Ein grotestker Kinderalbtraum im mittelalterlichen Fort: Die abgründigen Welten von Nathalie Djurberg und Hans Berg auf dem Bergamo Film Meeting.
Groteske Wesen betreten nach und nach ein flauschig eingerichtetes Zimmer: Gemütliche Kissenberge liegen großzügig verteilt auf dem Boden, hie und da stehen große Geschenkverpackungen herum, dezent ausgeleuchtet in stimmungsvollem Licht. Nahezu schüchtern erkunden die absonderlichen Besucher, die ihrem Aussehen nach einem Kinderalbtraum entsprungen sein könnten, die behagliche Umgebung: „Is it allowed to walk on this beautiful carpet?“ fragt vorsichtig einer, „Am I welcome here?“ ein anderer. Oder auch: „Are bad words admitted?“
In Nathalie Djurbergs und Hans Bergs „Am I Allowed To Step On This Nice Carpet” (2018) ist die Wohligkeit, der sich die abscheulichen Kreaturen hingeben, so tiefgreifend, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes in die Knochen fährt – beim physischen wie auch emotionalen Reiben und Laben an der heimeligen Umgebung, an den weichen Kissen, beim ekstatischen Genuss jener bisher unbekannten Möglichkeiten bleiben am Ende nur noch die Skelette der Protagonisten über.
Wir befinden uns in der oberen Etage eines mittelalterlichen Forts
Zoomt man nun gedanklich aus dem flauschigen Zimmer und über die Leinwand hinaus, dann befindet man sich wiederum in einem solchen – eine Art Alpenchalet vielleicht, mit Holz an der Decke und Steinvorsprüngen an der Wand. Tatsächlich ist es hier nicht der klassische White Cube, in dem die grell-finsteren Plastillinwelten von Nathalie Djurberg mit Kompositionen von Hans Berg über die Leinwand ziehen: Wir befinden uns in der oberen Etage eines mittelalterlichen Forts im norditalienischen Bergamo, das einst die Pforte zur Altstadt, der citta altà, gebildet hat. Heute ziehen Motorrad- und Autofahrer auf ihrem Weg von oben nach unten und Retoure durch den Torbogen mit den meterdicken Steinmauern, von denen noch einzelne Elemente in den Ausstellungsraum hineinragen. Italien eben: Man muss sich schon sehr anstrengen, nicht bei jedem Schritt über jahrhundertealte Historie zu stolpern.
Und trotzdem war zumindest diese Ortswahl keine Selbstverständlichkeit, wie Stefan Raimondi erklärt: Er arbeitet als Co-Kurator im Kunstfilmprogramm des Bergamo Film Meeting, das in diesem Jahr zum 37. Mal in der norditalienischen Großstadt abgehalten wird. Neben Retrospektiven wie die über Nouvelle Vague-Schauspiellegende Jean-Pierre Léaud oder Spielfilmen zum diesjährigen Themenschwerpunkt „Europa“ präsentiert das Filmfestival traditionell auch experimentelle Formate – in diesem Jahr sind unter anderem noch Filme des tschechischen Animations-Urgesteins Jan Švankmajer oder des polnischen Animationsfilmers Mariusz Wilczyński zu sehen.
Das ist keiner dieser typischen Orte, an denen sonst Kultur stattfindet.
Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für die Claymation-Arbeiten von Djurberg und Berg, von denen jeweils drei im Ausstellungskontext und drei weitere im Kino präsentiert werden, stieß das Team schließlich auf diesen Raum. Der große Saal im mittelalterlichen Fort, erklärt Raimondi, bleibe einen guten Teil des Jahres ungenutzt. „Das ist keiner dieser typischen Orte, an denen sonst Kultur stattfindet.“ Er selbst schwärmt von dem „leicht gruseligen Charme“ des Bauwerks, das den Besucher verschlingt – über mehrere Treppen geht es in den düsteren Saal, in dem man auf dicken Perserteppichen sitzend oder liegend drei Videos des schwedischen Künstlerduos anschauen kann, neben der oben beschriebenen Arbeit „Dark Side Of The Moon“ und „One Need Not be a House, The Brain Has Corridors“, die beide aktuell auch in der Schirn zu sehen sind.
Hier gibt es Popcorn vor historischer Wandmalerei
Ortswechsel: Cinema San Marco, ein Kilometer Luftlinie weiter unten. In der neuen Altstadt geht es architektonisch eklektischer zu – über den Italien-üblichen Mix aus Marmor und Aluminium hinauf ins Foyer des Lichtspielhauses, wo Popcorn vor historistischer Wandmalerei verkauft wird. Drinnen werden gleich drei weitere Filme, allesamt ausgewählt von Hans Berg, über die Kinoleinwand laufen. Was sich dabei jenseits von Projektionsqualitäten noch verändert: Der Blick des Publikums.
Während die Kinoleinwand einerseits Bildern zu mächtigem Format verhelfen kann und es schon einige Überwindung kostet, den Saal vor Aufführungsende zu verlassen (während in vielen Ausstellungen permanentes Kommen und Gehen das Vorhaben, einen Film komplett anzuschauen, üblicherweise erschwert), scheint der Raum Kino doch gleichzeitig weniger Ehrfurcht auszulösen als der durchschnittliche White Cube.
Darauf lassen zumindest die Rückmeldungen schließen, die Nathalie Djurberg und Hans Berg nach dem Filmprogramm beantworten sollen. Lob gibt es von einem älteren Herren aus dem Publikum: Er schwärmt von einer Arbeit mit Walross und Inuit, die ihm sehr gefallen habe. Auch die hier gezeigten Filme seien beeindruckend, aber: „I hope you will make more beautiful things in the future.“ Nathalie Djurberg muss lachen. „You are my mother!“ Sie würde ja gern, meint die Künstlerin, dem Wunsch des Fragestellers wie auch ihrer Mutter nach schöneren Geschichten und Bildern nachkommen. Aber sie könne eben nichts anderes machen als das, was ihr in den Sinn komme. Woher jene Ideen genau kommen, könne sie allerdings auch nicht beantworten.
I hope you will make more beautiful things in the future.
Diese Ideenwelt, die Djurberg nach eigenen Aussagen obsessiv verfolgt, führt direkt in die dunkle Welt des Verdrängten: die Offenlegung von sexuellen Begierden und verborgenen Sehnsüchten, das Ausleben gesellschaftlich sanktionierter Obsessionen. Das Nachspüren dieser Begehren erinnert an psychoanalytisches Vorgehen, wird das Gezeigte doch, so verstörend es auch sein mag, innerhalb des Werkes nie moralisch gewertet. Keines der Wesen beäugt die jeweils anderen bei ihrem Treiben abfällig, keine Verwunderung oder Wertung schlägt den Kreaturen entgegen (hierfür sorgt dann unweigerlich man selbst als Teil des Publikums). Wann wird eine Handlung ein Tabubruch? Was bei Kindern noch als normal gilt, wird bei Erwachsenen zur Perversion, erklärt Djurberg.
Kann eine Handlung in sich ein Tabu sein, oder wird sie es erst durch denjenigen, der sie vollzieht? Von der Komplexität dieser Fragestellung zeugen unwillkürlich auch die absonderlichen Protagonisten in „Am I Allowed To Step On This Nice Carpet”, können diese es doch gar nicht fassen, dass ihnen erlaubt wird, den titelgebenden schönen Teppich zu betreten und sich auf diesem genüsslich zu verdingen.
Noch eine Frage: Ob die beiden nicht manchmal Lust hätten, sich an ein größeres Publikum zu wenden, so wie hier im Kino? „Nicht so an diese spezifische Kunstwelt?“ Wieder freundlicher, aber bestimmter Einwand von Nathalie Djurberg: „Wenn die Arbeiten das Studio verlassen, kann sie jeder sehen.“ Und, vielleicht noch wichtiger: Ein jeder eigenständig interpretieren – sie als Künstlerin habe keine Deutungshoheit. Und das ist ja so richtig wie banal: Die Ausstellung steht jeder und jedem grundsätzlich genauso offen wie der Kinosaal.