand herauswächst; „Portrait d‘Ubu“, das Bildnis eines Gürteltier-Fötus in Nahaufnahme und die Fotomontage „Le Simulateur“, die etwas an die optischen Täuschungen M.C. Eschers erinnert. Dora Maars Bilder, die sie für die Werbung und Modemagazine fotografierte, ihre Street Photography, ihre Fotomontagen und -collagen sind allesamt an Originalität und Witz bis heute kaum zu übertreffen. Trotzdem gilt Dora Maar vielen immer noch einzig und allein als Picassos Muse und Geliebte. Eine geradezu unverzeihliche Anmaßung, die sie leider mit vielen anderen Frauen der Kunstgeschichte teilt. Doch die Zeichen stehen auf Besserung.
Die Maar-Retrospektive ist die erste ihrer Art in Großbritannien
Die Ausstellung in der Tate Modern präsentiert mit über 200 Werken einen ausführlichen Rundgang durch Werk und Leben Dora Maars. Nachdem man die Künstlerin im ersten Ausstellungsraum zunächst anhand von zahlreichen (Selbst)Porträts kennenlernt, wird anschließend chronologisch-thematisch durch ihr Leben und Werk geführt. Anhand ihrer Fotografien natürlich, aber auch ihrer Gemälde.
Die Maar-Retrospektive ist die erste ihrer Art in Großbritannien und die größte seit dem Tod der Künstlerin 1997. Es scheint seither überhaupt nur eine weitere Einzelausstellung gegeben zu haben, 2001/02, die vom Münchener Haus der Kunst über Marseille nach Barcelona tourte. Die aktuelle Schau in der Tate Modern war zuvor am Pariser Centre Pompidou zu sehen und wird anschließend ans J. Paul Getty Museum in Los Angeles weiterziehen.
Sie dokumentierte auch das Leben am unteren Rand der Gesellschaft
Dora Maar wurde 1907 als Henriette Théodora Markovitch geboren, bevorzugte aber schon als Kind den Namen Dora. Sie wuchs zwischen Argentinien und Frankreich auf, besuchte in Paris die progressivsten Kunstschulen für Malerei und angewandte Kunst und entschied sich mit Anfang zwanzig für den Weg der (kommerziellen) Fotografie. 1932 eröffnete sie ihr erstes Fotostudio zusammen mit dem Fotografen und Filmset-Designer Pierre Kéfer und aus Henriette Markovitch, Malerin, wurde Dora Maar, Fotografin. Das gemeinsame Studio am Rande von Paris war ein sofortiger Erfolg, es entstanden Porträts, Akte, Mode- und Werbefotografie. Nach drei Jahren zog Maar ins Zentrum von Paris und eröffnete dort ihr ganz eigenes Fotostudio. Sie dokumentierte aber auch das Leben draußen, insbesondere derjenigen am unteren Rand der Gesellschaft. Es waren die 30er Jahre und die Wirtschaftskrise ist in ihren Bildern deutlich zu sehen, ob in den Straßen von Paris, Barcelona oder London aufgenommen.
Da sind aber auch die Szenen des Alltags, die durch Maars Linse urkomisch werden, Blickwinkel auf Monumente und Statuen, die aus etwas Statischem etwas befremdend Lebendiges machen. Es waren nicht nur dieser ungewöhnliche Blick auf die Welt und ihre Fotocollagen, sondern auch ihre politisch-linken Ansichten, die sie der Surrealistengruppe in Paris näherbrachten. Maar war eine der wenigen Fotografinnen, die an allen großen Ausstellungen der Surrealisten in den 30er Jahren beteiligt war.
Maar hatte engen Kontakt zur Pariser Gruppe der Surrealisten
Dann der „Schicksalswinter“ 1935/36, Maar traf auf Picasso. Die darauffolgende, rund neun Jahre andauernde Beziehung hatte großen Einfluss auf beide Künstler, positiv wie negativ. Denn Maars Schaffen sollte über die Jahre hinter den rund 30 Porträts, die Picasso von ihr als „weinende Frau“ malte, als Muse und Modell verschwinden. Doch zeigt die Ausstellung deutlich, dass ihr Einfluss auf ihn weit darüber hinausging. Und sein Einfluss auf sie? Durch Picasso soll Maar wieder zum Malen gefunden haben, ihre Malerei steht seiner nicht nach, doch sind ihre Porträts kaum bekannt. Picasso war ein Teil von Dora Maars Leben. Ignorieren kann man das nicht und auch in der Ausstellung darf eines seiner Porträts von Maar nicht fehlen. Doch entbehrt es jeglicher Realität, eine sechs Jahrzehnte umspannende, erfolgreiche Karriere auf neun Jahre Muse zu reduzieren.
Maar von diesem Status schlicht freizusprechen, scheint der Kunstkritik auch 2019 noch immer schwer zu fallen. Fast alle Rezensionen, ob anlässlich der Pariser oder Londoner Schau, verweisen in ihren Titeln auf Picasso. Maar ist weiterhin „Picasso‘s Lover“ oder „die Muse Picassos“. Oder aber sie kommt im Titel gar nicht vor: „Painting of Picasso‘s two lovers together on show at Tate Modern“, ein Verweis auf Maars Gemälde „La Conversation“, das sie mit Picassos zweiter Geliebten Marie-Thérèse Walter zeigt. Es ist ein Trauerspiel, bei dem es weniger um Dora Maar und ihre herausragende Kunst geht, als um den Namen, der sich besser verkauft und die Klickzahlen nach oben treibt.
All diejenigen, die sich von der Politik der Vermarktung nicht beirren lassen, erwartet eine Ausstellung, die Maars unverwechselbaren Blick auf die Welt zeigt, der aus dem Alltäglichen und Unspektakulären etwas Übernatürliches machte. In allem, was sie schuf, selbst in den Werbebildern für Shampoos und Gesichtscremes. Hinzu kam ihre lebenslange Freude am Experimentieren, mit der sie insbesondere in ihren Fotocollagen und -montagen absurde Welten schuf und in den 80er Jahren neue Wege mit ihren abstrakten Fotogrammen beschritt. Dora Maar hatte ihre ganz eigene künstlerische, visuelle Sprache, als Fotografin wie als Malerin und die Ausstellung in der Tate Modern zeigt dies sehr deutlich.